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Kapitel 2: Iains Rache
ОглавлениеEines Tages hörte Iain von seiner Bettstatt aus, wie sein Vater hinter dem Vorhang ihres Bettes leise zu seiner Mutter sagte: „Was ist nur mit Iain los? Er ist so ernst geworden. Nachdenklich und in sich gekehrt erscheint er mir und er lacht kaum noch. Ob das wohl normal ist? So früh schon so grüblerisch zu werden, tut ihm nicht gut.“
Seine Mum schwieg und wusste nicht sofort, was sie antworten sollte. Wie sollte sie auch, wo sie doch den wahren Grund für Iains Entwicklung ihrem Mann nie anvertrauen konnte. Sie beruhigte ihn mit den Worten: „Ich habe ihm erzählt, dass er bald einen Bruder oder eine Schwester bekommen wird, und das er oder sie unter meinem Herzen heranwächst. Diese neue Erkenntnis hat ihn wohl so schwermütig und nachdenklich werden lassen.“
Seit dem Vorfall mit McLeod war sie noch zärtlicher zu Iain geworden. Sie behandelte ihn nicht mehr wie das Kind, das sie vor einiger Zeit noch am Gängelband gehalten hatte, sondern ging mit ihm um wie mit einem erwachsenen Vertrauten. Sie unterrichtete ihn täglich und erklärte ihm die Welt anhand ihrer Familiengeschichte und derer der schottischen Clans. Auch das Lesen und Rechnen brachte sie ihm bei, wovon er viel schneller etwas verstand, als von den blutrünstigen Fehden der allmächtigen Clanchefs, deren Hintergründe ihm so sinnlos erschienen. Der kleinste Anlass schien ihnen zu genügen, um eine blutige Fehde mit zahllosen Toten zu beginnen, die dann genauso unvermutet bei einem großen Friedensfest wieder begraben wurde. Manche Clanfehden erstreckten sich allerdings über mehrere Generationen, die dann die eigentliche Ursache längst vergessen hatten, aber dennoch jedes Mitglied des anderen Clans umzubringen versuchten. Er hatte begriffen, dass diese ständigen Fehden die Bevölkerung ausgeblutet und die Entwicklung einer gesunden Infrastruktur der Highlands immer wieder verhindert hatten, was ihn zornig und noch hasserfüllter gegen Robert McLeod werden ließ. Seine Mutter wusste von diesen starken Gefühlen in ihm, die auch sie oft überwältigten. Sie nahm ihn jedes Mal beruhigend in ihre Arme, wenn wieder einmal der Hass aus seinen Augen sprach, und Iain spürte, wie dünn und zerbrechlich ihr Körper geworden war, obwohl sich ein kleines Bäuchlein gebildet hatte.
Nicht nur physisch war sie sichtlich anders geworden. Ihr gesamtes Verhalten hatte sich seit jenem Abend in der Tenne in mannigfaltiger Weise verändert. Iain hörte sie nie mehr so unbeschwert lachen wie früher, wenn sie mit ihm spielte. Sie sang auch nicht mehr so oft vor sich hin, was sie sonst immer sowohl zu dem Dudelsackspiel seines Vaters als auch während ihrer Hausarbeit getan hatte. Ihr Gesicht hatte verhärmte Züge um den Mund herum bekommen, und nur Iain wusste, dass sie heimlich angefangen hatte, sich vergorene Maische aus der Brennerei zu stibitzen. So klein er war, verstand er doch, dass sie dieses eklige Zeug zur Betäubung aß, bevor sie wieder einen ihrer abendlichen Ausflüge unternahm, zu denen sie eine Magd des Clanchefs abholte und von denen sie stets traurig und besonders schweigsam wiederkehrte. Was auch immer McLeod mit seiner Mutter anstellte - er war es, der sie so verändert hatte. Iain wusste das genau, und sein abgrundtiefer Hass auf den anscheinend allmächtigen Herrn hatte nichts Kindliches mehr an sich.
Iain sprach mit niemandem darüber, wie es in seinem Inneren aussah. Selbst seiner besten Freundin Akira hatte er nichts erzählt. Warum hätte er es auch ausgerechnet der Tochter des Peinigers seiner Mum sagen sollen, die genauso unter ihrem Vater litt? Sie hatte ebenfalls Angst vor diesem rohen und grausamen Mann und war zu schwach, um seiner Mutter helfen zu können. Außerdem hatte er seiner Mutter seine Verschwiegenheit versprochen, und ein gegebenes Versprechen war für ihn heilig.
Akira hatte in diesem Winter sowieso genug eigene Sorgen und er bekam sie kaum mehr zu Gesicht. Kurz nach der Wintersonnenwende war ihre Mutter gestorben. Ihre Trauer war nicht sehr groß gewesen. Ihre alte Amme hatte ihr allerdings ein festes Tagesprogramm verordnet, das neben zahlreichen Besuchen der Kapelle, um für das Seelenheil ihrer Mutter zu beten, auch diverse Stunden am Stickrahmen beinhaltete. Erst im Frühsommer, wenn die Damen des Hofes ihre Handarbeiten vor den Feuerstellen weglegten und bei Spaziergängen die warmen Strahlen der Sonne zu genießen begannen, hatte Akira wieder Gelegenheiten erhalten, ihrem festen Tagesplan zu entkommen und ihre Erkundungszüge mit Iain fortzusetzen.
*
Eines Abends, an dem er verschwitzt und schmutzig von einem langen Ausflug mit Akira an der Steilküste entlang in seine Heimstatt zurückkehrte, wurde er nicht von seiner Mutter empfangen, die ihm trotz ihres für Iain inzwischen gewaltig gewordenen Bauches immer sein Abendbrot bereitet und sich dann zu ihm gesetzt hatte, um mit ihm über seinen Tag zu plaudern. Statt ihrer saß eine der Ammen der Burg im Armstuhl seines Vaters und stillte einen fremden Säugling, der zufrieden schmatzend ihre Milch in sich einsog. Verwirrt sah Iain seinen Vater mit aufgestütztem Kopf zusammengesunken an dem klobigen Holztisch unter dem Fenster sitzen, an dem er mit seiner Mum immer gegessen hatte.
„Was ist hier los?“ fragte Iain mit bebender Stimme. Sein Vater hob den Kopf und blickte ihn mit Tränen in den Augen verzweifelt an. Er sah um Jahre gealtert aus und Teile seines dichten Haares waren weiß geworden. Unvermittelt stand er auf, ging mit offenen Armen auf Iain zu und drückte ihn heftig an sich.
„Deine Mum ist heute Nachmittag zu ihrem Vater im Himmel heimgekehrt, mein Sohn“, flüsterte er ihm mit tränenerstickter Stimme ins Ohr, „aber sie hat uns den kleinen Leslie hinterlassen, der uns sicher viel Freude bereiten wird. Du wirst von jetzt an gut auf ihn aufpassen, denn er ist dein Bruder.“
Iain erstarrte. Seine Mum, von der er sich heute Morgen mit einer zärtlichen Umarmung verabschiedet hatte, war tot. Er befreite sich aus den Armen seines Vaters und fragte: „Wo ist sie? Ich will sie sehen.“
Sein Vater deutete stumm auf die Bettstatt neben der Feuerstelle, deren Vorhänge zugezogen waren. Iain ging mit langsamen Schritten zu dem Schlafplatz seiner Eltern und zog die Stores zurück. Auf dem Bett lag seine Mum bleich und mit geschlossenen Augen. Ihr Körper war bis zum Kinn mit Leintüchern zugedeckt und ihre blonden Locken ringelten sich verschwitzt über ihr Kopfkissen. Doch ihre bleichen Gesichtszüge waren entspannter als sie es in den letzten Jahren jemals gewesen waren und strahlten tiefen Frieden aus. Das tröstete ihn etwas. Aber dann zog er einem Impuls folgend mit einem heftigen Ruck die Tücher vom Körper seiner Mutter. Entsetzt und fassungslos erblickte er ihr weißes Unterkleid, das ab der Taille blutdurchtränkt war. Er schluchzte einmal kurz auf, streichelte zart ihre Wangen und küsste sie sanft auf ihre kalten Lippen.
„Ich weiß, dafür ist er verantwortlich. Ich verspreche dir, ich werde ihn zur Rechenschaft ziehen und dich rächen“, flüsterte er der Toten ins Ohr. Er richtete sich auf, drehte sich abrupt um und rannte wie von Furien gehetzt aus dem Raum. Iain hörte noch, wie die Amme seinem Vater, der ihm folgen wollte, zurief: „Nein, lasst ihn laufen. Er muss allein sein mit seiner Trauer. Er kommt sicher bald zurück.“
Sie behielt Recht. Er war die Stiege hinabgestürzt und losgerannt, einfach in die Nacht gelaufen und gelaufen, bis er sich am Eingang von dem unterirdischen Gang wieder fand und sich hinsetzte. In dunkler Nacht, versteckt vor der ganzen Welt, weinte er bitterlich, bis alle seine Tränen versiegt waren und er nur noch leise Schluchzen konnte. Dann erhob er sich mühsam und wankte langsam zurück zu seinem Zuhause, aus dem sie kurz vor seiner Rückkehr den Leichnam seiner Mutter weggebracht hatten.
„Verzeih mir“, sagte er leise zu seinem Vater, weil er sich wegen seines Schweigens über die Taten McLeods mitschuldig an ihrem Tod fühlte. Sein Dad sah ihn nur verständnislos an und umarmte ihn fest und lange. Sanft trug er ihn zu seinem Ruhelager im Alkoven, wo er sofort in einen tiefen Schlaf fiel. Als Iain am nächsten Morgen die Augen öffnete, spürte er einen Grauschleier, der sich wie ein klammes Tuch über seine Seele gelegt hatte. Er wusste, dass er den erst wieder loswerden würde, wenn er Robert McLeod, den Mörder seiner Mutter, vernichtet hatte. Iain empfand einen überwältigenden Hass und einen ihn lähmenden Schmerz wegen des unersetzlichen Verlustes. Doch im Gegensatz zu seinem Dad, der Tage lang mit geröteten Augen wie in Trance herum lief, konnte er sich nicht in weiteren Tränenfluten Erleichterung verschaffen.
„Warum weint dein Junge nicht?“ hatte Seumas, der zweite Bagpiper und Freund seines Vaters, der jetzt oft die Abende bei ihnen verbrachte, diesen gefragt, während Iain scheinbar schlafend in seinem Bett lag.
„Er ist stärker als ich“, hatte sein Vater mit tränenerstickter Stimme geantwortet. „Ich sollte mir ein Beispiel nehmen an ihm. Er findet Trost im Herrn, der seine Mutter in seinem Paradies aufgenommen hat. Aber mir gelingt es nicht. Ich habe sie mehr geliebt als meinen Gott.“
Iain wollte laut aufschreien, dass auch er sie mehr als alles auf der Welt geliebt hatte. Er hatte allerdings noch nie mit seinem Vater über seine Gefühle sprechen können, also blieb er stumm. Sollte Dad ruhig denken, die vielen Gebete, zu denen er ihn zusammen mit der Amme und Säugling Leslie bei jeder Mahlzeit zwang, würden ihm diese Kraft geben. Niemals würde er ihm wegen des seiner Mutter gegebenen Versprechens offenbaren, dem er sich auch nach ihrem Tod verpflichtet fühlte, dass es nur der Gedanke an Rache war, der ihm Kraft zum Weiterleben gab. Seine Gedanken kreisten nur noch um den Mann, den er für den Mörder seiner Mutter hielt. Er dachte an das viele Blut, das zwischen ihren Beinen geflossen war, und erinnerte sich mit Grauen an den Schwängel, der an jenem unheilvollen Abend halbsteif zwischen McLeods haarigen Beinen aufgeragt hatte. Damit musste er seine Mutter so schwer verletzt haben, dass sie letztendlich daran gestorben war.
Er wusste, er war noch viel zu klein, um McLeod zu töten. Aber vielleicht konnte er den Clanchef dort ebenso schwer verletzen wie der seine Mutter verletzt hatte, dass er wie sie irgendwann daran zugrunde gehen würde. Er musste diesen schrecklichen Körperteil vernichten, mit dem er seiner Mum innerlich und äußerlich so wehgetan hatte. Ihm fiel seine Schleuder ein, die Seumus ihm gebastelt und an seinem letzten Geburtstag mit den Worten überreicht hatte: „Von deinem friedfertigen Vater wirst du keine bekommen. Knaben in deinem Alter brauchen Waffen, um zu üben, wie man damit kämpft. Denk nur immer daran, dass du damit jemanden schwer verletzen kannst, benutze sie nie gegen etwas Lebendiges!“ Mit einem Zwinkern hatte er hinzugefügt: „Und erzähl deinem Pa nichts davon. Übe heimlich.“
Das hatte Iain getan. Wie Seumas versprochen, zielte er stets nur im Obstgarten auf Äpfel, wenn er sicher war, dass er nicht beobachtet wurde. Nicht einmal Akira hatte er sein Geschenk gezeigt. Trotz ihrer Verwegenheit war sie lediglich ein Mädchen, das mit Waffen und Kämpfen nie etwas zu tun bekommen würde.
Weil seine Mutter ihn nicht mehr unterrichtete, musste er jetzt wie die anderen Kinder jeden Tag zur Schule des Schlosses gehen, die aus einem Raum bestand, in der der Lehrer alle Altersklassen gleichzeitig unterrichtete. Die meiste Zeit schrieb Iain am Morgen irgendwelche Klassenarbeiten, die dann am Nachmittag besprochen wurden. Wenn die Schule um 5 Uhr aus war, und die anderen lärmend nach Hause liefen, war sein Vater längst wieder bei der Arbeit. Der Bagpiper hatte trotz des Todes seiner Frau nicht einen Tag seinen Dudelsack ruhen lassen dürfen und musste fast täglich fröhliche Weisen zu den Banketten und Bällen des Schlossherrn aufspielen. Da zuhause niemand mehr auf ihn wartete, schlich sich Iain oft in den Ostgarten. Dort kletterte er auf einen hohen Kirschbaum und belauerte stundenlang auf einem breiten Ast sitzend jede Bewegung des Clanchefs.
So fand er schnell heraus, dass McLeod pisste, wo er ging und stand. Angewidert verfolgte Iain, dass der Clanchef sich offenbar zwei Lieblingsplätze auserkoren hatte, um die Unmengen an Stoutbier und Whisky wieder loszuwerden, die er täglich nicht nur zu den Mahlzeiten trank. Tagsüber bevorzugte er einen Baum neben der Kapelle, an dem sich auch alle Hunde des Schlosses entleerten. Abends dagegen kam er meist rülpsend und furzend von seinem Gelage im großen Speisesaal in den Pferdestall und pisste gegen die Tennenwand, von der Iain ihn auch damals hatte kommen sehen, bevor er über seine Mutter hergefallen war. Minutenlang stand er betrunken taumelnd mit seinem Schwanz in der Hand da, den er oft noch zu streicheln schien, wenn der Strahl der stinkenden gelben Brühe versiegt war.
Genau in so einem Moment wollte Iain ihn mit seiner Schleuder erwischen, denn McLeod bekam in seinem Rausch und beim Pissen nichts davon mit, was um ihn herum geschah. Das war Iain klar geworden, als er auf seinem Beobachtungsposten einmal vor Aufregung selbst laut gefurzt und McLeod, der fast unmittelbar unter ihm stand, nichts gehört und ungerührt weiter gepisst hatte.
Eines Abends, an dem sich im Speisesaal besonders trinkfeste Gäste aufhielten und er sicher sein konnte, dass McLeod gallonenweise Bier und Unmengen von Whisky in sich hineinschütten würde, hielt Iain den Zeitpunkt für gekommen. Er holte seine Schleuder aus ihrem Versteck und nahm sie mit in den Schlosshof. Dort versteckte sich hinter einem Wagen, der Holzfässer für die Brennerei gebracht hatte und neben der Tennenwand abgestellt worden war, weil er erst morgen abgeladen werden sollte. Das war ein glücklicher Umstand für Iain, da er in seinem Versteck ungesehen ganz dicht neben dem Pissplatz seines Feindes stehen konnte.
Schließlich kam McLeod und knöpfte sich wie erwartet die Hose auf. Ein gelber Strahl schoss aus seinem Fleischesrohr. Ihm wehten die ekelhaften Ausdünstungen des Clanchefs voll in die Nase, der wie üblich beim Pinkeln heftig rülpste und furzte. Aus der Nähe sah sein Schwanz gar nicht mehr so groß aus, wie er schlaff in seiner mächtigen Pranke hing. McLeod griff sich beim Pissen an den Sack und kratzte ihn, und das Ding begann anzuschwellen. Schließlich seufzte der Hüne, schlug die letzten Tropfen ab, ließ seinen Sack los und rieb die jetzt gewaltige Stange, die schräg nach oben ragte. Iain zielte. Er wusste, er konnte den Schwängel selbst nicht richtig treffen, weil die Pratze McLeods ihn umschloss und schützte. Dennoch galt es jetzt oder nie.
„Für Mum“, flüsterte er lautlos und spannte die elastischen Riemen soweit es ging. Der schwere runde Stein, der in der kleinen Ledertasche der Schleuder lag, hatte viele Einkerbungen mit scharfen Rändern. Er hatte ihn sorgfältig ausgesucht aus dem Haufen Steine, die in einer abgelegenen Ecke des Schlossareals ihrer Verwendung als Baumaterial harrten. Iain ließ los. Und er traf. Mit einem dumpfen Aufschrei ging McLeod in die Knie.
Stöhnend verharrte er einen Moment, bevor er wie vom Blitz gefällt nach vorne auf sein Gesicht kippte.
Iain war wie vom Donner gerührt. Hatte er es womöglich doch geschafft? War der Clanchef tot? Statt wegzulaufen, wie er es ursprünglich beabsichtigt hatte, weil er damit gerechnet hatte, dass der erfahrene Kämpe auf seinen Angreifer losgehen würde, blieb er wie angewurzelt stehen und überlegte, ob er überprüfen sollte, ob sein Feind noch lebte. Bevor er sich jedoch entschließen konnte, sich dem leblosen Körper zu nähern, hörte er Schritte. Sofort duckte er sich wieder hinter den Wagen.
„Wo bist du, Robert? Komm wieder rein. Deine Piper spielen zu traurig. Du musst ein Machtwort …“
Bevor einer der betrunkenen Gäste, der mit einer Fackel in der Hand nach seinem Gastgeber suchte, weitersprechen konnte, stolperte er über die Beine des reglosen Schlossherrn und fiel mit dem Gesicht in eine stinkende Pfütze.
„Scheiße, was zum Henker war das?“ fluchte er. Mühsam rappelte er sich auf und hielt seine Fackel hoch. In ihrem Lichtschein erblickte er McLeod, der zusammengekrümmt mit heruntergelassener Hose auf dem Bauch lag. Nach einer Schrecksekunde brüllte er los: „Alarm! Ein Unglück! Alarm!“
Die Leibgarde und die Gefolgsleute McLeods stürzten mit gezückten Schwertern aus dem Saal in den Hof, und einige schlaftrunkene Knechte liefen mit Spießen und Lanzen bewaffnet aus dem Gesindehaus herzu. Sie alle rannten zu dem die Fackel hoch haltenden Gast und umstanden hilflos McLeods leblosen Körper. Keiner wusste, was zu tun war. Bis der Feldscher erschien und zwei Knechten befahl, ihn umzudrehen. Ein Raunen ging durch die inzwischen versammelte Menge. Im Schein der Fackeln erspähte Iain zwischen den Speichen des Wagenrades hindurch den nunmehr klein gewordenen Schwanz des Schlossherrn, der auf einem schwarzen Nest krauser Haare lag, unter dem ein violett verfärbter, enorm geschwollener Hodensack hervorragte, der aus zwei hässlichen Schnitten blutete und den Boden um McLeods Hinterbacken rot färbte.
Iain hatte genug gesehen. Er ließ sich auf seine Knie sinken und kroch im Schutz der Dunkelheit auf allen Vieren zur Rückseite der Tenne. Dort richtete er sich auf und lief wie von Furien gehetzt nach Hause, rannte die Stiege zu ihrem Wohnraum hinauf und ließ sich schweißüberströmt in sein Bett sinken. Während er den gleichmäßigen Atemzügen Leslies und seines Vaters lauschte, versteckte er die Schleuder unter seinem Kopfkissen. Mit einem zufriedenen Lächeln schloss er die Augen und schlief ein.
Von da an sah er den Burgherrn mehrere Wochen nicht.
„Er liegt auf Leben und Tod“, sagte sein Vater eines Abends zu ihm, wenn er sich nach dem Befinden des Clanchefs erkundigte. Sein Dad war genauso ratlos, wie der Rest der Burgbewohner. Niemand konnte sich erklären, was passiert war. Denn niemand hatte den unbedeutenden Stein bemerkt, der wie so viele andere blutbefleckt unter dem Unterleib von Robert McLeod gelegen hatte. Der Feldscher vermutete, dass McLeod sich in seinem Rausch heftig an der Tennenecke gestoßen hatte. Sicher war er sich keineswegs. McLeod selbst konnte sich an gar nichts erinnern, so dass keiner der Bewohner auf die Idee kam, es könnte sich um einen Anschlag gehandelt haben.
Nach etlichen Wochen ging es dem Schlossherrn wieder besser und er gab aus Anlass seiner Wiedergenesung einen kleinen Ball. Dazu hatte er die Bürgermeister der Küstendörfer, alle Clanmitglieder und befreundete Adelige vom Festland eingeladen und seit Tagen herrschte ein reges Treiben im Schlosshof. Viele der Gäste kamen absichtlich ein paar Tage früher, um die atemberaubend schöne Landschaft der Isle of Skye für einen kleinen Erholungsurlaub zu nutzen. Sie wurden in den Gästezimmern des Schlosses untergebracht und veranstalteten täglich fröhliche Wettkämpfe wie Bogenschießen und Pferderennen. Abends gab es dann bei einem Bankett eine Siegerehrung, und dann wurde gegessen und getanzt bis spät in die Nacht.
Iains Vater war rund um die Uhr beschäftigt. Überall war seine Musikbegleitung erwünscht. Dank der zahlreichen Fremden herrschte eine so ausgelassene und heitere Stimmung, wie Iain sie noch nie erlebt hatte. Selbst die vom Burgherrn bei jeder Gelegenheit brutal unterdrückten Bediensteten trugen alle ein Lächeln auf ihren Gesichtern, weil die Gäste sie freundlich und fast wie Gleichgestellte behandelten.
„Es geht also auch anders“, dachte Iain, und sein Hass auf McLeod verstärkte sich wieder. Nachdem ihm sein Vater von der Schwere seiner Verletzung berichtet hatte, hatte er nämlich sogar so etwas wie Mitleid für ihn empfunden. Es war Akira, die ihm erzählte, dass ihr Vater nie mehr Kinder zeugen würde. Sie hatte dabei sehr traurig ausgesehen, bedeutete es doch, dass sie unvermeidlich eines Tages die Schlossherrin und Clanchefin der McLeods werden würde und bis an ihr Lebensende auf Dunvegan Castle leben musste. Dabei hatte sie Iain immer wieder erzählt, dass sie davon träumte, eines Tages mit ihrem zukünftigen Mann in Edinburgh, York oder London zu leben. Auf jeden Fall nicht mehr auf dieser Trutzburg im ständigen Nebel am Ende der Welt. Dieser Traum war nun zerplatzt. Iain fühlte sich plötzlich sehr, sehr schlecht. An diese Konsequenz seiner Tat hatte er nicht gedacht. Er begriff, dass er in Zukunft viel sorgfältiger über die Auswirkungen seiner geplanten Handlungen nachdenken musste.
*
Am Abend des großen Festes betrat Iain an der Hand seines Vaters die mit Blumen und Fahnen geschmückte große Halle des Schlosses, in der ein Karrée von mit weißen Tischtüchern geschmückten Tischen gebildet worden war. Sie waren mit grünen Girlanden geschmückt und schienen sich unter der Last der bereits aufgetragenen, dampfenden Speisen zu biegen. Iain blieb mit offenem Mund stehen. Er bestaunte die Farbenpracht des Raumes und die zahllosen Leckerbissen von gebratenen Wachteln und Rebhühnern, von gebackenen und gebratenen Hasen und anderem Wild, Räucherheringen, frisch gefangenen Forellen und Schollen sowie Laiben von Brot, die er in einer solchen Vielfalt und Fülle noch nie gesehen hatte. Das Prunkstück der Tafel war ein mächtiger, am Spieß gebratener Keiler, der erst gestern erlegt worden war.
Neben ihm stand ein Tranchierer, der zwei scharfe Messer in seinen vor der Brust verschränkten Händen hielt. Er war speziell für dieses Fest zum Zerteilen und Auslösen der aufgetischten Braten geholt worden und war auch dafür verantwortlich, dass zu jedem Stück Fleisch die richtige Sauce gereicht wurde. Die festlich gekleideten Gäste McLeods standen inzwischen alle hinter den ihnen zugewiesenen Lehnstühlen und warteten munter schwätzend auf den Clanchef, der ihnen das Hinsetzen erlauben und das Dinner eröffnen musste. Ihre wertvollen brokat- und golddurchwirkten Seidengewänder ließen sein eigenes noch von seiner Mutter genähtes dunkelblaues Samthemd etwas ärmlich erscheinen. Da erblickten die Gäste seinen Vater mit seinem Dudelsack und applaudierten ihm begeistert. Er fühlte sich wie ein kleiner Prinz, als sein Vater ihn unter dem Beifall der Stehenden zu seinem Platz am Ende des Tisches führte, und er lächelte glücklich.
Doch dann erschrak er furchtbar. Robert McLeod betrat in diesem Augenblick den Saal und humpelte gestützt auf einen knorrigen Eichenstock langsam zu seinem prächtigen Sessel in der Mitte der Tafel. Es war das erste Mal, dass Iain ihn seit dem Attentat wiedersah, und McLeod sah nicht gut aus. Sein Gesicht war alt und faltig geworden, es schien eingefallen zu sein und er verzog es bei jedem Schritt vor Schmerz. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er den Saal durchquert hatte und sich äußerst behutsam auf seinen Stuhl sinken lassen konnte. Aufatmend taten es ihm die anderen Gäste nach. Es gab ein heftiges Stühle rücken und Kleiderrascheln, während sich alle setzten. Die Weinknechte eilten herbei und füllten die Kristallgläser. Nachdem alle ein volles Glas Wein vor sich stehen hatten, erhob sich Robert McLeod, um eine kleine Begrüßungsrede zu halten und mit einem Toast das Dinner offiziell zu eröffnen. Stille trat ein.
In diesem Moment wurde donnernd an das Holzportal des Saales geklopft. Das schwere Tor schwang wie von Geisterhand bewegt auf, und eine Kavalkade von einem Dutzend Reitern sprengte in den Saal. Sie bildeten eine perfekte Reihe genau vis á vis von dem Schlossherrn und sahen ihn provozierend an.
McLeod wurde weiß vor Zorn und rief mit donnernder Stimme: „Wer seid Ihr, dass Ihr es wagt, um diese Stunde unangemeldet in mein Schloss einzudringen und mein Fest zu stören?“
„Schrei mich nicht an, Lehnsherr von König William und Königin Mary, die mich gesandt haben und in deren Namen ich heute hier bin!“ brüllte ein in staubiges, aber kostbares Reisegewand gekleideter kleinwüchsiger Mann furchtlos und unbeeindruckt zurück. „Ich bin der Earl of York, und ich bin heute als Steuereintreiber Ihrer Majestät hier, um die längst überfälligen Steuern für den von dir gebrannten so genannten Whisky einzufordern. Wir haben wenig Zeit, deshalb wollen wir jetzt deine Brennerei besichtigen, die Jahresproduktion schätzen und den fälligen Betrag festsetzen und mitnehmen. Ich hoffe für dich, dass du genug Bares hier hast und deine Schuld bezahlen kannst, sonst werden wir Pferde, Waffen und sonstige Güter pfänden und mitnehmen müssen.“
Wieder wurde Robert McLeod weiß vor Wut. Doch Iain spürte zum ersten Mal so etwas wie Furcht bei dem Hünen. Er beobachtete verblüfft, dass die Mimik des jähzornigen und furchtlosen Clanchefs Hilflosigkeit und Angst verriet. Anscheinend flößte der kleine Gesandte mit dem Rattengesicht dieser Iain nur vom Hörensagen bekannten Königin im fernen London ihm einen Heidenrespekt ein. Bewundernd sah er zu dem schmächtigen Mann auf, der eine so gewaltige Macht zu besitzen schien, dass McLeod vor ihm kuschte.
Der Earl schien seinen Blick zu spüren, denn er schaute plötzlich zu Iain. Ihre Blicke trafen sich für einen winzigen Augenblick und Iain lächelte ihn an. Mit Verwunderung in den Augen sah ihn der Engländer nachdenklich an. Dann wandte er sich wieder Mcleod zu. Obwohl er die Eindringlinge am liebsten hätte vierteilen lassen, beherrschte sich der Schlossherr meisterhaft.
„Wohlan denn, Earl. Mein Brennmeister und ich werden Euch alles zeigen. Und Ihr, liebe Freunde, lasst Euch das Fest nicht verderben. Esst, sauft und tanzt, bis ich wiederkomme. Bagpipers, spielt auf!“
Zu den Klängen von Drums and Pipes hinkte er mit undurchdringlicher Miene an seinen verwirrten Gästen vorbei und steuerte zwischen den Pferden hindurch auf das offenen Tor zu, wobei er die Reiter keines Blickes würdigte, die ihm auf dem Fuß folgten.
Sie nahmen ihm fast alles. Vier Fünftel von dem, was Robert McLeod in seiner Schatzkammer angesammelt hatte, musste er dem Steuereintreiber übergeben. Er sah wie der Tod selbst aus, als er zwei Stunden später wieder den Saal betrat, in dem das Festmahl zwar fortgesetzt worden war, aber eine sehr gedrückte und aggressive Stimmung herrschte.
„Wie viel haben die englischen Hunde dir abgenommen?“ rief ihm einer der geladenen Clanmitglieder zornig zu.
Robert sah ihn müde an und erwiderte: „Fast meine gesamte Barschaft. Sie haben die Steuern auf Whisky angehoben und meine Jahresproduktion auf die doppelte Menge der tatsächlichen geschätzt. Ich konnte nichts dagegen machen, sie hatten einen Brennmeister dabei und der hat es einfach behauptet. Angeblich ist er ein königlich vereidigter Schätzer und er überstimmte meinen eigenen Brennmeister. Diese Whiskysteuer trifft uns alle sehr hart und ist eine mächtige Keule in den Händen dieser Tyrannen in London, die uns zerschmettern könnte.“ Eine wütende Diskussion über die Willkür und Allmacht der englischen Krone begann, die damit endete, dass der Clanchef den Bürgermeistern der Küstendörfer eröffnete, dass er von dem Earl verpflichtet worden sei, ab sofort Steuern auf ihren selbst gebrannten Whisky zu erheben. Daraufhin war es zu heftigen Protesten bei den Anwesenden gekommen, und unter zunehmendem Alkoholeinfluss wurde beschlossen, dass die Engländer heute zum letzten Mal ihre Steuern bekommen hätten. Man würde sich zusammenschließen, wenn die Steuereintreiber kämen, und sie mit Waffengewalt vertreiben.
Iain war beeindruckt von der Solidarität der Männer. Für ihn war jedoch eine andere Beobachtung an diesem Abend viel wesentlicher: er hatte miterlebt, wie der für ihn bisher als allmächtig geltende Schlossherr vor einem im fernen London lebenden König und seiner Königin gekuscht und sich widerstandslos ihrem Steuereintreiber gebeugt hatte. Er nahm sich vor, sich irgendwann und irgendwie mit dieser Macht zu verbinden, um die seiner Mutter geschworene Rache zu vollenden. Heute Abend war ihm klar geworden, dass der körperliche Schmerz Robert McLeod weit weniger bedeutete als der Kummer über einen Verlust seines Besitzes. Eines Tages würde er, Iain McCrimmon, ihm mithilfe des englischen Königshauses Dunvegan Castle wegnehmen und ihn davon jagen wie einen Hund, das schwor er sich.