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Kapitel 3: Auf der Flucht

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Iain rannte. Schon die ganze Nacht lief der junge Schotte wie noch nie in seinem Leben. Er bewegte sich so schnell er konnte auf der vom Mondlicht beschienenen Landstraße vorwärts, die Dunvegan Castle mit dem kleinen Küstendorf Kyleakin verband, von wo er sich von der Insel Skye auf das schottische Festland übersetzen lassen wollte. Inzwischen hatte er fast jedes Zeitgefühl verloren. Noch vor der Morgendämmerung musste er die Klippen von Breakish Beach erreichen, deren zerklüftete Gebirgsrücken ihm Schutz vor seinen berittenen Verfolgern bieten würden. Seine Lungen brannten und jeder Schritt schmerzte, doch er trieb seinen Körper gnadenlos an, damit ihn die Reiter Robert McLeods, die ihm in seiner Vorstellung bereits dicht auf den Fersen waren, nicht auf der Straße einfangen konnten. Jeder Gedanke an den Clanchef ließ ihn sofort wieder schneller werden.

Gestern an seinem 15. Geburtstag hatte ihn McLeod zu sich in den holzgetäfelten Empfangssaal mit der Ahnengalerie der McLeods rufen lassen. „Deine Schulzeit ist heute beendet. Du wirst ab morgen deine Ausbildung zum Bagpiper beginnen, denn sicher hast du das Talent deines Vaters geerbt“, hatte er ihm kurz und bündig befohlen. Iain hatte ihn wütend angesehen. Niemals würde er ein Bagpiper werden. Die Töne des Dudelsacks erinnerten ihn an das Quietschen von Türangeln. Auch die Erklärung seines Vaters, dass es den besonderen Reiz des Instrumentes ausmache, mit dessen schrägen Lauten zarte Melodien zu spielen, hatte ihn nicht überzeugen können. Und schon gar nicht würde er in den Dienst dieses Mannes treten, den er seit seinem fünften Lebensjahr hasste wie die Pest.

Doch scheinbar folgsam senkte er den Kopf und flüsterte ein tonloses: „Wie Sie befehlen, mein Herr und Gebieter.“

Robert McLeod nickte zufrieden und bedeutete ihm mit einer leichten Handbewegung, dass er entlassen sei. Während Iain sich umdrehte und langsam an den ihn scheinbar scharf beobachtenden Portraits der McLeods vorbei auf die mächtige Holztür zuging, hatte er den Entschluss gefasst, noch in der Nacht aus dem Schloss wegzulaufen. Gerührt dachte Iain daran, wie betroffen ihn sein Vater angesehen hatte, als er ihm noch am selben Abend seinen Entschluss mitteilte. Er hatte traurig gelächelt und ihn umarmt. Dann löste er einen Stein aus der Feuerstelle, hinter dem ein kleiner Tuchbeutel verborgen war, der leise klirrte, als sein Vater ihn hochhob und ihm überreichte.

„Ich akzeptiere deinen Entschluss, denn ich weiß schon lange, dass du kein Bagpiper werden willst. Ich verstehe auch, dass du fort musst von Dunvegan, um deiner Bestimmung zu folgen. Sire McLeod würde niemals akzeptieren, dass du seinen Befehl verweigerst. Nimm meine Ersparnisse, mein Sohn, und dann mache dich auf den Weg. Sobald du eine Möglichkeit siehst, lass mich wissen, wo du gelandet bist und wie es dir geht. Gott schütze dich.“

Er war an ihre Speisetruhe getreten und hatte Iain einen Lederbeutel mit Essensvorräten gefüllt und ihm umgehängt. Iain hatte seinen Vater umarmt und seinem bereits tief schlafenden Bruder Leslie einen sanften Kuss auf die Stirn gegeben. Anschließend hatte er sich den Tuchbeutel um den Hals gebunden und unter seinem weiten Wams versteckt. Nachdem er die Außentreppe zu ihrem Wohnraum hinunter gestiegen war, hatte sich noch einmal umgeblickt. Das letzte, was er sah, war sein Vater, der am Fenster stand und ihm zuwinkte. Iain hatte zurückgewinkt. Dann hatte er sich abrupt umgedreht und war auf leisen Sohlen an den schlafenden Torwachen vorbei aus der Burg geschlichen. Er hatte kurz überlegt, ob er sich noch von Akira verabschieden sollte, sich dann anders entschieden. Bestimmt hätte sie ihn zum Bleiben überreden wollen, und er war sich nicht ganz sicher, ob sie ihn nicht doch hätte überzeugen können. Daher hatte er ihr einen Abschiedsbrief geschrieben und ihn in dem Gang zum Verlies in ihrem geheimen Briefkasten gelegt. Auch einen Brief an seinen Bruder Leslie hatte er dort deponiert. Dann war er losgelaufen.

Die Morgendämmerung setzte ein, und Iain sah im Frühnebel die Bucht und die Häuser von Broadford vor sich auftauchen. Natürlich musste er den Ort meiden, dessen Geschicke von Robert McLeod bestimmt wurden. Man würde ihn sofort festnehmen und aufs Schloss zurückbringen, wenn er dort unvermutet auftauchte. Ihn schauderte bei dem Gedanken. Schnell verließ er die Landstraße und schlug einen Weg über eine hügelige Wiese ein, die zu den Klippen von Breakish Beach hoch über dem Firth führte. Über diese Klippen würde er bis nach Kyleakin gelangen und von dort mit einer Fähre oder einem Ruderboot die Viertelmeile nach Kyle of Lochalsh aufs Schottische Festland übersetzen.

Die Wiese war feucht und ihr Boden weich, so dass er bei jedem Schritt tief einsank, was ihn sehr viel Kraft kostete und sein Vorankommen verzögerte. Er fühlte, dass er müde wurde und sich gerne etwas ausruhen wollte. Doch er wusste, dass er unbedingt das Festland erreichen musste, um vor den Reitern des Clanchefs sicher zu sein. Er schätzte, dass er jetzt einen Vorsprung von fast acht Stunden hatte. Bis seine Flucht entdeckt würde, würden mindestens weitere zwei vergehen.

McLeod würde seinen Vater zu sich befehlen und ihn befragen. Der würde sich für den Weg zum Clanchef Zeit lassen und dann wie bei ihrem Abschied vereinbart behaupten, er habe nicht mitbekommen, wie Iain verschwunden sei und keine Ahnung, wo er sein könnte, was eine weitere Stunde Vorsprung für ihn bedeutete. Erst nach dem Gespräch mit seinem Vater würde McLeod einen Verfolgertrupp zusammenstellen und aussenden, so dass er alles in allem zwölf Stunden Vorsprung haben würde, wenn die Posse das Schlosstor passierte. Das müsste reichen. Allerdings ging Iain davon aus, dass sie ihn in den Küstendörfern als erstes suchen würden, und es war sehr fraglich, ob er in Kyleakin sofort ein Boot auftreiben und nach Loch Alsh aufs Festland übersetzen könnte, bevor sie dort erschienen.

Doch alles ging gut. Iain erreichte ohne Probleme den Hafen von Kyleakin, in dem die Fischer gerade im immer dichter werdenden Juninebel ihre Netze für die morgendliche Ausfahrt herrichteten. Er suchte sich einen blonden Mann mit einem offenen Gesicht aus, ging auf ihn zu und fragte ihn freundlich, ob er ihn gegen ein Entgelt aufs Festland übersetzen würde. Der Fischer sah den verschwitzten dünnen Burschen prüfend an und fragte ihn, woher er käme und wohin er wolle. Iain log, dass er von Portree sei und auf dem Weg nach Inverness sei, wo er in einer Whiskybrennerei eine Lehrstelle bekommen habe. Der Blonde lächelte und sagte, als armer Lehrbub brauche er doch jeden Penny. Deshalb würde er ihn umsonst mitnehmen, denn er müsse sowieso nach Kyle of Lochalsh.

„Steig ein. Mir reicht es, wenn du mir ein bisschen beim Anlegen zur Hand gehst.“

Iain stieg in das kleine Segelboot, das nach dem Ablegen sofort vom Nebel des Lochs verschluckt wurde. Er freute sich über jeden Yard, den es sich von der Isle of Skye entfernte.

Nach einer kurzen Überfahrt legten sie im Hafen von Kyle of Lochalsh an. Iain sprang behände an Land. Sobald er den Boden des Festlandes unter den Füßen spürte, durchströmte ihn eine neue Kraft. Er fühlte sich wie neugeboren und herrlich frei. Neugierig sah er sich um, doch in dem kleinen Hafen gab es nichts Außergewöhnliches zu sehen. Der winzige Ort machte einen verschlafenen Eindruck und verriet den langsamen Lebensstil seiner Bewohner. Nichts für Iain. Er winkte seinem Fährmann noch einmal zu und fing wieder an zu laufen. Sein wirkliches Ziel war Edinburgh, das nach den Erzählungen der Kaufleute, die nach Dunvegan Castle kamen, um es mit Waren aller Art zu versorgen, eine märchenhaft reiche Stadt sein musste, in der jeder sein Glück machen konnte.

Sein Elan und das Hochgefühl, dem direkten Machtbereich McLeods entronnen zu sein, hielten ihn bis zur Mitte des Tages aufrecht und trieben ihn vorwärts. Je mehr der Nebel sich lichtete und je höher die Sonne stieg, desto mehr merkte Iain, wie seine Füße in den Holzpantinen brannten. Er hatte sie ausgezogen und in den Lederbeutel um seinen Hals gepackt, wenn er über weiche Wiesen oder sandige Wege gelaufen war. Die lederne Haut seiner Fußsohlen war ihm als Marschwerkzeug wesentlich vertrauter und bequemer. Die steinigen Pfade in den Hügeln um Balmacara empfahlen jedoch die Pantinen nachhaltig.

Die offizielle Straße nach Osten mied er, denn er fürchtete Fuhrwerke und Reiter, die den Häschern McLeods zutragen könnten, einen wandernden Burschen gesehen zu haben. Seine Beinmuskeln schmerzten höllisch, und Iain beschloss, sich nach einem Unterschlupf umzusehen und sich auszuruhen. Tatsächlich fand er einen aus groben Steinen errichteten Schafstall, der ihm bestens geeignet erschien. In seinem Schatten ließ Iain sich nieder und öffnete den Lederbeutel, den ihm sein Vater gegeben hatte.

Gerührt entdeckte er darin neben einer Weste aus dicker Wolle einen Laib Brot, drei geräucherte Heringe, einen Kanten Schafskäse und sechs Äpfel. Hungrig machte er sich über das Brot und einen Hering her. Durst hatte er keinen, denn regelmäßig zu trinken war bei den vielen kleinen Bächen, die das Küstenland durchzogen, nicht schwer gewesen. Als er zum Dessert in einen Apfel biss, überkam ihn Wehmut.

Jetzt schmerzte es ihn doch sehr, dass er sich nicht von Akira verabschiedet hatte. Er war sich nicht sicher, ob der Brief, den er ihr hinterlassen hatte, sie wirklich trösten würde: „Liebste, ich kann nicht in die Dienste deines Vaters treten. Eines Tages werde ich dir erklären, warum nicht. Verzeih mir, dass ich ohne Abschied aufgebrochen bin. Ich weiß nicht, ob ich die Kraft gehabt hätte, mich von dir zu lösen, wenn du mich umarmt hättest und mich mit deinen geliebten Augen angefleht hättest, zu bleiben. Aber ich muss fort. Dein Vater hätte mich ins Verlies sperren lassen, bis ich seinem Befehl gefolgt wäre. Ich kann aber niemals Bagpiper werden, ich glaube, ich habe ganz andere Talente. Ich werde dich zu mir holen, sobald ich einen Lehrherren und eine Wohnstatt gefunden habe. Bitte warte auf mich. Ich liebe dich und werde dich immer lieben.“

Auch seinem Bruder hatte er geschrieben.

„Lieber Leslie. Ich muss fort, weil ich sonst im Verlies lande. Ich will kein Bagpiper werden, sondern werde versuchen, in Edinburgh eine Lehrstelle zu finden. Sobald ich einen Lehrherrn und eine Unterkunft gefunden habe, werde ich dich holen, und dann kannst du bei mir leben. Ich liebe dich. Dein Bruder Iain.“

Akira würde die Briefe finden und er hoffte, dass sie ihn verstehen und ihm verzeihen würde. Sicher war er, dass sie keinem Menschen außer Leslie davon erzählen würde, denn ihre Geheimnisse waren ihnen heilig. Auch Leslie hatte sich als sehr zuverlässig erwiesen. Wenn sein großer Bruder ihm sagte, das gehe außer ihnen niemanden etwas an, war das für den Jungen Gesetz, und er hätte nie ein Sterbenswörtchen zu seinen gleichaltrigen Freunden gesagt. Er war sich nicht sicher, ob sein kleiner Bruder, der ihm erst vor zwei Tagen noch stolz vorgeführt hatte, wie gewandt er mit seiner von ihm geerbten Schleuder die Apfelbäume im Obstgarten des Schlosses treffen konnte, wirklich getröstet wäre, wenn er den Brief lesen würde. Sie waren schon rein äußerlich zu unterschiedlich. Iain hatte die blauen Augen seiner Mutter ebenso geerbt wie deren blonde Locken, die er zu ihrem Andenken lang und offen trug. Leslies Haare dagegen waren so schwarz wie seine Augen und fielen ihm glatt um das breite Gesicht herum bis in den Nacken. Er war schon als Kleinkind schwer zu bändigen gewesen, da sein kräftiger Körper nach Bewegung schrie. Iain hatte schnell die Kraft und Behändigkeit seines Bruders erkannt und schon sehr früh angefangen, ihm das Ringen beizubringen. Dabei hatte Leslie sich äußerst geschickt angestellt und schon bald hatte Iain große Mühe gehabt, den verbissen kämpfenden Kleinen im Zaum zu halten, der stets sehr wütend wurde, wenn Iain ihn besiegte. Iain lächelte bei der Erinnerung an Leslie. Dann dachte er an Akira und seine Augen wurden feucht. Er streckte sich lang auf dem Wiesenboden neben dem Stall aus, bettete seinen Kopf auf die weiche Weste und fiel in einen tiefen Schlaf.


Love and Glory - Liebe und Ruhm

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