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Loredana – April 1990

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Es war ein herrlicher Frühlingstag und das Wochenende stand bevor. Loredana liebte diese Tage in Madrid, in denen die Straßencafés von Einheimischen und Touristen bevölkert waren. Sie war zum Mittagessen mit ihrer Freundin Marisa im Restaurant Zalacaín verabredet und freute sich darauf. Während sie langsam die Gran Vía in Richtung Plaza España hinaufging, um von dort aus ein Taxi zu nehmen, atmete sie die Frühlingsluft ein und merkte, wie die Anspannung der harten Arbeitswoche von ihr abfiel.

Als sie im Restaurant angekommen war, ließ sie sich von dem Kellner an einen freien Tisch führen, bestellte einen Martini und hing ihren Gedanken nach. Marisa war noch nicht da.

Loredana arbeitete in einer Anwaltskanzlei im Herzen der spanischen Hauptstadt. Sie hatte oft einen zwölfstündigen Arbeitstag und konnte sich nicht so um ihren Sohn Alejandro kümmern, wie sie es gerne gewollt hätte. Das Leben in der Metropole war teuer und ihr Ehemann gab gerne Geld aus. Sie verdiente zwar recht gut, aber immer wenn sie Sergio gegenüber erwähnte, dass sie lieber zu Hause bleiben und sich um ihr Kind kümmern würde, kam von seiner Seite aus nur ein barsches Nein und er erwiderte: »Wir brauchen das Geld.«

Loredana war nicht in der Lage, sich gegen ihren dominanten Mann durchzusetzen und ihre eigenen Interessen zu behaupten. Wie sollte sie auch? Sie war jung, hatte keine eigene Familie in Madrid und fühlte sich in der riesigen Stadt völlig auf sich gestellt. Sich als junge Anwältin in der Kanzlei gegenüber den männlichen Kollegen zu behaupten, war Herausforderung genug, zumal sie als Katalanin in der spanischen Hauptstadt nicht gerade einen leichten Stand hatte.

Der Chef der Kanzlei, Enrique Martín, war ein smarter Madrilene, der schon vom ersten Tag an einen Blick auf die hübsche, blonde Loredana geworfen hatte. Es war anstrengend, ihn in seinen Grenzen zu halten. Wenn seine Mitarbeiter Katalanenwitze erzählten oder frauenfeindliche Kommentare abgaben, wies er sie nicht etwa zurecht, sondern beschränkte sich darauf, Loredana genüsslich und mit süffisantem Lächeln zu betrachten. Sie wusste genau, was er in solchen Momenten dachte. »Wenn du mir gefällig wärst, meine Liebe, dann würde ich dafür sorgen, dass die Kommentare ein Ende haben. So aber musst du dich schon selbst verteidigen.«

Auch Sergio, obgleich Katalane, gab ihr keine wirkliche Unterstützung. Wie auch – er war ja selten genug zu Hause. Er behauptete zwar, sie und Alejandro zu lieben, aber seine Worte standen in krassem Gegensatz zu seinem Handeln. Was sie immer wieder faszinierend und erschreckend zugleich fand, war, wie einfach es für einen Mann zu sein schien, als ›guter Vater‹ betrachtet zu werden, während es für eine Frau ungleich schwieriger war, als ›gute Mutter‹ angesehen zu werden.

Wenn die Nachbarn Sergio am Sonntag mit Alejandro im Park spazieren gehen und die Enten füttern sahen, bogen sie sich schon vor Begeisterung, wenn sie allerdings Loredana einmal mit etwas lauterer Stimme mit Alejandro reden oder ihn zurechtweisen hörten, tuschelten sie bereits. Dabei ließen sie völlig außer Acht, dass die gesamte Erziehungsverantwortung bei ihr lag.

Sie hatte den Kindergarten für Alejandro ausgesucht, sie hatte das Au-pair-Mädchen organisiert, das sich den ganzen Tag um Alejandro kümmerte, sie bezahlte die Rechnungen für beides, sie kaufte seine Kleidung, sie ging mit ihm zum Arzt, wenn er krank war, sie wurde auf der Arbeit angerufen, wenn im Kindergarten etwas vorgefallen war. Aber das war alles selbstverständlich und nebenbei sollte sie auch noch ihre Kompetenz in der Kanzlei Enrique Martín unter Beweis stellen und das Vorurteil widerlegen, dass blonde, hübsche Frauen nun mal dumm seien.

Manchmal kam sie abends total erschöpft nach Hause. Kaum hatte sie die Türe aufgeschlossen, sprang ihr Alejandro entgegen, der sich riesig freute, dass seine Mutter endlich wieder zu Hause war. Er wollte mit ihr spielen, aber Loredana war oft einfach zu müde dazu. Sie dachte dann nur daran, ihr elegantes, aber unbequemes Kostüm auszuziehen, ein heißes Bad zu nehmen und in einen Hausanzug zu schlüpfen. Allerdings musste in ein bis zwei Stunden das Abendessen auf dem Tisch stehen und keiner wusste genau, ob und wann Sergio nach Hause kommen würde. Sie schwankte dann zwischen der Wut auf ihren Mann, Erschöpfung und Schuldgefühlen Alejandro gegenüber, weil sie ihm nicht so gerecht werden konnte, wie sie es gerne wollte. Oft spielte sie trotzdem mit ihm und nach einer Weile fühlte sie sich besser.

An guten Tagen trudelte Sergio irgendwann am frühen Abend zu Hause mit einem niedrigen Alkoholpegel ein und an ganz guten Tagen war es dann sogar noch früh genug, um einkaufen zu gehen. Wenn er dazu in der Stimmung war, nahm er Alejandro mit, was für Loredana bedeutete, dass sie sich eine Weile ausruhen konnte. An schlechten Tagen kam Sergio gar nicht und Loredana wurde immer ungeduldiger, da sie nicht wusste, ob sie mit dem Essen warten sollte oder nicht. Irgendwann kochte sie dann, sie aßen mit dem Au-pair-Mädchen zu Abend und Alejandro versuchte, durch sein liebenswertes Geplapper die angespannte Stimmung zu überdecken.

Manchmal weinte sie an solchen Abenden. Wenn ihr Sohn sie fragte, warum sie weine, versuchte sie Ausflüchte zu finden. Eines Abends, als er sie wieder fragte, wollte sie ihn nicht länger belügen und sagte: »Ich weine, weil ich traurig bin, dass Papa wieder nicht bei uns ist.« Alejandro schaute sie mit seinen treuen, großen Augen an und sagte nichts. Danach fühlte sich Loredana wieder schuldig. War es richtig gewesen, ihrem Sohn den Grund ihrer Trauer mitzuteilen? Hätte sie es besser verschwiegen? Wie sie es auch drehte, es schien immer falsch zu sein, was sie tat.

Die Ankunft ihrer Freundin riss sie aus ihren Gedanken. Sie umarmten sich herzlich. Als sie sich gegenübersaßen, fragte Marisa: »Was ist denn mit dir los, meine Liebe? Du wirkst ja ganz in Gedanken versunken? Draußen ist so ein schöner Tag! Der Frühling beginnt.«

Loredana seufzte tief. Dann antwortete sie: »Ja, es ist total schön draußen. Aber ich fühl mich nicht so gut. Gestern ist es wieder mal zwischen Sergio und mir eskaliert.«

Marisa fragte erschrocken: »Was ist passiert?«

»Er kam gestern wieder spät und alkoholisiert nach Hause. Er war bester Stimmung – sofern man bei seinem Alkoholpegel davon sprechen konnte.« Sie nahm einen Schluck Wasser und fuhr fort: »Auf meine kühle Begrüßung reagierte er mit einem saloppen ›Ach komm, Süße, hab dich doch nicht so, no pasa nada‹.«

Das war sein Standardspruch in diesen Jahren: ›No pasa nada – alles halb so schlimm.‹ Er benutzte ihn bei jeder Gelegenheit und wie eine Beschwörung.

Sie fuhr fort: »Ich weiß nicht genau, was er eigentlich damit sagen will, aber ich kann es nicht mehr hören. Es kommt mir vor wie eine Beruhigungspille, die ich nicht mehr schlucken will. Gestern habe ich ihn zur Rede gestellt und ihm gesagt, dass ich dieses Leben nicht mehr lange mitmachen würde. Ich habe gedroht, ihn mit Alejandro zu verlassen. Er wurde wütend und kam mit funkelnden Augen auf mich zu. Ich konnte seine Alkoholfahne riechen und habe mich vor ihm geekelt.«

Loredana strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und atmete schwer. »Daraufhin erwiderte er: ›Du wirst Alejandro nie mitnehmen. Er gehört mir.‹ Ich war empört und entgegnete ihm: ›Er gehört dir nicht. Ein Kind gehört niemandem. Und außerdem solltest du ein zuverlässiger Vater und Ehemann sein. Und du bist nichts von alledem. Im Gegenteil, du bist unberechenbar und kannst nicht für ein Kind sorgen.‹«

Marisa schaute sie betroffen an und nahm ihre Hand. »Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist. Wie lange willst du das noch mitmachen?«

»Als ich ihm sagte, dass er nicht für ein Kind sorgen könne, trat er auf mich zu und packte meinen Arm. Er funkelte mich an und presste zwischen den Zähnen hervor: ›Ich brech dir den Arm.‹ Ich erschauerte, denn so hasserfüllt habe ich ihn noch nie gesehen, und ich hatte große Angst. Dann riss ich mich los und rannte weg. Der einzige Raum in der Wohnung, den man von innen abschließen kann, ist Alejandros Zimmer.«

Sie schluckte, als würde sie nun vollends von der schrecklichen Erinnerung überwältigt. »Ich öffnete die Tür, ging in das Zimmer und schloss die Tür hinter mir ab. Dann brach ich in Tränen aus. Alejandro lag im Bett und schlief. Ich hörte seine gleichmäßigen Atemzüge, während ich weinte, und wusste, dass ich von diesem Mann wegmusste.

In dem Moment sah ich eine Vision von mir selbst in zehn Jahren, wenn ich mit Sergio zusammenbleiben würde. Ich sah mich krank und verbittert und nahm mir vor, dafür zu sorgen, dass das nicht geschehen würde. Ich spürte, dass ich bereit war, alles zu tun, um mir und meinem Sohn dieses Schicksal zu ersparen.«

Marisa nickte und erwiderte mit leiser Stimme: »Ja, das verstehe ich voll und ganz.«

»Ich setzte mich auf Alejandros Bettrand. Dann legte ich mich neben ihn, um zu schlafen. Ich versuchte, leise zu sein, aber das Bett war schmal und er wachte auf. Er sagte: ›Mama, was ist los? Warum weinst du?‹ Ich schluchzte erneut. ›Ich habe Angst vor Papa. Er hat mir wehgetan.‹ Schon als ich mich selbst reden hörte, fühlte ich mich schlecht und schuldbewusst.

Ich fragte mich, ob es richtig war, meinem schlaftrunkenen Sohn das zu sagen. Aber sollte ich ihn etwa belügen? Das fühlte sich noch schlechter an. Wenigstens die Wahrheit wollte ich ihm sagen, auch wenn sie bitter und schwer war. Aber Lügen, das wusste ich ganz genau, würden das Kind nur verwirren.«

»Und dann?«, fragte Marisa gespannt.

»Du wirst es nicht glauben. Mein kleiner Sohn wandte sich mir zu und strich mir über den Arm, so als wäre er der Erwachsene und ich das Kind. ›Schlaf jetzt, Mama, es wird alles gut.‹ Daraufhin fing ich wieder an zu schluchzen. In dem Moment wusste ich, dass ich diesen Zustand nicht länger will.«

Sie atmete tief. »Alejandro soll als Kind aufwachsen dürfen und nicht als Puffer zwischen zwei Elternteilen, die sich bereits so weit voneinander entfernt hatten, dass es keinen Weg zurück mehr gibt.«

In dem Moment kam der Kellner und nahm die Bestellung auf.

Karmische Rose

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