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Sarah – Juli 1972

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Sie stand am Fuß der Treppe ihres Elternhauses. Es war ein Sonntag. Ihre Adoptivmutter hatte an dem Tag viel getrunken und diverse Tabletten geschluckt. Sie war im Ausnahmezustand. Sarah wusste, dass es besser war, ihr in diesem Zustand so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Ihr Adoptivvater war zu Hause. Er lief hilflos treppauf, treppab und frönte seinem Zwang, Flusen vom Teppich aufzulesen und diese in den Mülleimer zu werfen. Wenn er alle Teppiche ›entflust‹ hatte, fing er wieder von vorne an. So konnte er Stunden zubringen. Die kleine Sarah hatte das schon oft gesehen, ohne wirklich zu verstehen, was in ihrem Vater vorging.

Er murmelte ab und zu etwas wie: »Was soll ich nur mit der Liselotte machen? Warum regt sie sich immer so auf?« Sarah versuchte, sich möglichst still und unauffällig zu verhalten, denn wenn sie ihm im Weg war, konnte er durchaus einmal ausrasten und die wohl latent in ihm vorhandene Wut entlud sich auf ihr. Das war nicht spaßig. Er schlug sie zwar nicht, aber er schrie sie dermaßen aggressiv an, dass sich seine Worte wie Schläge anfühlten.

In solchen Situationen versuchte sie stets, sich ganz klein zu machen. Sie bewegte sich dann möglichst lautlos und wünschte sich die ganze Zeit über inständig, bloß nicht von ihnen gesehen zu werden. Gesehen zu werden konnte in diesen Momenten äußerst unangenehme Folgen haben wobei das Angeschrienwerden noch zu den geringsten zählte.

Voller Angst ging sie in ihr Zimmer. Am liebsten hätte sie ihre Ohren verschlossen, denn sie konnte das Weinen und Schreien ihrer Adoptivmutter nicht mehr ertragen und auch nicht mehr das hilflose Treppauf-Treppab ihres Vaters. Sie versuchte sich abzulenken, indem sie mit ihren Puppen spielte, aber es gelang ihr nicht. Dann hörte sie den Schrei ihrer Mutter: »Heiner, bring das Kind um oder ich bringe mich um!« Sie erstarrte.

Sie nahm wahr, wie Heiner auf Liselotte einredete: »So beruhige dich doch, das Kind hört doch alles mit.« Dies war ihrer Mutter egal. Wenn sie sich im Ausnahmezustand befand, gab es kein ›Kind‹ mehr für sie. Dann war sie ganz in ihrer eigenen, verrückten Welt.

Im nächsten Moment hörte sie, wie ihre Mutter ihren Vater erneut anbrüllte: »Du bist an allem schuld! Würdest du mehr Geld verdienen, dann hätten wir ein besseres Leben und ich müsste nicht dauernd sparen und mich vor den Nachbarn schämen!«

Sarah hörte, wie ihr Vater nun schneller treppauf und treppab lief und die Flusen immer hektischer aufhob – ein Zeichen dafür, dass sich seine Aufregung und seine Hilflosigkeit steigerten. Dann betrat er vorsichtig ihr Zimmer. Er scharrte mit den Füßen, um den Teppich gerade zu legen und begann dann langsam, Fluse für Fluse aufzulesen. Sie fühlte in solchen Momenten eine Mischung aus Mitleid, Scham und Ärger. Und an diesem Tag kam noch die Angst hinzu. Ihr Bauch krampfte. Er sagte leise zu ihr: »Sarah, kannst du bitte etwas tun, um die Mama wieder zu beruhigen?«

Sie sah die Hilflosigkeit in seinen Augen und in dem Moment riss sie sich zusammen und merkte, wie etwas mit ihr passierte. Ihr Vater sah so bemitleidenswert aus, dass sie sich bemühte, erwachsen zu sein, während er immer mehr in sich zusammenfiel. Es war so, als wäre er plötzlich das Kind und sie die Mutter. Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm, denn eigentlich hatte sie sehr große Angst, aber irgendwie schaffte sie es, diese Angst tief in ihrem Bauch einzuschließen. Sie straffte sich und ging langsam aus dem Zimmer.

Als sie die Treppe herunterkam, sah sie ihre Mutter mit rotem, verweintem Gesicht und einer Packung Tabletten in der Hand. Als sie Sarah erblickte, schrie sie: »Die nehme ich jetzt alle. Ich will nicht mehr leben und ich will euch nicht mehr sehen. Ich hasse euch!« Sarah begann zu zittern, aber sie bemühte sich dennoch, stark zu bleiben. Hinter sich hörte sie ihren Vater. Er sagte leise: »Tu was, Sarah, damit sich deine Mutter nicht umbringt. Bettele sie an, dass sie es nicht tut.«

Sie war verwirrt. Jedes falsche Wort konnte die Katastrophe auslösen. Schließlich sagte sie: »Mama, bitte tu es nicht«, woraufhin Liselotte laut aufschluchzte. Sie schaute Sarah an und schrie: »Wenn dein Vater mehr Geld verdienen würde, hätten wir diese Probleme nicht. Er ist an allem schuld!« Sie hatte einen irren Blick in jenem Moment und Sarah erschauerte. Dann sagte sie, immer noch mit demselben Blick in den Augen: »Ich nehme jetzt die Tabletten. Mir reicht es. Ich will euch nicht mehr.«

Sarah spürte einen leichten Schmerz in der Herzgegend und hörte ihren Vater sagen: »Sarah, knie nieder vor deiner Mutter, sonst nimmt sie die Tabletten.« Wie ferngesteuert und ohne es wirklich zu wollen, ging Sarah auf die Knie. Sie sagte: »Mama, bitte tu es nicht, wir brauchen dich doch.« Daraufhin schluchzte Liselotte nochmals laut auf. Dann ging sie in die Küche und schlug die Tür hinter sich zu. Die Tablettenschachtel hatte sie achtlos auf den Boden geworfen.

Heiner begann erneut damit, Flusen aufzusammeln. Sarah war wie erstarrt. Es war so demütigend. Sie erhob sich mechanisch und ging langsam mit staksenden Schritten die Treppe hinauf und in ihr Zimmer. Dort ließ sie sich auf ihr Bett sinken und nahm ihre Lieblingspuppe in den Arm. Sie sagte zu ihr: »Dora, hier ist es schrecklich. Sobald ich groß bin, will ich hier weg. Es ist nicht zum Aushalten.« Sie klammerte sich an die Puppe und lag so eine geraume Weile, bis die Starre, die sich über sie gelegt hatte, ganz langsam abflaute.

Draußen war es jetzt still. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Es war gespenstisch und sie fragte sich, was besser sei, das Geschrei ihrer Mutter oder diese bedrohliche Stille. Zwischen diesen beiden Extremen bewegte sich normalerweise die Geräuschkulisse im Hause Mager. Sarah hatte Hunger, aber sie wagte es nicht, ihr Zimmer zu verlassen. Zu groß war die Angst, dass sie dadurch einen erneuten Anfall ihrer Mutter auslösen könne.

Schließlich hielt sie es jedoch nicht mehr aus. Sie musste etwas essen, auch wenn es nur ein Stück trockenes Brot war. Sie ging möglichst leise die Treppe hinunter. Als sie unten angekommen war, bemerkte sie, dass aus dem Keller Licht und Musik nach oben drangen. Ihre Adoptivmutter war anscheinend im Keller, wo sie trank und Musik hörte. Sie ging vorsichtig in die Küche. Ihr Vater saß am Küchentisch und las Zeitung. Als er Sarah erblickte, sah er sie kurz an und lächelte. »Mein Schatz, du schaffst das schon«, sagte er.

Wie oft schon hatte Sarah diesen Satz von ihrem Vater gehört und nie hatte sie genau verstanden, was er damit eigentlich sagen wollte. Dass sie ihn nicht behelligen solle? Dass er ihr nicht helfen könne? Dass sie alles alleine schaffen müsse? Dass er hilflos war und als Vater völlig ungeeignet? Sie wusste es nicht genau.

Er las einfach weiter Zeitung. Sie schaute in den Obstkorb hinein und sah, dass zwei Bananen darin lagen. Sie nahm die beiden Bananen heraus und ging wieder in ihr Zimmer. Dort aß sie sie langsam auf.

Karmische Rose

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