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Zielscheibe

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Ich bin eine Zielscheibe. Ein lebendiger warmer Klumpen, der gebückt über ein Feld rennt. Wer Lust hat, schießt auf mich. Mein Gesicht schmutzig und verschwitzt, die Kleider verdreckt, die Schuhe zerrissen, Blut unter den Fingernägeln. Vermutlich ein wahnsinniger Anblick. Keine Zeit und keine Kraft, um über mich selbst nachzudenken. Ich renne. Ohne jede Hoffnung auf Erfolg.

Einmal betrachtete ich vorrevolutionäre Fotografien in einem schönen englischen Bildband und ertappte mich bei dem schlichten Gedanken, jeder der hier Abgelichteten würde schon bald Zielscheibe eines Unglücks sein, das jeden aus der Bahn werfen würde. Bärtige Männer von der Wolga mit Glotzaugen, aufgetakelte Kaufmannsfrauen aus dem Moskauer Stadtviertel Samoskworetschje, ihre pöbelhaften speichelleckerischen Kommis im Schlepptau, der Imperator auf einem Baumstumpf, Nabokovs Vater mit erstaunt gerunzelter Stirn wie alle Liberalen, vier Tennisspielerinnen mit eiförmigen Tennisschlägern auf ihrem Charkower Landsitz, Offiziere, die in ihrer Freizeit über das Journal Das russische Wort diskutieren, Dorftrottel, die ins Objektiv schielen – allesamt wie geschaffen zum Leiden, ungeachtet ihrer Sorglosigkeit steht ihnen das Leiden schon ins Gesicht geschrieben. Mehr noch, die Bereitschaft zum Leiden. Keinerlei Widerstand, vielmehr zackiger Pioniergruß. Bereitschaft zur Erniedrigung. Zum Märtyrertod.

Ich empfand eine seltsame Unruhe. Eine solche Lesart der Fotografien wäre verständlich, würde man das Wissen um die Zukunft in Betracht ziehen. Aber ich konnte mich nicht von dem Gedanken lösen, dass zukünftiges Leiden in meinen Landsleuten schon objektiv vorhanden war, wer auch immer sie waren, unabhängig von ihrer Bosheit, Liebe und Anschauung, unabhängig von mir.

Auf den Gesichtern lag der Schatten des Opfers, weitaus stärker noch als der Schatten des Todes, der in einer jeden Fotografie naturgemäß vorhanden ist. Ich dachte: Der Vorhang lüftet sich. In Russland existiert eine besondere Zugabe zur gewöhnlichen Sterblichkeit, und sogar in einem harmlosen Fotoalbum sind die russischen Gesichter schön durch jene Ausdrucksstärke, die nur ein gewaltsames Ableben gewährleistet. Ihre Durchsichtigkeit, ihre Blässe wie der Widerschein einer Totenmaske, eines demütigen Daliegens im Sarg mit zerschossenem Gesicht, stellen einen schönen Kontrast dar zur Selbstgefälligkeit fremdländischer Physiognomien. Und auf unseren besten einfühlsamen Porträts, bei Kramskoi zum Beispiel, entdeckt man ein sich am Leiden Ergötzen.

Die Zukunft war angelegt, durchschaut und vorgestellt, sie musste nur noch eintreten. Und eben weil sie in den Russen gegenwärtig war, konnte sie möglich sein. Alles kam zusammen.

Ein Windhauch lässt uns erschauern. Russe sein heißt Zielscheibe sein. Die Opferbereitschaft der Opfer ist auch eine Funktion in einer Welt, in der wir von anderen Verpflichtungen befreit sind, die wir, wenn es denn sein muss, schlampig, flüchtig und nebenbei erfüllen. Es gibt seltene Perioden, in denen die Russen ihren Passivmodus vergessen und anfangen, andere Völker in ihrem schöpferischen Beginnen nachzuahmen, irgendetwas zu bauen, nach irgendetwas zu streben. Jedes Mal endet das kläglich. Das russische Leben ist dazu angetan, die Menschen vom Leben abzulenken. Der Widerstand der erstarrten Mutter Russland unterstreicht nur ihre Bedeutung. Russland muss sein, wie es ist, ebenso wie der Ekklesiastes der Ekklesiastes ist, also eines der Bücher der Bibel.

Davon abgesehen, dass Russland seine reine, äußerlich christliche Erfahrung an andere Länder mit anderer Bestimmung weitergeben wollte, und darum quälte es sie lange und vergeblich.

Unter den gegenwärtigen Bedingungen wirkt Russland verloren, steht auf der Verliererseite im Verhältnis zum Rest der Welt, wo das aktive Beginnen auf organische Weise erklärt wird. Russland indes ist geschaffen für Gebet, Schwermut und Unglück. Russland ist eine Art Land, das menschliches Unglück produziert. Historisch gesehen sind alle Bedingungen gegeben, dass unser Land ununterbrochen unglücklich sei. Die russischen Regierenden bewältigen getreulich ihre Aufgaben, welcher Orientierung auch immer sie angehören. Russland ist gut im Entwerfen utopischer Projekte, die offenkundig nicht zu verwirklichen sind und deren Umsetzung viele Opfer fordert. Mehr kann man kaum erwarten, nicht einmal von einem so großen Land.

Wie jedes andere Land muss man auch Russland nach seinen eigenen Ressourcen und dem endgültigen Resultat beurteilen. Mag auch das Resultat vom Standpunkt des Westens negativ aussehen. Mag es auch aus östlicher Sicht seltsam sein. Aber in Russland existiert eine positive Unfähigkeit zu einem sogenannten normalen Leben. Jeder Zar hat seinen Rasputin. Russland hat die Extreme der menschlichen Natur demonstriert und die Vorstellung von einer goldenen Mitte zerstört. Es hat die Unmöglichkeit der menschlichen Freiheit gezeigt. Man muss ihm einfach Respekt zollen für seine Treue gegenüber sich selbst.

Nach wie vor ist der Stil der Schriftsteller, die über Russland schreiben, vorwiegend bestimmt von mitfühlender Gefühlsduselei. Der Fehler sowohl der Westler als auch der Slawophilen besteht darin, dass sie Russland Glück wünschen. Seit Tschaadajews Zeiten haben berühmte Persönlichkeiten also Unrecht mit ihrer tief verwurzelten Sorge um die verzweifelte Lage des eigenen Staates. Die Angst vor der Angst, die Furcht davor, mit Genuss tief in sie einzutauchen, ist der Mehrheit der russischen Intelligenzija eigen. Die ewige und hilflose Idee, Russland gegen seinen Willen am Schopf herauszuziehen, begegnet einem in der Literatur auf Schritt und Tritt und wird allmählich zumindest lästig.

Sie alle wollen ein glückliches Russland mit leckerem Festtagsbrot, Osterkuchen und Stör auf dem Tablett serviert haben. Sprotten in Tomatensoße sind nichts für sie. Zumindest sind Sprotten nicht ihre Idealvorstellung.

Russland ist zweifellos ein gefährliches Land. Aber hier muss man Nietzsche zustimmen, der dazu aufruft, »gefährlich zu leben«. Ein Aufschimmern entschiedenen Nationalbewusstseins, eine Mischung aus Peitsche und süßlicher Bigotterie sehe ich beim späten Gogol, doch nicht einmal er hatte genug Kraft, den Gedanken zu Ende zu führen. Verräter und einige Ausländer haben sich aufrichtig bemüht, Russland als Land des Bösen und des Unglücks darzustellen, aber sie haben das nur aus politischem oder touristischem Interesse getan, und darum waren sie nicht konsequent genug. Wir zucken jedes Mal zusammen bei neuen Beweisen dafür, dass hier jeder eine Zielscheibe ist. Doch es kommt die Zeit, da das Land der wandelnden Zielscheiben sich als nicht konkurrenzunfähig erweist und die Arbeit aller, die auf Angst und Opferbereitschaft basiert, die ständigen Neustarts nicht mehr aushält.

Wenn man in dem Stil weitermacht, wird das »Legoland« mit Namen Russland vermutlich vom Erdboden verschwinden. Wie das antike Hellas, dessen Götter sich in erbauliche Spielsachen verwandelten. Eine Parallele zwischen Griechenland und uns ist ein nicht besonders heiliger Geist. Griechenland verbrannte durch religiösen Formalismus, Russland brennt durch formale Religiosität.

In der Ökonomie des menschlichen Geistes wird der Verlust Russlands unersetzbar sein, nicht weniger, aber auch nicht mehr als das.

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