Читать книгу Floria Tochter der Diva - Ursula Tintelnot - Страница 13
Susan
ОглавлениеFloria stieg die Treppe nach oben, ließ sich auf ihr Bett sinken und starrte an die Decke. Ihr Handy lag nutzlos und leer auf dem Tisch, auf dem sie es vor Wochen abgelegt hatte. Die Stimmen von Emma und Tim klangen zu ihr hinauf. Katjas Lachen und Ramses verhaltenes Bellen.
Würde sie je wieder singen? Im Moment würden sie keine zehn Pferde auf eine Bühne bringen. Sie zitterte, wenn sie nur daran dachte, wieder auftreten zu müssen. »Sie müssen ihre Trauer zulassen, Ihr Problem ist nicht so sehr ein physisches als vielmehr ein psychisches.« Ihr Arzt in New York war sehr deutlich geworden. »Solange Sie nicht auf Ihre Seele hören, werden Sie nicht auftreten können.«
Floria schlief ein und erwachte Stunden später. Aber ihr Schlaf war kein erholsamer. Sie wachte, wie immer in den letzten Wochen, verspannt und verschwitzt auf.
»Floria?« Sie schlug die Augen auf.
»Susan!« Floria streckte die Arme nach der Freundin aus. »Du bist da. Ich dachte, ich hätte dich verloren.«
»Du siehst furchtbar aus.« Susan nahm sie in die Arme. Sie hatte eine sehr direkte Art, die Dinge auszusprechen. »Warum kann man dich nicht erreichen? Ich habe geschrieben, du weißt, dass ich in China war. Ein furchtbares Volk, aber wahnsinnig interessiert an westlicher Musik. Sie haben dort so viele unglaublich begabte junge Leute. Das kannst du dir nicht vorstellen. Ich konnte deiner Mutter nur eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, aber die Frau ruft ja nicht zurück.«
Susan holte Luft, was Floria in die Lage versetzte zu antworten.
»Susan bitte …«
»Ich weiß, ich rede zu viel.« Sie lachte.
»Steh auf! Ich seh mal nach Emma. Ich glaube, sie kocht. Außerdem brauche ich einen von ihren grässlichen Kräuterschnäpsen.« Im Vorbeigehen schnappte sie sich Florias Handy, sah kurz auf das dunkle Display und meinte: »Das solltest du vielleicht mal aufladen.«
Susan, dachte Floria, glich einem freundlichen Sturmwind, der allen Kummer wie Herbstblätter hochwirbelte und vor sich her trieb.
Kaum war ihre Freundin aus dem Zimmer, überfiel sie der Wunsch, in ihrem Bett zu bleiben.
Steh auf, sagte sie sich, lass dich nicht hängen, reiß dich zusammen.
Floria schloss ihr Handy an und lief die Treppe hinunter, in eine warme gemütliche Küche. Susan saß, die Füße hochgezogen, in einer Ecke des Sofas. Sie hielt ein Glas mit einer grünlich schimmernden Flüssigkeit in der Hand.
Emma stand am Herd und rüttelte an einer Pfanne.
»Es gibt Apfelpfannkuchen mit Zimt und Zucker.« Emma brachte eine große Platte, beladen mit einem Turm von duftenden Pfannkuchen, an den Tisch.
Susan unterhielt sie mit Tratsch aus der Theaterszene. Florias Probleme wurden nicht angesprochen. Als Emma sich erhob, um abzuräumen, schickte Susan sie ins Bett.
»Geh schlafen, Emma, Floria und ich erledigen den Abwasch.«
»Deine Großmutter gefällt mir nicht. Sie wirkt müde.«
Floria nickte bedrückt. »Sie hat abgebaut, ich weiß. Emma wird neunzig.«
»Du solltest ihr ein wenig helfen, solange du da bist.« Susan stellte das Geschirr in die Maschine und dachte, ich sollte lieber sagen: Solange sie da ist.
Erst auf der Treppe spürte Emma, wie erschöpft sie wirklich war.
Du bist eine alte Frau, musst dich also nicht wundern, sagte sie sich.
Sie freute sich über Susans Besuch. Vielleicht konnte sie Floria etwas aufheitern, ihr selbst war es bisher nicht gelungen. Ganz im Gegenteil. Ihre Enkelin hatte ganz offenbar den Artikel über Christof Cormans Trauerfeier gefunden.
Die Zeitschrift hatte Emma kurz vor Susans Eintreffen aufgeschlagen auf dem Tisch entdeckt. Thomas hatte sie bei einem seiner häufigen Hausbesuche mitgebracht.
Im Bett griff sie nach dem Telefon.
»Alex, mein Lieber, ich will dir nur eine gute Nacht wünschen.«
»Gibt es etwas Besonderes, Emma?«
»Heute ist Susan gekommen. Du kennst Florias Freundin. Ich erwarte mir viel von ihrem Besuch.«
»Ja, das ist sicher gut. Ich werde gleich Thomas Schachmatt sagen.«
Emma hörte Thomas schnauben und sein: »Wenn er sich da mal nicht täuscht.«
»Gute Nacht, Alex.«
»Schlaf gut, Emma.«
Du hast mich glücklich gemacht, Alex Mendel, dachte Emma, bevor sie einschlief.
Susan hatte die Nacht in Florias breitem altmodischem Eisenbett verbracht. Sie hatten sich zu viel zu erzählen, als dass sie sich hätten trennen können. Es stellte sich heraus, dass Diane Floria die Post nicht nachgeschickt hatte.
»Ich habe die Post aus deiner Wohnung in NY geholt und ihr geschickt. Ich habe versucht sie zu erreichen und Nachrichten hinterlassen.«
»Ich habe keine Ahnung, wo sie ist.« Floria wunderte sich.
»Sie hat nicht davon gesprochen, verreisen zu wollen, als ich bei ihr in Rom war.«
Floria nahm ihr Handy vom Nachttisch und traute ihren Augen nicht. Der Speicher war voll. Unter anderem mit Susans SMS-Mitteilungen.
»Vielleicht hat sie mit Emma gesprochen?«
»Sei nicht albern, deine Großmutter hätte es dir doch gesagt.«
»Ich werde Diane nachher anrufen.« Floria ließ sich zurück in die Kissen fallen.
»Nein, nein, meine Liebe, kein Chance. Wir stehen jetzt auf, trinken einen Kaffee und dann rufst du an.«
Susan sprang aus dem Bett und riss die Vorhänge auf. Schnee, der Hof war weiß.
»Flo, steh auf, es hat geschneit.«
Floria grummelte und wühlte sich tiefer in ihr Kopfkissen.
»Bitte nicht.«
»Jetzt!«
Mit einem Ruck wurde ihr die Bettdecke weggerissen.
»Lass mich. Noch eine Minute.«
»Oh, nein. Du stehst sofort auf.«
Susan stand über ihr, ein Rachengel mit der Decke vor der Brust.
»Emma hat sicher nichts dagegen, dass wir im Schlafanzug frühstücken.«
Floria musste lachen. Susan war einfach nicht kleinzukriegen. Sie packte Florias Hand und zog sie vom Bett hoch.
»Komm, heute machen wir einen Spaziergang. Ich möchte den Kanal wiedersehen und die Felder. Ich war so lange nicht mehr hier.«
»Ah, da seid ihr ja.« Emma saß, eingehüllt in ihren Lieblingsschal, auf dem Sofa.
Im Herd brannte ein Höllenfeuer. Der Frühstückstisch war gedeckt.
»Es hat wirklich geschneit. Wie gut, dass Tim die dringendsten Arbeiten noch geschafft hat.«
»Guten morgen, Emma.«
»Habt ihr gut geschlafen? Ich meine, ich hätte euch noch lange gehört.«
»Haben wir dich gestört?« Susan schenkte sich Kaffee ein und setzte sich zu ihr auf die Couch.
»Aber nein, ihr hattet sicher noch viel zu reden.«
»Emma«, fragte Floria, »hast du etwas von Diane gehört?«
»Nein.« Emma sagte nicht, dass sie so gut wie nie von Diane hörte. Ihre Tochter rief sie ein bis zwei Mal im Jahr an. Das war bedauerlich, aber nicht zu ändern. Diane hatte sich nicht mit Alex anfreunden können. In ihren Augen betrog ihre Mutter ihren Vater. Auch wenn der Bürgermeister nicht mehr lebte, verzieh sie Emma diesen sogenannten Treuebruch nicht. Was sie allerdings nicht davon abhielt, ihrer Mutter knapp dreißig Jahre später ihr Baby zu schicken.
Und Emma war ihr zutiefst dankbar dafür. Floria war das schönste Geschenk ihres Lebens. An ihr hoffte sie, wieder gut machen zu können, was sie vielleicht mit ihrer Tochter falsch gemacht hatte.
Floria liebte Alex vom ersten Moment an. Und wenn sie ihn mit großen Augen ansah, schmolz sein Herz.
»Emma! Emma!« Susan musste sie zwei Mal ansprechen, bevor sie reagierte.
»Ja, Susan?«
»Wir wollen raus, Emma.«
»Hmpf« Floria verschluckte sich beinahe. »Susan will raus, ich nicht. Es schneit.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass du früher so verpimpelt gewesen wärest.«
Emma kicherte. Kaum war Susan da, ging es Floria besser. Sie aß mit offensichtlichem Appetit, ein dick mit Butter und Honig beschmiertes Brötchen.
»Ihr solltet nicht zu lange draußen bleiben.«
»Sollen wir einkaufen?«
»Nein, meine Liebe. Ich habe meinen Nachbarn gebeten, mir ein paar Sachen mitzubringen.«
»Julian?«, hakte Floria nach.
»Ja, er wohnt nur ein paar Häuser weiter. Wenn er in die Stadt geht, fragt er immer nach, ob ich etwas brauche.«
Susan erhob sich. »Netter Nachbar.«
»Sehr nett. Mit einer reizenden kleinen Tochter. Nicht wahr, Flo?«
»Geht so.« Floria sah nicht begeistert aus.
»Du hast ihn nur zweimal gesehen, Flo. Und beide Begegnungen …«
»Emma! Es genügt, wenn du ihn magst. Und wenn er hilfsbereit ist, soll es mir recht sein.«
Susan sah ihre Freundin erstaunt an. Sie wirkte ungeduldig und genervt.
»Und Katja ist eine kleine altkluge Nervensäge.«
So wirklich auf dem Damm bist du noch nicht.
Susan hörte verblüfft zu und sah, dass auch Emma ihre Enkelin mit hochgezogenen Augenbrauen musterte.
»Komm, Susan. Wenn es sein muss, sollten wir uns gleich aufmachen. Es wird früh dunkel.«
Floria ließ ihr Geschirr stehen und verließ die Küche.
Emma sah seufzend hinter ihr her.
»Ich erkenne sie kaum wieder, Susan.«
»Lass ihr ein bisschen Zeit, Emma. Sie hat Schweres erlebt.«
»Ich weiß.« Emma zog ihren Schal fester um die Schultern.
Susan begann den Tisch abzudecken.
»Lass nur Kind, das kann ich doch machen.«
»Nein, Emma, solange ich hier bin, wirst du dich mal bedienen lassen.«
Sie gab der alten Frau einen Kuss.
»Ich werde mich jetzt um deine ungezogene Enkelin kümmern. Flo muss an die Luft, vielleicht bringt sie das wieder zu sich.« Sie grinste wie ein Lausbub. Das dunkle kurze Haar ließ sie tatsächlich wie einen hübschen Jungen aussehen.
»Bis nachher.«
Floria kann sich glücklich schätzen, eine solche Freundin zu haben, dachte Emma.
Susan war eine gefragte Mezzosopranistin. Ihr fehlte der Ehrgeiz, der Floria antrieb, aber sicher auch erschöpfte. Floria war stark und begabt mit einer wunderbaren Stimme. Aber aus dem Schatten einer Diva, wie ihrer glamourösen Mutter, herauszutreten war eine besondere Herausforderung.
Sie selbst war so unmusikalisch wie eine Nacktschnecke. Ihre Lippen verzogen sich zu einem wehmütigen Lächeln. Plötzlich fühlte sie sich von denen, die sie einst geliebt hatte, umgeben.
Damien, du hattest Musik im Blut. Sie sah ihren dunklen Franzosen auf der Tischkante hocken, mit der Gitarre vor dem Bauch. Sie hörte noch seinen schönen hellen Tenor. Er hätte es verdient, länger zu leben. Nur jeweils ein Schuss hatte genügt, um sein Leben und das ihres Bruders auszulöschen.
Nein, sie war nicht musisch begabt. Sie konnte keine Musik machen, wie Damien, nicht malen, wie ihr Bruder Theo.
Sie wurde zeitlebens von ihrem geliebten Garten herausgefordert. Sie kämpfte gegen Schnecken und verfluchte Wühlmäuse und Maulwürfe. Emma zog den Stapel mit den Gartenzeitschriften zu sich heran. Ihr Leben drehte sich um Pflanzen und Ernten. Was sie der Erde gab, bekam sie zurück. Jahr um Jahr. Eine andere Form der Kreativität. Und eine sehr befriedigende, dachte sie.