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Alex

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Floria genoss die Einsamkeit und die Stille am Kanal. Wie oft war sie hier mit Emma gegangen? Diese Landschaft hatte für sie einmal Geborgenheit bedeutet. Diese Geborgenheit spürte sie auch jetzt.

In der Schulzeit hatte Floria nicht viele Freundinnen. Sie war gerne alleine. Ihr besonderes Interesse für Musik schloss sie in gewisser Weise aus. Sie sang im Schulchor und ihr Lehrer hatte bald ihr Talent entdeckt. Immer öfter sang sie die Soli. Emma hatte sie, nach einem Gespräch mit dem Musiklehrer, zusätzlich zu ihrem Klavierunterricht bei einer Gesangslehrerin angemeldet. Nein, für Freundschaften hatte Floria wenig Zeit gehabt.

Der Kanal glich einem silbernen Band, das sich schier endlos neben ihr herschlängelte. Auf der anderen Seite des Kanals standen Schafe so dicht am Wasser, dass sie sich darin spiegelten. Floria stieg die Holzstufen zu einem kleinen Steg hinab, an dem ein gelbes Boot vertäut lag. Sie blieb lange dort sitzen, horchte auf das Gluckern des gekräuselten Wassers und die leisen Rufe, die aus dem Schilf zu ihr drangen. Ein paar Enten paddelten zwischen den Halmen.

Sie saß so lange, bis sie die Kälte spürte. Steif stieg sie die Stufen zum Ufer hoch und begann zu laufen. Floria hatte nicht bemerkt, wohin sie lief, bis sie vor seinem Haus stand. Neben der blau gestrichenen Eingangstür hing ein neues Praxisschild.

Doktor Alex Mendel praktizierte seit Jahren nicht mehr. Der alte Arzt, der Emmas und Florias Hausarzt gewesen war, wohnte noch über seiner ehemaligen Praxis und ging seiner Liebhaberei nach. Er züchtete hinter dem Haus Rosen. Alex Mendel mochte etwa fünf Jahre jünger als Emma sein. Floria lehnte gebückt, die Hände auf den Knien, am Zaun, um wieder zu Atem zu kommen.

»Sieh einer an«, hörte sie seine Stimme hinter sich. Sein Bass war unverkennbar.

»Alex!« Sie öffnete das Gartentor und fiel ihm um den Hals. Er ließ die Schubkarre los und erwiderte ihre Umarmung.

»Emma wird sich freuen, dich wieder hier zu haben. Komm mit in den Garten. Ich glaube, es ist noch etwas Kaffee da. Oder möchtest du etwas Stärkeres?« Er blinzelte ihr zu.

»Nein, Alex, keinen Alkohol.« Sie sah auf die Uhr. »Ich bin seit Stunden unterwegs und habe noch nichts gegessen.«

Er hatte sich gut gehalten. Sein weißes welliges Haar war dicht, sein Gang aufrecht. Obwohl der Oktober schon recht fortgeschritten war, gab es noch blühende Rosen. Er war offensichtlich dabei gewesen, die gelben Blätter von den Stängeln zu entfernen.

»So halten sie sich länger«, meinte er und zupfte im Vorbeigehen Laub von einem Rosenbäumchen.

»Wie geht es dir, Flo? Wirst du eine Weile bleiben?« Er klang besorgt. Sie hatte den Eindruck, dass hinter der Frage eine Besorgnis mitschwang, die nicht ihr galt.

»Ich denke, ja. Meine Ärzte haben mir Ruhe verordnet, keinen Stress.«

»Ich weiß, was passiert ist. Es tut mir wirklich leid, Kindchen.«

Er trank einen Schluck Kaffee, der inzwischen eiskalt sein musste, und verzog das Gesicht.

»Du bist jung, du wirst dich erholen«, meinte er. »Emma macht mir Sorgen.«

Floria erschrak. »Sie sieht sehr zart aus, aber sie macht mir nicht den Eindruck, als sei sie krank, Alex. Sie ist fast neunzig Jahre alt.«

»Ich weiß, wie alt sie ist!« Er sah sie zornig an.

Ich weiß, dass du sie liebst, dachte sie.

Er war, so lange sie denken konnte, an Emmas Seite gewesen. Zehn Jahre nach dem Krieg hatte er sich in eine Praxis hier in der kleinen Stadt eingekauft und war geblieben.

Zu der Zeit musste ihre Mutter elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein und Emmas Mann hatte noch gelebt. Er war der Bürgermeister des Ortes gewesen. Emma hatte selten von ihm gesprochen. Ihre Mutter nie. Es gab kein Bild von ihm, weder in Emmas Haus, noch in der Wohnung ihrer Mutter.

Es war, als habe es ihn nie gegeben.

»Hast du meinen Großvater gekannt?«

Der Doktor hob die Brauen. »Wie kommst du jetzt auf ihn?«

»Keine Ahnung, vergiss es. Für mich warst immer du Emmas Partner.«

Aber Floria wusste sehr genau, warum sie jetzt darauf kam. Mit seiner Bemerkung über Emma hatte er ihr gründlich Angst eingejagt. Emma würde eines Tages sterben. Eine entsetzliche Vorstellung. Für sie war ihre Großmutter unsterblich. Wo würde sie beerdigt werden? Sie hatten nicht ein einziges Mal das Grab ihres Großvaters besucht. Sie wusste nicht einmal, ob es eines gab.

Erst auf dem Heimweg fiel ihr auf, dass Alex ihre Frage nach dem Bürgermeister nicht beantwortet hatte.

Als sie sich Emmas Haus näherte, erfasste sie Panik. Sie rannte los.

Emma, ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen.

Sie konnte sie doch nicht alleine lassen. Floria rannte in die Kammer, schleuderte die Stiefel von sich und warf die Jacke über einen Eimer.

»Da bist du ja«, sagte Emma, ohne sich nach ihr umzudrehen. Sie stand am Herd und sprach in einen großen Kochtopf hinein. »Es gibt Kartoffelsuppe mit viel Muskat. Ich hab sie auf Schinkenknochen gekocht, wie du sie am liebsten magst.«

Floria betrachtete die alte Frau. Sie war kleiner als in ihrer Erinnerung. Konnte sie wirklich in den wenigen Monaten, in denen sie Emma nicht gesehen hatte, so abgebaut haben? Oder übertrieb sie in ihrer Sorge? In den letzten vier Jahren war sie immer nur wenige Tage geblieben. Hatte sie nur ihre Karriere im Kopf gehabt und nicht gesehen, was um sie herum vorging?

»Wunderbar, ich habe einen Wolfshunger.«

»Kein Wunder, du bist nach dem Frühstück aus dem Haus gegangen und nun ist es schon wieder dunkel.«

Floria umarmte Emma. »Ich soll dich grüßen.«

»Von wem?«

»Auf dem Rückweg stand ich plötzlich vor Alex’ Haus. Er hat mir einen Schnaps angeboten.«

Emma lachte. »Lass mich los. Wenn ich nicht rühre, brennt die Suppe an. Was sagt der alte Mann?«

»Emma, Alex ist einige Jahre jünger als du.«

»Ich weiß, Kind. Das macht ihn aber noch nicht jung, nicht wahr?« Floria musste lachen. Ihre Großmutter hatte einen Hang zur Sachlichkeit, die ihr selbst fremd war. Sie mochte es blumiger, gefühlvoller, leidenschaftlicher.

»Apropos, was hörst du von deinem Dirigenten?«

»Wenig, er hat mich in Rom angerufen. Er ist sehr beschäftigt.«

»Kann er nicht mal, wenn es seiner Frau schlecht geht …?«

»Das hatten wir doch schon, Emma. Er kann nicht einfach seine Termine hinschmeißen, Verträge brechen, um seine ‚kleine Frau’, die im Übrigen schon lange nicht mehr seine Frau ist, in die Arme zu nehmen und zu trösten.«

Sie dachte an ihren zukünftigen Ex-Mann. Antonio war ein gefragter Dirigent. Ihre intensive Zusammenarbeit hatte zu mehr geführt. Sie hatten sich verliebt und vollkommen unüberlegt geheiratet.

Er war ein charismatischer Mann. Für jedes Orchester eine Zumutung. Er verlangte viel, zu viel, und sein Wunsch nach Vollkommenheit hatte auch sie manches Mal an den Rand gebracht.

Seine Auffassung von der Ehe hätte einem Sultan alle Ehre gemacht. Vielweiberei war der Begriff, der ihr dazu einfiel.

»Wir lassen uns scheiden, Emma.«

»Jetzt schon?«

Floria musste lachen. »Das klingt, als hättest du fest mit einer Scheidung gerechnet. Nur nicht schon nach zweieinhalb Jahren.« In Wahrheit, dachte sie, war ihre Ehe schon nach drei Monaten nur noch eine Farce.

»Hab ich auch.« Emma rührte heftiger. »Du musst geliebt werden, nicht einem hässlichen Zwerg als Schmuck dienen.«

»Emma!«

Ein schöner Mann war Antonio in der Tat nicht. Aber er war erfolgreich und allein das schien die Frauen zu beeindrucken. Er war nicht groß und versuchte diese Tatsache mit hohen Absätzen zu kaschieren. Sein Haar trug er lang und gelockt, was ihn ein paar Zentimeter größer aussehen ließ. Aber Emma hatte nicht recht. Körperlich klein war er als Dirigent doch ein Riese. Damit hatte er auch sie betört.

»Ich zieh mich um.«

»Wir haben Besuch zum Abendessen.«

Floria hörte Emma nicht mehr. Sie duschte lange und heiß. Dann wühlte sie in ihrer Kommode und förderte sehr bequeme Hosen und ein warmes kariertes Männerhemd zutage. Dazu zog sie dicke geringelte Wollsocken über die Füße. Das Haar fiel ihr feucht über den Rücken. Floria setzte eine riesige Brille auf die Nase. Ihre Kontaktlinsen ließ sie im Bad liegen.

Nach einem Blick in den Spiegel dachte sie, wie gut, dass keine Fotografen in der Nähe sind.

Nein, Fotografen würden sie hier vermutlich nicht finden, aber sie musste zugeben, dass der Hype um ihre Person ihr geschmeichelt hatte. Solange sie erfolgreich gewesen war, hatte es nicht an Kontakten gemangelt. Würden die alten Freunde sich noch melden? Oder fiele sie in das tiefe schwarze Loch, das Vergessen hieß? Von ihrer besten Freundin Susan hatte sie noch nichts gehört. Floria ließ das Handy liegen und flüchtete zu Emma in die Küche, bevor die Verzweiflung sie überfiel.

Floria Tochter der Diva

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