Читать книгу Floria Tochter der Diva - Ursula Tintelnot - Страница 19
Laura Sontheim
ОглавлениеAnfang März hatte es noch einmal geschneit. Der Schnee lag schwer über der Landschaft. Aus den Schornsteinen stieg weißer Rauch in den hellen winterblauen Himmel. Auf verschneiten Äckern landeten Schwärme schwarzer kreischender Krähen. Schneeglöckchen verschwanden unterm Schnee und die ersten sprießenden Knospen von Seidelbast und Haselstrauch trugen weiße Mützen. Weihnachten und Silvester waren nur noch eine ferne Erinnerung. Die Luft roch nach Eisen.
Floria sah ihr ungeschminktes Gesicht im Fenster des Zugabteils. Sie wusste nicht so recht, ob ihr gefiel, was sie sah. Wie würde die Therapeutin auf eine Frau reagieren, die Floria Mura, der prominenten Sängerin so wenig ähnelte, dass sie sich selbst nicht mehr erkannte? Ihre Wangen hatten Farbe bekommen. Die blonden Haare waren zu einem unordentlichen Knoten geschlungen. Ihren Händen sah man die Gartenarbeit an.
Sie blickte auf ihre im Schoß verschlungenen Finger mit den kurzen Nägeln. Eine Maniküre wäre nicht verkehrt, dachte sie. Auch Kosmetik würde ihr jetzt gut tun. Gesicht und Hände wie ein Reibeisen. Kein Wunder.
Drei Tage vor Weihnachten erst war neues Holz angeliefert worden. Keine Sekunde zu früh. Der Holzvorrat vom letzten Jahr war fast aufgebraucht. Jetzt hatten sie zwar Holz, aber es lag, dem Wetter ausgesetzt, als riesiger Haufen mitten im Hof. Floria hatte den ganzen Tag gebraucht, um es an einer Wand unter einem Dachüberhang zu stapeln.
Einen ganzen Tag, an dem sie nicht an ihre verlorene Stimme, ja nicht einmal an Christof Corman gedacht hatte.
Du hast keine Zeit mehr, nur an dich zu denken, erkannte sie verwundert.
Emma war für Wochen ausgefallen, ihre Hand dick angeschwollen. Alex hatte sich um sie gekümmert, Schach oder Halma mit ihr gespielt. Sie hatten sich gegenseitig vorgelesen oder ferngesehen.
Emma und Alex zusammen zu sehen, rührte und ängstigte sie. Ein altes liebevolles Paar. Durch diese beiden wundervollen Menschen war sie zu der Frau geworden, die sie heute war. Sie hatten ihr die Liebe und Geborgenheit gegeben, die ihre Mutter ihr nicht hatte geben können. Sie würde ohne Emma und Alex unendlich einsam sein.
Floria stellte mit Erstaunen fest, wie anstrengend es war, einen Haushalt zu führen. Etwas, das sie nie hatte tun müssen. In den letzten Jahren hatte sie mehr in Hotels als in ihrer kleinen Wohnung in New York gelebt.
In vieler Hinsicht war sie ein Luxusweib geworden. Sie wurde von Designern angezogen, von Frisören gestylt.
Wenn sie essen wollte, bestellte sie sich etwas aus einem der angesagtesten Restaurants oder aß in dem Hotel, in dem sie gerade abgestiegen war. Aber sie musste hart arbeiten für all diese Annehmlichkeiten.
Jahrelang war sie von einem Termin zum anderen gejagt. Zwischen den Terminen waren neue Rollen zu erarbeiten. Sie sprach vier Sprachen, aber singen musste sie in zwei weiteren, die sie nicht verstand.
Für ihr Privatleben war wenig Zeit geblieben.
Sie und Christof hatten sich selten gesehen, zu selten. Seinen Tod hatte sie noch nicht wirklich begriffen. Dieses ‚nie wieder’ überfiel sie schmerzhaft jedesmal neu, wenn sie an ihn dachte.
Floria fürchtete sich vor dem Gespräch mit der Therapeutin.
Noch als sie vor deren Tür aus dem Taxi stieg, war die Versuchung groß, nicht hineinzugehen.
Reiß dich zusammen.
Floria gab sich einen Ruck und läutete. Laura Sontheim Therapeutin, stand auf dem Schild unter der Klingel. Ein entferntes Läuten innen war zu hören, dann Schritte. Die Tür wurde ihr von einer gepflegten Frau geöffnet. Sie mochte Mitte bis Ende vierzig sein. Das Lächeln, mit dem sie Floria begrüßte, war einladend und beruhigend zugleich.
»Kommen Sie herein, Frau Mura.«
Der Raum, in den die Therapeutin sie führte, war hell und übersichtlich möbliert.
Ein großer Flügel stand zwischen zwei Fenstertüren, die einen Blick in den Garten erlaubten. Zwei bequeme Sessel und ein kleiner Tisch vervollständigten das Ensemble. Floria schwieg.
»Es wäre hilfreich, wenn ich etwas über Ihre Verfassung vor Ihrem letzten Auftritt wüsste.«
Floria registrierte, dass sie nicht von ›ihrem Zusammenbruch‹ sprach.
Laura Sontheim war ihr sympathisch. Sie hatte erstaunlich wenig Mühe, zu berichten, was geschehen war. Auch wenn sie ihre Gefühle herunterspielte, blieb sie zumindest in der Nähe der Wahrheit.
»Sie haben lange gewartet«, meinte Laura am Ende des Gesprächs.
»Womit?« Floria sah Laura erstaunt an.
»Seit diesem Auftritt sind sechs Monate vergangen.«
»Ich …, ich brauchte Zeit.«
»Wofür?«
»Ich war nicht sicher, ob ich überhaupt wieder auf die Bühne wollte.«
»Und, sind Sie jetzt sicher?«
»Nein, aber ich weiß, dass ich meine Stimme wiederhaben möchte.«
Laura fragte: »Dann können wir einen Termin machen?«
Die Therapeutin schloss gedankenvoll die Tür hinter Floria. Sie hatte in ihr eine außerordentlich beherrschte Frau kennengelernt. Sie würden lange arbeiten müssen, um zu ihren wahren Gefühlen vorzudringen. Sie hat, dachte Laura Sontheim, den Verlust ihres Geliebten geschildert, als spräche sie über jemanden, den sie flüchtig gekannt hatte. Was für eine Entscheidung, wenige Tage nach seinem Tod eine Bühne zu betreten! Ein Wunder, dass sie bis zum letzten Akt durchgehalten hatte.
Floria verließ die Praxis mit ganz neuen Gefühlen. So etwas wie Erwartung machte sich in ihr breit. Was hielt die Zukunft für sie bereit? Sie stellte sich diese Frage zum ersten Mal seit langer Zeit.
Ihr Handy vibrierte.
»Susan! Du rufst zum richtigen Zeitpunkt an. Wo bist du?«
»Ich sitze im Taxi in Mailand. Übermorgen fliege ich nach Deutschland. Ich habe drei Wochen Zeit.«
»Wunderbar, ich freu mich auf dich.«
»Bis dann.«
Floria eilte, in Gedanken noch bei ihrem Gespräch, durch die Bahnhofshalle, während sie ihr Handy verstaute.
»Hoppla!«
Der Mann, mit dem sie unsanft zusammengestoßen war, hielt sie an beiden Schultern fest.
»Nicht fallen. Du siehst ja so fröhlich aus. Liegt das an mir?«
»Bilde dir nichts ein, Julian. Susan kommt in zwei Tagen. Was tust du hier?«
»Ich muss meinen Verleger treffen. Komm doch mit. Danach könnten wir essen gehen und gemeinsam nach Hause fahren.«
Floria zögerte.
»Ich habe Emma gesagt, dass ich am frühen Abend zurück sein würde.«
»Ruf sie an. Alex ist bei ihr. Sie wird verstehen, dass du das verlockende Angebot, von mir zum Abendessen eingeladen zu werden, unmöglich ausschlagen kannst.«
Floria musste lachen. Dass sie seine Einladung wirklich verlockend fand, würde sie ihm nicht sagen.
»Besuch deinen Verleger allein. In diesem Räuberzivil kann ich kein anständiges Lokal betreten.«
Sie trug schmale braune Hosen, die in hohen Winterstiefeln steckten. Der Rollkragen eines weißen Pullovers schmiegte sich um ihren Hals.
In diesem Aufzug würde ich dich überall mit hinnehmen, dachte er und sagte: »Oh, ich hatte an Currywurst am Stand dort drüben gedacht.«
Zwei Stunden später betrat Floria ein gemütliches Restaurant. Julian sah ihr entgegen und dachte, eine Primadonna betritt den Raum.
Von der jungen Frau in Arbeitshosen, dicken uralten Wollpullovern und Kopftuch war dieses Geschöpf weit entfernt.
Ein Kellner nahm ihr den Mantel ab. Darunter trug sie ein schlichtes schwarzes Kostüm mit einem korallenroten Top. Die hochhackigen Schuhe machten sie ein paar Zentimeter größer. Julian erhob sich und kam ihr entgegen.
»Wo hast du denn Emmas Enkelin gelassen?«
Floria deutete auf eine hochglänzende Papiertüte mit dem Logo einer exklusiven Marke, die der Kellner sorgsam neben der Garderobe abgestellt hatte.
»Dort drin.«
»Die Arme.«
»Vermisst du sie? Ich habe gleich alles anbehalten. Ich hoffe nur, dass keine Preisschilder mehr an mir hängen.«
»Das würde den faszinierenden Gesamteindruck allerdings erheblich stören.«
»Ich habe Hunger.« Floria griff nach der Karte.
Julian fuhr langsam und vorsichtig. Sie befanden sich dort, wo Floria in einer Oktobernacht ihren Leihwagen abgewürgt hatte. Wie damals waren die Wege aufgeweicht. Der Wagen schlingerte in den breiten Fahrzeugspuren landwirtschaftlicher Geräte. Schmutzige Schneeberge türmten sich zu beiden Seiten des Weges. Es war deutlich wärmer geworden.
Vielleicht, dachte Floria, würde auf den Wiesen noch Schnee liegen, dann könnte sie noch einmal mit Katja Schlitten fahren.
Floria atmete auf, als Julian den Wagen vor Emmas Haus zum Stehen brachte. Emma stand im Licht der geöffneten Haustür.
»Kommst du noch mit herein, Julian?«
»Nein danke, Emma. Heute nicht. Ich muss den Babysitter ablösen.«
Er umarmte Floria flüchtig, winkte Emma zu, stieg in sein Auto und verschwand in der Dunkelheit. Mit ihm verschwand ihre Tüte.
Die musst du mir morgen wiederbringen, dachte Floria
»Komm rein, Kind. Willst du die ganze Nacht dort stehen und ihm hinterhersehen?«
Wenn ich mir etwas wünschen dürfte …, dachte Emma. Sie verbot sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Ihre Wünsche waren die einer alten sentimentalen Frau und nicht von Bedeutung. Sie würden an der Wirklichkeit nichts ändern.
In der Küche saßen sich Alex und Thomas gegenüber. Sie starrten verbissen auf das Schachbrett zwischen ihnen und schauten nicht auf, als Floria und Emma den Raum betraten.
Emma legte den Finger an die Lippen. »Es geht um Tod und Leben«, flüsterte sie. »Sie sind heute besonders verbissen. Eine Tasse Tee?«
»Nein, Emma, gib mir einen von deinen Schnäpsen. Ich habe zu viel gegessen.«
Floria setzte sich mit Emma aufs Sofa.
Sie beobachtete die zwei Spieler am Tisch. Alex war schon bald nach Silvester in seine Junggesellenwohnung über Thomas’ Praxis zurückgezogen. Aber die beiden trugen ihre abendlichen Schachpartien so oft es ging in Emmas Küche aus. Ihr Sturz hatte allen klar gemacht, wie schnell ihr etwas passieren konnte.
Emma schien jedoch wieder ganz die Alte zu sein. Sie war immer eine starke selbstständige Frau gewesen, die nach ihren eigenen Gesetzen lebte. Und daran würde sich bis zu ihrem Tod nichts ändern. Nur in einem gehorchte sie. Sie holte weder Holz hinter dem Haus, noch Briketts aus dem Schuppen.
Das überließ sie Floria oder Tim.
»Ich erzähle dir morgen, wie es war, Emma.« Floria erhob sich und gab ihrer Großmutter einen Kuss. »Ich bin müde.«
»Gute Nacht, mein Kind.«