Читать книгу Love and Glory - Liebe und Ruhm - Uwe Woitzig - Страница 7
Kapitel 5: Begegnungen
Оглавление„He du.“
Ein Stock schlug gegen Iains Waden.
„Es ist Zeit, dein seliges Schläfchen zu beenden. Vor gut zwei Stunden habe ich schon beobachtet, dass du hier liegst. Und jetzt schnarchst du immer noch.“
Iain setzte sich erschrocken auf, blinzelte und musste erst einmal überlegen, wo er war. Dann fiel ihm alles wieder ein. Er war von Dunvegan Castle geflohen und auf dem Weg nach Edinburgh. Wer hatte ihn geweckt? Etwa einer seiner Verfolger? Ihm fuhr der Schreck in die Glieder. Er sprang auf die Füße und wollte losrennen.
„Gemach, gemach – oder ist etwa der Leibhaftige hinter dir her? Keine Sorge, ich jedenfalls bin´s nicht“, beruhigte ihn der seltsame Fremde. Er ließ ein hohes Kichern hören, und Iain betrachtete verwundert sein Gegenüber.
Vor ihm stand ein uralter Mann, der sich gebeugt an einem übermannshohen Schäferstab festhielt. Zu seinen bloßen Füßen, die unter einer abgetragenen braunen Kutte hervorragten, saß ein Bordercollie, der es an Hundejahren gut mit seinem Herrn aufnehmen konnte. Er blickte Iain freundlich und gelassen, aber wachsam an.
„Ich äh – wer bist du denn?“, stammelte Iain.
Der Alte kicherte.
„Eigentlich ist es an mir zu fragen, wer du bist, treibst du dich doch ohne meine Erlaubnis auf meinem Grund und Boden herum.“
„Verzeiht, ich bin I…“
Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass es vielleicht besser war, nicht seinen richtigen Namen zu sagen.
„Also man nennt mich Ethan. Ethan McLaughlin.“
„So,so, Ethan McLaughlin, also. Und woher kommst du und wohin willst du? Und was führst du hier bei meinem Stall im Schilde?“
Iain hatte entschieden, dass von dem Alten keine Gefahr ausging, und beeilte sich, ihm zu erklären, dass er ein Lehrbub auf Wanderschaft nach Edinburgh zu seinem Lehrherrn sei.
„Na, Du scheinst ein besonders eifriger Bursche zu sein. Dein Meister wird sich freuen, einen Lehrling zu bekommen, der mal eben den halben Tag verschläft. Bald wird es dunkeln. Wenn du keinen besseren Platz zum Übernachten hast, kannst du gerne zu uns kommen. Meine Frau hat in unserer Küche ein Hammelstew über der Feuerstelle simmern, und du siehst aus, als könntest du etwas Anständiges im Magen vertragen.“
Iain sah ihn prüfend an. Das gutmütige Gesicht des alten Schäfers flößte ihm Vertrauen ein und er nickte. Schnell stand er auf, verstaute seine Weste in dem Lederbeutel, hing ihn sich um und folgte seinem neuen Freund, der erstaunlich behände den Hügel neben dem Schafstall hinaufstieg. Während sie über eine Wiese liefen und der Bordercollie fröhlich neben ihnen herumtollte, ließ der Alte Iain wissen, dass er Roran Ross heiße, mit seiner Frau seit Jahr und Tag Schafe züchte und vom Verkauf der Wolle und des Hammelfleisches lebe. Aals sie hinter einem Hügel in ein kleines Seitental abbogen, an dessen Flanke ein kleines Steinhaus stand, aus dessen Kamin eine schmale Rauchsäule aufstieg, hielt Ross inne.
Er zeigte auf das Haus und sagte mit einem verschmitzten Lächeln: „Dort ist mein Zuhause. Es ist gut, dass du mir gesagt hast, dass du Ethan heißt. Sonst wäre Finola womöglich erschrocken, weil sie dich für diesen Iain McCrimmon gehalten hätte, nach dem uns die beiden Reiter von Robert McLeod heute am späten Nachmittag gefragt haben.“
Iain bekam vor Schreck weiche Knie. Doch der Alte fuhr lächelnd fort: „Keine Sorge, ich würde den Schergen McLeods niemals verraten, wo sich ein von ihnen Gesuchter aufhält. Denn ich kenne die Grausamkeit und Willkür des Herrn von Dunvegan besser als mir lieb ist. Doch jetzt komm, ich will dich meiner Frau vorstellen. Sie wird dich mit offenen Armen empfangen. Und das Stew soll nicht mehr lange warten.“
Sie betraten das armselige Steinhäuschen. Die Frau von Ross war ein dünnes Weib mit einer spitzen Nase und eingefallenen Wangen. Sie wurde etwas blass, als sie Iain erblickte. Ross zwinkerte ihr beruhigend zu. Daraufhin begrüßte sie Iain herzlich und forderte ihn auf, sich an einen roh gezimmerten Tisch in der Mitte des sauber aufgeräumten Raumes zu setzen. Sie füllte ihm und ihrem Mann zwei Holzschüsseln mit dampfenden Stew und stellte sie vor ihnen ab. Mit Heißhunger verschlang Iain schweigend und schmatzend den köstlichsten Eintopf, den er in seinem Leben gegessen hatte. In Dunvegan Castle hatte es für Kinder der Bediensteten meist nur die lieblos zusammengekochten Überreste von den abendlichen Gelagen gegeben.
Finola, die winzige Frau von Ronan, hatte das Stew mit vielen Kräutern gewürzt. Zufrieden lächelnd schaute sie zu, wie Iain mit großem Genuss noch zwei weitere Schüsseln davon verschlang. Während Iain den Eintopf in sich hineinstopfte, berichteten ihm seine Gastgeber, dass die beiden Reiter ihnen erzählt hätten, dass der von ihnen Gesuchte ein Dieb sei, der auf Dunvegan eine Flasche Whisky gestohlen und in Kyleakin verkauft habe. Dort hätten sie am Hafen von einem Fischer erfahren, dass er sich von ihm aufs Festland habe übersetzen lassen und auf dem Weg nach Inverness sei.
Ronan schloss mit den Worten: „Ob die Geschichte stimmt oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Es interessiert mich auch nicht. Auf jeden Fall würde ich dir raten, dich nicht tagsüber auf den Straßen nach Inverness oder Edinburgh blicken zu lassen, sondern dich in den Bergen zu verstecken und auszuruhen. Und dann die Nächte für dein Fortkommen zu nutzen, um möglichst viele Meilen zwischen dir und Dunvegan Castle zu legen. Das Verlies dort ist eine sehr ungemütliche und ungesunde Behausung. Ich kann ein Lied davon singen, denn ich verdanke ihm meine Gicht.“
Während seine Frau traurig nickte, erzählte Ronan dem gespannt lauschenden Iain, wie er in jungen Jahren, die er als Schäfer in seinem Heimatort Broadford verbrachte, von einem ihn hassenden Hirten einer anderen Herde des Diebstahls von einem Hammel bezichtigt worden war. Obwohl das frei erfunden war, hatte McLeod ihn gefangen nehmen und in sein feuchtes Verlies werfen lassen, wo er wochenlang in völliger Finsternis und mit einem schimmeligen Stück Brot und einer Schale Wasser pro Tag dahinvegetierte, ohne zu wissen, ob er jemals wieder das Tageslicht sehen würde. Zärtlich legte der alte Mann seine von Gicht gekrümmten Finger auf Finolas runzelige Hand.
„Mehr als vier Wochen war ich dort eingesperrt, bis Finolas Vater zufällig das Skelett des angeblich von mir gestohlenen Hammels bei einem Fleischer in Portree entdeckte, und der bestätigte, dass er den Hammel von dem mich beschuldigenden Schäfer gekauft hatte. Damit war bewiesen, dass die ganze Geschichte eine Lüge und ich unschuldig war. Es dauerte allerdings noch fast einen weiteren Monat, bevor es McLeod endlich gefiel, mich aus dem Verlies zu entlassen. Später erfuhren wir, dass er bei einem seiner Gelage meine Geschichte erzählt und lächelnd erklärt hatte, dass der Aufenthalt im Verlies die Spreu vom Weizen trenne. Die Guten hielten es aus und die Schlechten verreckten. Kurz darauf erfuhren wir, dass er dem anderen Schäfer die Hälfte seiner Herde als Ersatz für meine Kost und Logis in dem Verlies wegnehmen ließ. Da haben wir unsere Habe zusammengepackt und die Isle of Skye verlassen, weil wir nicht länger unter der Herrschaft eines so ungerechten und grausamen Mannes leben wollten. Wir haben seitdem nie wieder einen Fuß auf die Insel gesetzt.“
„Und wir haben es nie bereut“, setzte Finola hinzu. Sie stand auf und küsste ihren Gatten zärtlich auf seine faltige Wange, bevor sie an einen Waschzuber trat und die leeren Holzschüsseln abzuwaschen begann. Iain genoss die behagliche Atmosphäre in der winzigen Behausung, die ihn an die glückliche Zeit erinnerte, in der er noch nicht Zeuge des Vorfalls in der Tenne gewesen war. Hier fühlte er sich genauso geborgen wie in jener unbeschwerten Zeit seiner Kindheit auf Dunvegan, und er schlief in dieser Nacht auf den Schaffellen neben der Feuerstelle mit dem alten Bordercollie neben sich tief und traumlos.
Am nächsten Tag, den er mit Ronan zusammen auf dem Weidehügel der Schafe verbrachte, erzählte er dem warmherzigen und verständnisvollen alten Mann seine ganze Geschichte. Er verriet ihm seine Schleuderattacke auf den verhassten McLeod. Dann schilderte er den Tod seiner Mutter und sein Versprechen an ihrem Totenbett. Erzählte von seiner Flucht, von seinem zurückgelassenen Vater und seinem Bruder Leslie. Selbst von seiner Liebe zu Akira. Der alte Schäfer hörte ihm schweigend zu. Nachdem Iain geendet hatte und ihn mit feuchten Augen erwartungsvoll ansah, sagte er nichts. Er nahm ihn in seine dürren Arme und zog ihn an sich.
„Du hast schon viel Leid erlebt für deine jungen Jahre“, sagte er leise. „Gott schmiedet seine Auserwählten solange sie noch weich und formbar sind. Auf dich scheint etwas Großes zu warten, für das du anscheinend auf Dunvegan vorbereitet worden bist. Wenn du willst, kannst du dich gerne ein paar Tage bei uns ausruhen. Hier bist du sicher, weil die Späher McLeods nicht ein zweites Mal bei uns vorbeischauen werden.“
Iain nahm das Angebot dankbar an. Er hatte großes Vertrauen zu dem alten Schäfer gefasst und dachte sogar daran, ihn zu fragen ob er nicht bei ihm bleiben und ihm gegen Kost und Logis bei seiner Arbeit helfen könnte. Doch den Gedanken verwarf er sofort wieder. Niemals würde Akira mit ihm das anspruchslose Leben eines Schafhirten führen. Obwohl ihm noch nie zwei so zufriedene Menschen wie Finola und Ross begegnet waren, würde er sie niemals davon überzeugen können, so ein einfaches Leben zu führen. Und wenn er ehrlich zu sich war, wusste er, dass es auch für ihn nichts war.
Am Abend genoss er erneut ein vorzügliches Abendessen. Wieder schlief er von der schweren Arbeit erschöpft tief und traumlos. Er erholte sich von den Strapazen seiner Flucht und blieb noch eine ganze Woche bei den freundlichen und liebevollen Alten. Bevor am achten Tag die Sonne unterging, schulterte er seinen Lederbeutel. Nach einer herzlichen Verabschiedung von den zu Freunden gewordenen Menschen und den ihn traurig ansehenden Collie, der sich an ihn gewöhnt hatte, machte er sich schweren Herzens wieder auf seinen Weg. Dieses Mal mit einer geschmorter Lammkeule im Bauch und einer weiteren als Proviant in seinem Beutel, die ihm Finola augenzwinkernd eingepackt hatte. Iain lief den Hügel hinter der Schäferkate hinauf. Die Weite der Landschaft, die vor ihm lag und von der langsam untergehenden Sonne beschienen wurde, faszinierte Iain.
Er schritt weit aus und hielt sich wie Ronan ihm geraten hatte nördlich der Küstenstraße. Vor allem Eilean Donan Castle, wo die Reiter McLeods möglicherweise nächtigten, umging er. Bald sah er die Silhouette von Ben Killian am Horizont erscheinen. Auch ihn sollte er zu seiner Rechten liegen lassen und sich dann an der Bergkette von Faochaig, Aonach Buidhe und An Riabhachan orientieren, hatte Ronan ihm empfohlen. Am Fuße des Ben Killian machte Iain am Abend Rast an einem kleinen Rinnsal. Bislang war ihm kein Mensch begegnet. Eine solche Stille und Einsamkeit hatte er noch nie erlebt. Sie übte eine seltsame Faszination auf ihn aus. Er gönnte sich die Hälfte der Lammkeule und trank dazu das klare Bergwasser. Nach seiner Mahlzeit legte er sich ins Gras und schloss zufrieden die Augen. Zuerst dachte er, es herrsche absolute Stille. Doch mit der Zeit wurden ihm nicht nur die Schreie der Vögel bewusst. Mit seinen geschärften Sinnen hörte er den Wind, der die Grashalme zum Singen brachte, und das Gekrabbel der Ameisen und Käfer zwischen den Stängeln des blühenden Heidekrauts.
Als er langsam in seinen Schlaf hinüberdämmerte, vernahm er in der Ferne plötzlich das Kläffen eines Hundes, das näher zu kommen schien. Sofort sprang er auf, verstaute seine Sachen und brach auf. Er wollte keine Menschen treffen und sich ihnen erklären müssen. Nicht alle waren so verständnisvoll wie das alte Schäferpaar. Nachdem die Sonne am Horizont versunken war, ging ein leuchtender Mond am klaren Nachthimmel auf. In seinem Licht hatte Iain den Berg umrundet und war bei Carnach in ein Glen gekommen, das er auf der anderen Seite über den steilen Hang eines kahlen Berges wieder verließ.
Beim Überqueren von dessen Gipfel merkte er auf einmal, dass seine Beine den Dienst versagten und nicht mehr weiter konnten. Er ließ sich auf der Stelle nieder und sah sich um. In der Ferne erkannte er die markante Silhouette des Carn Eighe. Dort würde er morgen ins Glen Affric hinunter steigen, von wo aus es zu dem großen Loch Ness nicht mehr weit war. Am Südzipfel des Sees hoffte Iain auf Farmer und Händler zu stoßen, die dort ihre Pferde und Ochsen zu tränken pflegten und die ihn vielleicht auf ihren Karren bis nach Edinburgh mitnehmen würden. Und dort, so glaubte er, wäre er ganz gewiss außer Reichweite McLeods.
*
Der feine Nieselregen, der am frühen Morgen einsetzte, weckte Iain. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er eingeschlafen war. Schnell stand er auf, zog sich seines Vaters Weste mit der ledernen Seite nach außen gekehrt über und brach sich einen Kanten Brot von dem vertrockneten Laib, der noch in Dunvegan gebacken worden war. Während er erfrischt ausschritt, gratulierte er sich zu seinem glücklichen Timing. Der Regen störte ihn nicht. Es war nicht kalt, und das nasse Gras unter seinen nackten Füßen fühlte sich gut an. Er kam so gut voran, dass er Glen Affric noch vor dem Mittag erreichte. Der Aufstieg zu dem mit zahllosen kleinen Seen durchsetzten Hochmoor, der durch einen lichten Wald führte, brachte Abwechslung in seine Ernährung. Er konnte die dichten Teppiche der Blaubeeren mit Heißhunger abgrasen. Am Nachmittag war wieder die Sonne wieder zum Vorschein gekommen. Iain lief auf einem der sumpfigen Wege weiter. Außer ihm schien kein Mensch unterwegs zu sein. Nur Füchse und Hasen sah er, die ihn misstrauisch beäugten. Ab und zu erspähte er scheues Rotwild, das ihn aus der Entfernung beäugte, aber schnell die Flucht ergriff, wenn er ihm zu nahe kam. Auf einmal sah er sich einer großen Wildkatze gegenüber, die fauchend auf einem Felsen saß, und nahm seine Beine in die Hand. Dieses gefährliche Tier wollte er nicht näher kennen lernen. Er war froh, als sich im Hochmoor wieder violett blühende Heide um ihn herum erstreckte, in der es keine bedrohlichen Lebewesen gab.
Iain dachte sich, dass es vermutlich sicherer wäre, wenn er sich für seine weitere Reise Gefährten suchen würde. Er hatte von den Händlern in Dunvegan gehört, dass je südlicher man kam die Bewaldung des Landes zunahm und der Weg gefährlicher wurde. Nicht nur wegen wilder Tiere wie Bären und Wölfen. Auch Wegelagerer überfielen immer wieder einzelne Reisende und raubten sie aus, wobei sie oft schwer verletzt oder gar getötet wurden. Iain besaß zwar nichts, was einem Räuber gefallen könnte. Doch die Kaufleute hatten ihm erzählt, dass sie auch mordeten, um Zeugen zu beseitigen.
Die Händler hatten auch berichtet, dass man nie sicher sein konnte, nicht zufällig in eine blutige Clanfehde oder gar in eine Schlacht wie die um Glencoe verwickelt zu werden. Dieses Massaker der Engländer an den MacDonalds war zwar schon 16 Jahre her, doch seine Mutter hatte ihm in ihren Geschichtsstunden immer wieder von diesem heimtückischen Anschlag der protestantischen Engländer erzählt:
Die 1. und 2. Kompanie des Earl of Argyll’s Regiments unter dem Kommando von Robert Campbell of Glenlyon, insgesamt etwa 120 Soldaten, waren beim Clan der MacDonalds in Glencoe einquartiert und bewirtet worden. Die Offiziere kamen hauptsächlich aus dem schottischen Tiefland. Captain Campbell war sogar durch seine Heirat mit dem alten MacDonald verwandt, deshalb wurde er selber im Haus des Clanoberhaupts einquartiert. Etwa 14 Tage lang besuchte Captain Campbell jeden Morgen das Haus von Alexander MacDonald, Alistair MacDonalds jüngstem Sohn, der mit Campbells Nichte verheiratet war. Ob Campbell wusste, was er durchführen sollte, war umstritten. Als Captain Drummond, der Captain des 1. Grenadierregiments Robert Campbell den Befehl überbrachte, die rebellischen MacDonalds of Glencoe und alle Personen jünger als 70 Jahre hinzurichten, zögerte er nicht, diesen Spezialauftrag des Königs zu befolgen. Alastair MacDonald wurde getötet, als er gerade aus dem Bett aufstehen wollte. Insgesamt wurden 38 Männer in ihren Häusern oder während der Flucht in die Hügel ermordet. Weitere 40 Frauen und Kinder starben später, da sie der winterlichen Witterung ungeschützt ausgeliefert waren, weil ihre Häuser niedergebrannt worden waren.
Zusätzlich zu den Soldaten, die sich in Glencoe aufhielten, standen in dieser Nacht zwei weitere Abteilungen mit jeweils 400 Mann bereit, um die Fluchtwege abzusperren. Beide Abteilungen erreichten jedoch ihre Positionen zu spät, nicht zuletzt durch den Schneesturm, der den Weg über den Devil´s Staircase bei Kinlochleven unpassierbar machte.
Als seine Mutter ihm das alles geschildert hatte, hatte sie hinzugefügt: „Das ist die offizielle Version. Wir wissen alle, dass sie einfach nicht rechtzeitig ankommen wollten, um nicht an dem verbrecherischen Abschlachten Unschuldiger teilnehmen zu müssen.“
Verbrechen, so wusste Iain seither, waren also nicht allein im Dunstkreis von McLeod möglich, sondern auch den Engländer zuzutrauen. Und nicht nur ihnen. Die ganze Welt hatte das Potential zum Schlechten. Ob es die Franzosen waren, die sich blutige Kriege mit halb Europa geleistet hatten, oder die Spanier, die einen Erbfolgekrieg nach dem anderen ausfochten. Oder dieses dreißigjährige Gemetzel, das Deutschland und halb Europa verwüstet hatte. Immer starben unschuldige Menschen wegen irgendwelcher Streitereien von Herrschenden, die sie in Wirklichkeit nichts angingen.
Seine Mutter, so war Iain überzeugt, hatte Recht gehabt, wenn sie ihn stets mahnte: „Verlasse dich in deinem Leben auf niemanden. Du kannst immer nur dir selbst vertrauen.“
Sein Vater hatte ergänzt, dass er sich auch auf Gottes Ratschluss verlassen könne und das Leben vorwärts gelebt und rückwärts verstanden würde. Bei Gott war Iain sich nicht mehr so sicher. Zwar hatte der Glaube an ihn seinen Vater stets getröstet. Er selbst war mit den Ungerechtigkeiten, die dieser Gott auf Dunvegan und in der Welt geschehen ließ, nicht einverstanden. Iain hatte sich bemüht, die Demut seines Vaters gegenüber dem angeblich von Gott gegebenen Schicksal aufzubringen und alle Ungerechtigkeiten gelassen zu ertragen. Gelungen war es ihm nie. Also würde er in erster Linie sich selbst vertrauen. Sein Körper war zäh und kräftig, sein Verstand war wach und scharf, und seine Instinkte hatten ihn noch nie im Stich gelassen.