Читать книгу Floria Tochter der Diva - Ursula Tintelnot - Страница 9
Thomas
ОглавлениеAm nächsten Morgen wachte Floria verschwitzt und zerschlagen auf. Immer wieder träumte sie diesen Traum: Sie stand auf der Bühne und starrte in einen dunklen Zuschauerraum. Sie musste singen, aber kein Ton kam aus ihrer Kehle.
Floria setzte sich auf. Ihr war schwindelig, sie hatte Kopf und Halsschmerzen.
Das kann ja heiter werden, dachte sie unglücklich.
Sie hatte jahrelang an nichts anderes als an ihre Stimme gedacht. Sie mied klimatisierte Räume, ging nur gelegentlich in Restaurants und umarmte selten jemanden. Erkältungen konnte sie sich nicht leisten. Sie versuchte sich so gut wie möglich vor Ansteckungen zu schützen.
In ihrer Tasche wühlte sie nach Medikamenten.
Leises Klopfen ließ sie hochblicken.
»Ja?«
Emma öffnete die Tür und blieb erschrocken stehen. Die Hand, die einen Becher hielt, zitterte ganz leicht.
»Flo, wie siehst du denn aus?«
Sie kam herein, stellte den Becher ab und meinte resolut: »Du legst dich sofort wieder hin. Ich lasse den Doktor kommen.«
Floria wurde wieder zum Kind. Sie ließ sich ohne Widerstand in die Kissen drücken, hob brav den Kopf und trank ein paar Tropfen Tee, die Emma ihr einflößte.
Floria spürte die Hand ihrer Großmutter auf der Stirn und dämmerte wieder weg. Ein Gefühl, als ob sie flöge. Sie ließ sich treiben, hörte nicht mehr, dass Emma das Zimmer verließ, nicht das Knarren der drittletzten Stufe und auch nicht Emmas Stimme, die ins Telefon brüllte.
Sie könne ihre Gesprächspartner auch ohne Telefon erreichen, behauptete Alex Mendel immer. Aber Emma lachte nur und meinte ungerührt: »Sicher ist sicher.«
Während sie Ingwer raspelte, dachte Emma über ihre Enkelin nach. Ihr eigenes Leben ging zu Ende, Florias begann erst. Flo sah so entsetzlich traurig aus, blass und ohne ihren sprühenden Witz war sie kaum wiederzuerkennen. Floria hatte sich verändert. In ihren dunklen Augen sah Emma den Schmerz und sie fragte sich besorgt, was sie tun könnte, um ihre einzige Enkelin aufzuheitern. Ihr einen Weg zu zeigen, auch ohne Gesang, wenn das sein müsste, glücklich zu werden. Ihre Ehe war gescheitert, sie hatte ihre große Liebe verloren, ihre Stimme …
Mein armes Mädchen, dachte sie.
Floria hatte den tödlichen Unfall des jungen Komponisten, seit sie zurück war, mit keinem Wort erwähnt. Sie hatte nicht über ihren Kummer gesprochen. Aber Emma las Zeitung. Sie las alles, was über Floria Mura geschrieben wurde. Und ihre Enkelin war für sie ein offenes Buch.
Ich muss dich zum Reden bringen, meine Kleine. Wenn du nicht über deine Gefühle sprichst, kannst du nicht gesund werden.
Ohne es zu ahnen, kam Emma zu dem gleichen Schluss wie Florias Spezialist in New York.
Als das Wasser kochte, gab sie den geraspelten Ingwer mit einem Löffel Honig zusammen in den Topf und ließ alles gut zwanzig Minuten köcheln.
Emma schloss ihre Türen am Tage nie ab. Alle, die zu ihr kamen, standen unvermittelt in ihrer Küche oder gingen in den Garten hinter dem Haus. Sie hatte einen guten Ruf als Kräuterhexe, wie die Leute sagten, wenn sie nicht in der Nähe war. Heilerin war der Begriff, den sie selbst verwandte.
Was heilte, konnte auch töten, dachte sie, als sie den Topf mit dem Ingwersud vom Herd zog.
»Das duftet sehr gesund. Guten Morgen, Emma.« Doktor Thomas Müller umarmte die alte Frau vorsichtig. »Ich sehe, du brauchst mich gar nicht.« Er betrachtete die Kräuter. Lindenblüten, Salbei und Thymian lagen auf dem Tisch. Er hob den Deckel von ihrem Kochtopf.
»Setz dich, Thomas, und nimm die Finger von meinem Topf. Kaffee?«
»Gerne.« Er stellte seine Arzttasche neben einen Stuhl. Emma war noch sehr beweglich. Aber er musste aufpassen, dass sie sich nicht übernahm. Sie war nicht unsterblich, wie er mit Bedauern feststellte. Er mochte diese kluge Frau, wie alle in der kleinen Stadt. Sie gehörte einfach dazu und würde eine schmerzhafte Lücke hinterlassen, wenn sie einmal nicht mehr war.
Genau wie der alte Gauner, sein Vorgänger, Doktor Alex Mendel. Thomas spielte am Abend gerne mit ihm Schach. Er trank seinen ausgezeichneten Brandy und hörte die Geschichten an, die Mendel erzählte.
Das dröhnende Gelächter der beiden hörte man oft nach Praxisende aus den geöffneten Fenstern bis auf die Straße. Der Doktor und sein Nachfolger, Mendel und Müller, sagten die Leute und blieben einen Moment stehen. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters hatte sich Emma etwas Mädchenhaftes bewahrt. In ihrer Jugend musste sie eine sehr anziehende Frau gewesen sein. Diese Anziehungskraft hatte sie nicht verloren. Er konnte Mendel gut verstehen. Der Alte war immer noch in sie verknallt.
»Was ist?«
»Ich soll dich von Alex grüßen. Er kommt heute noch vorbei.«
»Und, ist das ein Grund frech zu grinsen?«
»Ich hab mich nur über eure junge Liebe gefreut.« Bevor sie ihm das Handtuch an den Kopf werfen konnte, schnappte Thomas sich seine Tasche und verschwand nach oben.
»Ich seh mal nach der Patientin.«
»Mach das.« Emma sah ihm nach. Junge Liebe? Ja, sie liebte Alex Mendel. Wenn er nicht gewesen wäre … Ihr Leben hätte eine andere Wendung genommen, nach dem Tod des Bürgermeisters, vor fast sechzig Jahren. Damals hatte Alex gerade in der Praxis eines älteren Kollegen angefangen, der einen Nachfolger suchte. Alex hatte den Totenschein für den Bürgermeister ausgestellt. Tod durch Herzversagen.
Dein Herz hat versagt, dachte sie, in jeder Beziehung. Falls du überhaupt eines hattest.
Diane war zwölf, als der Bürgermeister starb.
»Warum weinst du nicht, Mamá?«, hatte sie gefragt, während sie selbst in Tränen zerfloss.
»Ich weine innen drin, Diane. Meine Tränen sieht man nicht.«
Aber Emma weinte nicht, jetzt nicht und auch später nicht. Diane war untröstlich und nahm ihrer Mutter übel, dass es ihr nicht genauso erging. Ihre Entfremdung hatte damals begonnen. Manches Mal hatte sie sich gefragt, was ihre Tochter wahrgenommen hatte.
Emma räumte die Kaffeetassen vom Tisch. Sie lauschte den Schritten des jungen Arztes, hörte, wie oben eine Tür geöffnet wurde.
Er erinnerte sie mit den dunklen Haaren und den fast schwarzen Augen ein wenig an den Jungen, den sie als Siebzehnjährige geliebt und verloren hatte. Damien. Ein französischer Kriegsgefangener auf der Flucht. In einem Verschlag hinter seinem Atelier hatte ihr älterer Bruder Theo den Franzosen versteckt und verpflegt. Kurz vor Ende des Krieges waren sie aufgeflogen. Trotz seines Schwures, es nicht zu tun, hatte der Bürgermeister die beiden jungen Männer verraten. Dass er es war, hatte sie erst gut zwölf Jahre später erfahren. Nach zwölf Jahren Ehehölle.
Ihr großer Bruder war für Emma alles gewesen. Nachdem ihre Eltern nicht mehr lebten, hatte er für seine kleine Schwester gesorgt.
Sie sah Theos hagere Gestalt in seinem Atelier vor der Staffelei stehen. Den Pinsel wie einen Taktstock in den schlanken Händen. Er dirigierte die Farben auf die Leinwand.
Immer wieder hatte er sie gemalt. Sie war sein Modell gewesen.
Sie blickte auf, als sie den Doktor kommen hörte. »Ich fürchte, Emma, nur mit Kräutern kommen wir hier nicht weiter. Ich werde ein paar Medikamente aufschreiben. Ich lasse sie dir schicken.«
Er sah sie an. »Im Zimmer deiner Enkelin hängt ein zauberhaftes Mädchenbild.«
»Ich weiß, eines der vielen Bilder, die mein Bruder von mir gemalt hat.«
»Du kannst dir nicht vorstellen, es zu verkaufen?«
»Nein, Thomas.«
»Falls du je darüber nachdenkst, Emma, denk an mich.« Er zog sich seine Jacke über.
»Du kannst deiner Enkelin mit deinen Hexenkünsten die Schmerzen erleichtern. Aber das Heilen überlässt du diesmal mir.«
Er umarmte sie kurz. »Ich komme morgen wieder.«
Emma hörte die Haustür zufallen.
Floria fühlte sich immer noch zerschlagen und müde. Sie war mager geworden. Der Doktor kam jeden Tag. Er konnte sich nicht erklären, warum seine Patientin sich nicht erholte.
»Gibt es etwas, was Sie bedrückt?«
»Ich fühle mich schon viel besser, Doktor.«
Thomas glaubte ihr kein Wort. Sie machte einen depressiven Eindruck.
»Wenn Sie reden wollen …«
Floria schloss die Augen und wandte den Kopf ab. »Danke, Doktor.«
Als er ihr Zimmer verließ, fiel sein Blick wieder auf das Portrait. Ein junges Mädchen oder schon eine junge Frau im Halbprofil. Er sah noch einmal zurück zu Floria und erkannte nicht zum ersten Mal die Ähnlichkeit zwischen Emma und ihrer Enkelin.
Emma saß am Küchentisch. Darauf ausgebreitet lagen farbige Gartenkataloge, die sie konzentriert studierte. Als Thomas die Küche betrat, nahm sie die Brille von der Nase und legte ein großes rundes Vergrößerungsglas zur Seite.
»Ich mach mir Sorgen um deine Enkelin. Mir scheint, sie will nicht gesund werden.«
Er nahm den Kaffee, den Emma ihm reichte.
»Danke.«
»Aber das Fieber ist runter?«
»Ja. Eben deswegen verstehe ich ihre Apathie nicht. Sie könnte wieder für ein paar Stunden aufstehen. Sie schläft zu viel.«
»Ich weiß«, sagte Emma. »Aber ich habe keine Ahnung, wie ich daran etwas ändern kann.«
»Gibt es etwas, das ich wissen müsste?«
Emma zögerte. Sollte sie über etwas reden, worüber Floria sich weigerte zu sprechen?
»Keine Antwort ist auch eine.«
»Thomas, du musst verstehen, dass ich nicht …«
»Emma, ich verstehe. Ich werde versuchen, sie zum Reden zu bringen. Mach dir keine Gedanken.«