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VIKTOR JEROFEJEW Mein skandalösestes Buch

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Aber das ist der Blick von außen. Ich bin längst zu dem Schluss gelangt, dass nicht Autoren Skandale auslösen, sondern eine Gesellschaft, die nicht bereit ist, ein Buch anzunehmen. Doch mit der Zeit verändert sich die Gesellschaft, und plötzlich werden Flauberts Madame Bovary oder Nabokovs Lolita zur literarischen Norm.

Nichtsdestoweniger liegt hier ein ungewöhnlicher Roman vor Ihnen. Es ist ein gnadenloses Buch. Für mich ein Wendepunkt. Bevor ich mit dem Schreiben begann, glaubte ich aufrichtig an die Möglichkeit einer multikulturellen Zivilisation, einer universellen Idee der Menschlichkeit. Ich träumte von einer multikulturellen Welt und negierte die religiös geprägte ideelle Dominanz einer nationalen Mentalität. Auch jetzt noch möchte ich zu dem romantischen Projekt zurückkehren, in dem gemeinsame Werte triumphieren, doch die Welt ist dafür nicht bereit, und ob sie überhaupt je dazu fähig sein wird, weiß ich nicht.

Dieses Buch hat seinen Autor zerrissen. Daher ist es auch in formaler Hinsicht ungewöhnlich: fragmentarisch, mosaikhaft, »zerrissen«, streckenweise scheinbar formlos. Doch es ist eine trügerische Formlosigkeit. In Wahrheit reflektiert die Form des Buches den Aufstand des Autors gegen seine Illusionen.

Es ist eine lyrische Erzählung über Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion, aber das ist nicht alles. Der Held meines Romans erkennt, dass der Untergang des kommunistischen Totalitarismus den Menschen nicht von der Unvollkommenheit seiner Natur befreit. Der Staat geht unter mit der Illusion, alles sei seine Schuld und wir seien seine Opfer. Dabei haben die Opfer ja selbst diesen Staat geschaffen, und nun, da er zerfallen ist, müssen wir die Verantwortung für unser Leben übernehmen. Doch wir erweisen uns als unfähig dazu. Schließlich haben wir seit jeher keinerlei Erfahrung damit, und außerdem setzen sich allzu oft die schlechten Eigenschaften durch.

Mein Held ist ein aufrechter Mensch. Er will nicht in dieser Welt leben. Nein, er hängt sich nicht auf und vergiftet sich nicht. Er, der Ich-Erzähler, beschreibt einfach diese Welt, ohne zu beschönigen. In sein Blickfeld, ins Epizentrum seiner ätzenden, bisweilen giftigen Analyse geraten verschiedene Zivilisationen, vor allem aber Russland.

Er zeigt, dass die größte Bedrohung für Russland die Macht des Grauen ist. Dem Grauen – dieser für mich wichtigen Figur des Buchs – wohnt eine besondere, mächtige und irgendwie sogar heilige historische Verderbnis inne, die gerade das Geheimnis Russlands ausmacht. Manche haben in dem Grauen die Züge der aufziehenden Herrschaft Putins entdeckt. Ich weiß nicht, das müssen Sie selbst entscheiden. Ich bin nur der Autor dieses Buchs und nicht dessen allmächtiger Kommentator.

Der Ich-Erzähler hasst die Bedrohung durch einen neuen, skrupellosen, höhnisch lachenden russischen Imperialismus. Er glaubt: Ist die Sowjetunion am Ende, reihen wir uns ein in die europäische Völkerfamilie, denn unsere große Kultur hat zweifellos europäische Wurzeln und Züge. Unsere Nachbarn, die einst zu Russland gehörten, Finnen, Polen, Balten – sie alle haben sich doch eingereiht, wenn auch jeder auf seine Weise. Und auch wir werden das tun. Doch das Gegenteil ist geschehen. Uns hängt, wie sich herausstellt, ein historischer Stein am Hals. Er zieht uns in den Abgrund. Wir sind gegen Multikulturalität, wenden uns ab von Europa, verdammen seine Werte. Mein Held erkennt das schon vor Beginn der Regentschaft Putins, Ende der 1990er-Jahre, noch unter Jelzin.

Dieses Buch hat in Russland wütenden Hass hervorgerufen, und das tut es bis heute. Wegen dieses Buchs stand ich zweimal mit einem Bein im Gefängnis. Das erste Mal war es ein Verein, der sich als Kämpfer gegen illegale Einwanderung verstand und Klage gegen mich einreichte. Natürlich waren das Ultranationalisten. Ich wurde von der Staatsanwaltschaft eines Stadtbezirks von Moskau vorgeladen, um meine Aussage zu machen. Der hagere junge Staatsanwalt erklärte mir, er erhalte wegen meines russophoben Buchs täglich neue Anzeigen von verschiedenen Organisationen. In den sozialen Netzwerken brodelte es: In den Knast mit dem Russenhasser! Während der Staatsanwalt mit mir sprach, blätterte er in meinem Buch und verharrte bei dem kurzen Kapitel »Gericht«. Es besteht aus nur einem Satz: »Das russische Gericht ist schrecklicher als das Jüngste Gericht.«

»Wissen Sie, Sie haben Recht«, sagte er nachdenklich.

Natürlich stellte er das strafrechtliche Verfahren gegen mich ein. Die oberen Instanzen, wohl einschließlich des Kremls, fanden, weitere Ermittlungen wären eine allzu große Reklame für das Buch.

Doch kaum hatten mich die Nationalisten in Ruhe gelassen, befasste sich mit mir, Sie glauben nicht wer: meine Alma Mater. Genauer gesagt, die Philologische Fakultät der Staatlichen Universität Moskau. Ich habe seinerzeit mein Studium an dieser Fakultät absolviert und sie in guter Erinnerung. Ich beschäftigte mich dort mit Chlebnikow und Dostojewski. Tauchte ab in die Unibibliothek, wo ich Berdjajew, Schestow, Samjatin, Pilnjak las – damals noch verbotene Autoren.

Und plötzlich, nach so vielen Jahren, schreiben 19 Professoren dieser Fakultät einen Brief, in dem sie fordern, mein Buch zu verbieten, aus den Buchläden zu verbannen und den Autor zu einer saftigen Strafe zu verurteilen. An erster Stelle steht die Dekanin der Philologischen Fakultät, eine Frau mit dem sprechenden Namen Remnjowa – Riemen, Peitsche.

Doch diesen traurigen Sadismus gegen meine Person boykottierte einer der Philologieprofessoren, der erklärte, er habe den kollektiven Beschwerdebrief nicht unterschrieben. Die Folge war ein interner Skandal. Die Sache verlief im Sand. Die Remnjowa bewarf mich weiter mit Dreck. Doch ich, fasziniert vom Gebaren meiner Alma Mater, durfte schon erleichtert aufatmen.

Glauben Sie den Moskauer Professoren nicht! Sie werden nichts Russophobisches in diesem Roman finden. Da gibt es Verzweiflung des Helden über die Schwächen unserer russischen Mentalität, darüber, dass unser Volk mit Demokratie nichts anzufangen weiß. Aber ich meine, der ganze Roman ist durchdrungen von Liebe zu meinem Land. Und auch der Humor darin ist eine wichtige positive Figur (wie in Gogols Die Toten Seelen).

Doch der Roman bleibt nicht bei den Problemen in Russland stehen. Diverse fantastische Visionen führen den Helden nach Amerika und Europa. Er hat ausländische Geliebte. Die eine ist die Französin Cécile. Die andere ist Amerikanerin, die er »Große Häsin« nennt. Aber die größte Liebe ist eine schrille, exzentrische junge Russin mit ihrer ganz eigenen Sexualität und ihrer Vorstellung von Politik, Schönheit und der Ordnung der Dinge.

Mein Russland – das ist das Russland, das selbst in der schwersten Stunde fähig ist, von sich zu erzählen, von seinem Verfall, seinem Niedergang und seinen teils unerfüllbaren Träumen, von seiner Wiedergeburt. In diesem Buch steht der Autor an der Schwelle des Putin-Regimes. Es hat noch nicht begonnen, aber seine Züge sind schon erkennbar. Das Scheitern einer multikulturellen Welt wird von verschiedenen Seiten beleuchtet. Ich habe mich von den romantischen Illusionen losgesagt, aber ich gebe gerne zu, dass sich für mich die europäischen Werte (die in Europa den strammen Linken oder Rechten als Falle oder leeres Geschwätz erscheinen mögen) aus der Entfernung, von Moskau aus gesehen, als die Grundlage eines freien Lebens darstellen. Russland ist heute weit von ihnen entfernt, steht ideologisch Europa feindlich gegenüber (in diesem Buch mache ich keinen Hehl daraus), doch sollte es überhaupt eine Zukunft für Russland geben, dann hat sie europäischen Inhalt.

November 2020

Enzyklopädie der russischen Seele

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