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Das Konzept des guten Grundes
Оглавление»Die Probleme von heute sind die Lösungsversuche von gestern.«
(VERFASSER UNBEKANNT)
Ich habe schon erwähnt, dass die menschliche Psyche zwar komplex ist, aber immer logisch funktioniert. Man könnte auch sagen: Nichts geschieht ohne Grund. Kein einziges Symptom, kein Muster, keine Schwierigkeit, die du im Leben hast, und auch keine Fähigkeit, die du in dir trägst, existiert einfach so. Wir können uns selbst auf unserem Lebensweg sehr unterstützen, wenn wir uns immer wieder nach dem guten Grund fragen. Damit ist nicht die Frage gemeint, warum etwas passiert ist, denn darüber nachzusinnen ist müßig und hat keine sonderlich heilsame Kraft. Die Frage nach dem guten Grund bezieht sich auf die eigenen »Besonderheiten«: die Muster, Eigenheiten, Makel oder Symptome, die uns belasten, quälen und ratlos machen. Sie sind nicht aus dem Nichts entstanden, sondern waren Anpassungsleistungen oder Überlebensstrategien, die es uns ermöglicht haben, trotz widriger Umstände heranzuwachsen.
DIE INNERE PERFEKTIONISTIN
Jolandas Vater war selten für sie da. Es gibt kaum Kinderfotos von ihr, auf denen sie gemeinsam zu sehen sind. Sie erinnert sich nur an wenige lustige und innige Momente mit ihm, wenn die Familie im Urlaub war oder wenn sie zusammen draußen im Wald waren. Stattdessen hat Jolanda viele Augenblicke in Erinnerung, in denen sie sich vor ihrem Vater schämte und ratlos war, was sie falsch gemacht hatte. Ihr Vater war, besonders wenn er getrunken hatte, oft sehr gemein zu ihr. Dann hielt er ihr all ihre »Fehler« vor, unter anderem warf er ihr immer wieder vor, kein Junge zu sein, und zählte auf, was sie alles nicht konnte. Ihre Mutter hielt sich in solchen Momenten vollkommen raus und redete Jolanda immer wieder ein, dass sie sich mehr anstrengen sollte, um ihren Vater nicht zu verärgern. Jolanda wollte nichts mehr, als ihren Eltern und besonders ihrem Vater zu gefallen, um Liebe und Zuwendung zu bekommen. Durch seine fortwährenden Abwertungen entwickelte sich in ihr ein Anteil, der fest davon überzeugt war, nicht gut genug zu sein. Er hatte all die Worte, Sätze und Blicke des Vaters tief verinnerlicht. Dieser Anteil hatte die Strategie, sich bis zur Erschöpfung anzustrengen, um es nur irgendwie richtig und gut genug zu machen. Nur das war entscheidend und wurde zur obersten Priorität. Sich darauf zu konzentrieren, machte es leichter, die drohende Abwertung auszuhalten, da Jolanda damit das Gefühl hatte, etwas kontrollieren zu können. Das führte dazu, dass Jolandas Anteil einen ausgeprägten Perfektionismus entwickelte in ständiger Sorge, doch nicht gut genug zu sein. Der perfektionistische Anteil von Jolanda entstand also zum Schutz vor Abwertung und Beschämung.
Da Jolanda die Abwertungen ihres Vaters so intensiv verinnerlicht hat, lebt sie auch heute, als erwachsene Frau, immer noch in der Erwartung, bewertet und abgelehnt zu werden. Um diese innere Angst nicht ständig zu spüren, springt ihr perfektionistischer Anteil an und sorgt dafür, dass sie mehr als ihr Bestes gibt. Leider hat das den Preis, dass sie immer nah an ihrer Belastungsgrenze unterwegs ist und diese häufig auch überschreitet. In stressigen Zeiten im Büro ist sie die Letzte, die geht, und die Erste, die morgens den PC anschaltet. Sie nimmt sich Arbeit mit nach Hause und kann nicht schlafen, wenn sie nicht noch einmal alles durchgeschaut hat. Jolanda leidet sehr unter ihrem Perfektionismus und unter der dahinterliegenden Angst vor Abwertung und der Bestätigung, nicht gut genug zu sein.
Probleme von heute können also Lösungsversuche von damals sein. Um diese Probleme zu lösen, ist es wichtig zu erkennen, wofür sie einen Lösungsversuch darstellen. Es ist sehr wertvoll, wenn wir uns nicht ständig innerlich abwerten für unsere scheinbaren Unzulänglichkeiten, sondern uns stattdessen fragen: Wovor soll mich dieses Muster schützen?
Wenn du ungeliebte Gewohnheiten und belastende Muster transformieren willst, frage dich, wozu sie dir dienen und wovor sie dich schützen sollen.
Mit dieser Frage bringen wir uns einen grundsätzlichen Respekt entgegen, denn wir gehen davon aus, dass wir nicht unfähig, dumm oder minderwertig sind, sondern gestehen uns zu: Die schwierigsten und unsinnig scheinenden Muster sind intelligente, aber heute unpassende Schutzstrategien.
Wie würden wir uns selbst und anderen wohl begegnen, wenn wir diese Frage vor unsere Bewertungen stellen würden? Wahrscheinlich mit mehr Offenheit, Interesse, Reife und Güte. Wir kämen in die Lage, uns wirklich zu sehen, weit über die augenscheinlichen Schwierigkeiten hinaus. Es wäre leichter, Dinge weniger persönlich zu nehmen und stattdessen die richtigen Fragen zu stellen. Es würde uns möglich, toleranter und weniger voreingenommen zu sein.
Davon auszugehen, dass es gute Gründe für scheinbar schlechte Dinge gibt, kann uns entlasten von dem dauerhaften Gefühl, uns schützen, verteidigen oder verbergen zu müssen.