Читать книгу Enzyklopädie der russischen Seele - Viktor Jerofejew - Страница 17
Tante Njura
ОглавлениеTante Njura hat den Fall des Imperiums nicht mitbekommen. Sie hat viele Jahre bei der Prawda als Putzfrau gearbeitet. Das ist etwa so, wie als Putzfrau in Kafkas Schloss zu arbeiten. Das Schloss gibt es nicht mehr. Von der UdSSR haben sich die Republiken wie Reifen gelöst und sind davongerollt. Tante Njura fand eine Arbeit bei einem Juwelier. Manchmal, wenn sie unterm Bett Staub wischte, fand sie kleine Steinchen. Einige davon waren Brillanten. Wenn der Hausherr betrunken aus dem Casino nach Hause kam, steckte er Tante Njura manchmal grüne Geldscheine zu. Lange wusste sie mit den grünen Geldscheinen nichts anzufangen, aber als sie ihren Wert einigermaßen begriffen hatte, begann sie sie für alle Fälle zu horten.
Sie kam zu mir, um Genaueres zu erfahren, aber ich konnte nicht die richtigen erklärenden Worte finden. Es fehlte ein gemeinsamer Begriffsapparat. Ich versuchte es geduldig, leicht verständlich, auf jede mögliche Weise. Sie war empört, wie denn das sein könne, wer es sich erlaube, die Prawda einfach dicht zu machen. Sie glaubte mir, aber meinen Worten glaubte sie nicht.
Tante Njura erinnerte sich noch an die Kollektivierung und mochte sie angeblich nicht. Aber den Hunger ertrug sie geduldig wie eine Naturgewalt. Zu Chruschtschows Zeiten putzte sie bei irgendwelchen Italienern, offenbar in der Familie eines kommunistischen Korrespondenten. Sie war entzückt von der Sauberkeit der Wohnung, kam aber nicht dahinter, was für Italiener das genau waren.
Tante Njura saugt Staub und redet dabei unentwegt. Man versteht kein Wort. Der Unterbewusstseinsstrom ist, wenn man den Staubsauger abstellt, angefüllt mit unverdauten Stücken ihrer Jugend, Szenen aus einem harten Leben, Defizit an Stiefeln, Klatschgeschichten über andere Arbeitgeber, den tatarischen Nachbarn, der ihr sein Glied gezeigt und den Balkon in Brand gesetzt hat, es stank nach Gummi von Autoreifen: Der Tatar wurde in die Klapsmühle gesteckt. Sie ist nicht verbittert, sie ist ein Arbeitstier. Der Sohn war ein Trunkenbold, vor Kurzem ist er ganz aufgequollen und gestorben, dafür hat mir der brauchbare Neffe mal ein Türschloss eingebaut. Tante Njura hat eine alte Frau aus ihrem Dorf, der das Haus abgebrannt ist, bei sich aufgenommen, also ist sie ein guter Mensch. Ihr Traum, eine Wohnung nur für sich allein zu haben, hat sich nicht erfüllt.
Ich mag sie. Wenn sie ein paar Gläschen Wodka getrunken hat, kommt sie in Fahrt, singt obszöne Schüttelreime und sagt unanständige Sachen. Ich versuche, mich in sie hineinzuversetzen. Sie ist eine ehrliche Haut, sorgt sich um meinen Sohn. Aber sie verpetzt ihn bei mir, wann immer sich die Gelegenheit bietet. Halte ich sie für einen Menschen? Schwierige Frage. Wie ein auf dem Rücken liegender Käfer versteht sie nicht, was mit ihr vorgeht.
Modelliert man die Realität, in der sie lebt, erhält man ein Märchen voller Prüfungen. Das Bestehen dieser Prüfungen ist eine Legierung aus Anstrengung und Wunder. Der westliche Mensch sieht die Realität als Tätigkeitsfeld. Der Russe als märchenhaften Raum. Er wird bewohnt von Wesen, die magische Kräfte besitzen. Manchmal sind diese Kräfte gleich Null, manchmal heben sie die Welt aus den Angeln. Die Märchenhaftigkeit des internen russischen Raums besteht darin, dass er prinzipiell nicht zu entschlüsseln ist. Feinde tun sich zusammen als böse Kraft. Ursache und Wirkung tauschen die Plätze. Verbindungen zum Raum hinter den Spiegeln werden geknüpft. Das Märchen ist konspirativ. Schwarze Katzen sind den Machenschaften der Vorsehung gleichgestellt. Der Russe lässt eine märchenhafte Denkweise in sich einfließen und hängt dann zwischen zwei Welten, er findet Ruhe weder in einer Vita activa noch in einer Vita contemplativa. Die Eigenart der russischen Welt besteht in der Selbstaufzehrung. Die magische Welt fasziniert mich wegen ihrer wunderbaren Fantasien und strengt mich an wegen ihrer Unfähigkeit, mit Zauberei fertigzuwerden. Russland ist introvertiert in seinen Möglichkeiten und extrovertiert in seiner Hilflosigkeit.
Der Held besteht eine Prüfung nach der anderen. Bin ich gegen diese Prüfungen, dann breche ich aus dem Märchen aus in einen nicht existierenden Raum. Das Märchenpersonal, die Helfershelfer und Saboteure – der Pope, der Soldat, der Abgeordnete, der Zar, der Kaufmann, der Räuber, der Milizionär, der Deutsche, der Moskauer Bürgermeister, die Hexe Baba Jaga, die Drachenschlange Gorynytsch, die Steuerbehörde, das Luder, die Ehefrau, der Chef, der Ukrainer – haben ihren Platz, vor mir und nach mir.
Ich trete in eine Welt ein mit maßgeschneiderten Symbolen. Ich tue so, als könnte ich die illusorische Welt durch eine illusorische Handlung verändern. Damit erfülle ich meine märchenhafte Mission, und das ist eine echt russische individuelle Existenz, die niemand an meiner Stelle leben wird. Ich verwandle mich entweder in einen Helden oder in einen Antihelden oder einfach in einen märchenhaften Passanten. Vom Helden zum Opfer ist es nur ein Schritt, und schon verliert man den Boden unter den Füßen.
Die Prüfungen kann man nur mithilfe verschiedener Methoden bestehen, ansonsten überlebt man nicht: durch List, Betrug, Geschick, Mut, langen Atem. Aktiviert werden gegensätzliche Qualitäten, deren Verknüpfung gerade die russische moralische Welt ausmacht, die mit nichts zu vergleichen ist. Mit einem derartigen Ehrenkodex ist es schwer, Regeln für perfektes Verhalten aufzustellen. Einzige Abkehr vom Märchen kann rigorose Askese sein.
Gewaltsamer Tod ist Teil des Szenarios, aber nicht als Tragödie, sondern als Unausweichlichkeit, und Baba Jaga wird niemals ihre Rolle im Leben reflektieren, andernfalls ist sie keine Baba Jaga mehr. Es gibt ein Gleichgewicht der Magie. Auf dieser Erde sind die märchenhaften Begriffe zusammengefallen mit historischen Anforderungen. Alles auf Anfang. Die Geschichte Russlands ist kein Heraustreten aus dem Märchen (wie bei normalen Menschen), sondern dessen stürmische Entwicklung. Die neuesten Realitäten werden sofort wieder in einen märchenhaften Wortschatz verpackt. Es ist schon seltsam, nach der Literatur des 19. Jahrhunderts von der Unfähigkeit der Russen zur Selbstanalyse zu sprechen, aber so ist es. Die Rus ist voller Tante Njuras.