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Die geilen Neunziger

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Sascha erwies sich indes durchaus nicht als Idiot. Er war einer von denen, die in den geilen russischen neunziger Jahre Hunderte von Lebensformen ausprobiert hatten. Er spürte das Pfeifen und die Schnelligkeit der russischen Zeit, eine Stunde zählte wie ein Jahr, das gab es niemals zuvor und offenbar auch nicht danach. Er war einer von denen, die die Bedeutung von Energie begriffen und ihre passive Mentalität veränderten.

Kaum jemand im Russland der Neunziger lebte – fast alle waren mit Weinen beschäftigt. Aus unterschiedlichen Gründen. Sie weinten vor Freude, als sie die Freiheit bekamen. Die bestohlen wurden, weinten. Auf die geschossen wurde, weinten. Fast alle blickten sich ängstlich um, die Hand auf der Tasche, wollten nicht am Spiel teilnehmen und standen suchend am Straßenrand. Das in Geld schwimmende Moskau erschien diesen »fast allen« als die ärmste, verlorenste Stadt der Welt.

Unterdessen lagen die Geldscheine auf den Straßen und Plätzen der Stadt herum, flatterten mit dem Wind in die Hauseingänge, wirbelten in den Treppenhäusern umher. Man hätte sie mit dem Besen zusammenkehren können, aber es waren ja keine Straßenfeger da, es gab nur Anfänger und Amateure, die harkten zunächst ungeschickt und brav, und es war eine so ermüdende Tätigkeit, dass abends keine Zeit mehr blieb, um die Einnahmen nachzuzählen, sie wollten nur noch schlafen. Das Geld wurde in Eimern verwahrt, in Schüsseln und großen Töpfen, es waren Millionen und Abermillionen, sie wurden in grüne Scheine umgetauscht, man konnte innerhalb einer Woche eine Million grüne Scheine machen.

Die Wechselstube erlangte größere Macht als Goethes Faust. Sie arbeitete sieben Tage die Woche.

Doch für »fast alle« war das Geld unsichtbar, sie scheffelten es nicht, sie verloren es. »Fast alle« wussten genau, dass sie früher Tomaten gegessen und einmal sogar im mittlerweile nicht mehr existierenden Bekleidungsgeschäft »Ruslan« einen karierten belgischen Anzug gekauft hatten; jetzt reichte es kaum für Kartoffeln. »Fast alle« warteten geduldig vor dem Fernseher auf Aufklärung. Sie kamen nicht drauf, dass nirgendwo auf der Welt irgendwer irgendwem irgendwas erklärt, wenn auf den Straßen und Plätzen das Geld haufenweise herumliegt. Dann spuckten »fast alle« vor dem Fernseher aus und spuckten so lange, dass einige von ihnen zu Pennern wurden. »Fast alle« schleppten sich herum auf der Suche nach irgendeiner Wahrheit. Plötzlich gab es in den Geschäften alles. Das war besonders kränkend. Und »fast alle« sehnten sich nach den gewohnten leeren Regalen, sie wollten fort in die gute alte Welt der Warteschlangen.

Sascha begann mit Sockenverkauf in Unterführungen. Nach den Socken und der Verteidigung der Freiheit in der Menschenkette vor dem russischen Parlament, dem »Weißen Haus«, verkaufte er Zigaretten, Antiquitäten, ausländische Autos, besaß Warenlager und Geschäfte, illegale Waffen, gründete Banken, wollte die »Aeroflot« kaufen, baute stattdessen eine Ziegelei und eine Fabrik für Schals aus Ziegenhaar. Er ging in großem Stil unter, machte Bankrott, wollte sich im Badezimmer erschießen und vergoss nicht wenig von seinem eigenen Blut. Er überlebte, kehrte zum »Hütchenspiel« zurück, stieg ein ins Spielergeschäft, trug ein rotes Jackett, gründete eine Männerzeitschrift, ging wieder pleite, stand bei allen in der Kreide. Die Tschetschenen gruben ihn bei Moskau im Wald ein. Genauer gesagt, sie zwangen ihn, sich selbst mit der Schaufel einzugraben.

Die Philosophie der Neunzigerjahre wurde das Computerspiel. Virtualität ballte sich in der Luft wie Frühlingsnebel. Jedem standen mehrere Leben zu, die Garderobe wurde nicht nach Saison gewechselt, sondern je nach Inspiration, Vögel flogen auf, Schwerter klirrten, lautes Kampfgeschrei allenthalben. Auf Sascha wurde geschossen, er schoss zurück, die Bohrlöcher sprudelten, er verschob Gelder in den Westen. Er legte sich Immobilien in London zu. Er hatte zunehmend Flausen im Kopf. Er befasste sich mit russischer Philosophie, wurde russisch-orthodox, setzte sich ab in den Altai, wurde Eremit, tauchte in den Buddhismus ein, tauschte Buddhismus gegen Hinduismus, tanzte, entschwand in den Astralleib. Er tauschte Hinduismus gegen Judentum (ohne Jude zu sein), eine gewisse Zeit quälte er sich als Atheist, dann wandte er sich dem einfachen Leben zu und wurde Vegetarier. Aus reinem Herzen tat er Buße, tauschte seinen Jeep gegen einen vergammelten Schiguli, verschärfte die Auseinandersetzungen, schwor sich, drei Jahre lang keine Frau anzurühren.

Es war das Jahrzehnt des russischen Körpers. Der Verlust des Materialismus führte zur Entdeckung des Materiellen. Mädchen wurden zu Jungen und umgekehrt. Die Bedürfnisse tendierten zu geschmeidigem Unisex. Sascha entdeckte zufällig bei sich eine Neigung zum Islam, eröffnete fünf Hamams und einen Harem, wechselte zu Voodoo, haute ab in die Karibik, von dort nach Nigeria, in Lagos kam er wie durch ein Wunder mit dem Leben davon, er kehrte zurück, tat Buße im Danilow-Kloster, wurde Adlatus. Er arbeitete bei der Staatssicherheit und entblödete sich nicht, mir gegenüber seine Begeisterung für die Heldentaten der sowjetischen KGBler zum Ausdruck zu bringen, er liebte Amerika, er hasste Amerika, nährte nostalgische Gefühle für die Vergangenheit und wollte die Vergangenheit nicht zurückhaben. Sascha war vor Kurzem dreißig geworden. Er fuhr fort zu experimentieren – mit einem gesunden Lebenswandel, Sex, Kino, Computern, Werbung. Sascha gab zu, die Lage sei beschissen.

»Ich beiß mir in den Arsch, wenn wir ihn nicht finden«, fügte er hinzu.

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