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Feind des Volkes

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Gegen Morgen erwachte ich wie vom Donner gerührt mit dem deutlichen Gefühl: Ich bin ein Feind des Volkes. Die Deckenlampe schaukelte verdächtig hin und her. Ich dachte: Ich habe wohl doch einen über den Durst getrunken. Vor lauter Aufregung angesichts der Begegnung mit der Staatsmacht. Wir tun alle nur so, als ob die Staatsmacht uns kalt ließe. Beunruhigt sprang ich aus dem Bett, lief zum Spiegelschrank und schlug mir auf beide Wangen meines verschlafenen Gesichts. Aus dem Spiegel blickte mich mürrisch die ungewaschene Visage eines Volksfeindes an.

»So, genug ist genug!«, beschloss ich. »Alles im Arsch oder alles auf Anfang! Entweder oder.«

Um ehrlich zu sein, habe ich auch früher schon mit dem Volk nichts am Hut gehabt, ich habe nie eine Träne verdrückt ob meiner Zugehörigkeit. Ich kenne Momente, in denen ich am Volk misstrauisch geschnüffelt habe, in denen ich sogar Übelkeitsattacken hatte. Aber ich bin damit fertig geworden und habe weiter gelebt wie alle, in der dumpfen Hoffnung auf irgendetwas.

Nun stellte sich alles anders dar. Ich legte mich wieder hin, schlief deprimiert ein, schlief lange, traumlos, erwachte mittags: Und immer noch war ich ein Volksfeind. Aber nicht im Sinne unserer Vorväter, als wäre ich ein Konterrevolutionär. Oder als ob man mich verleumdet hätte. Ich habe nie an die Unschuld der Opfer geglaubt: Der Mensch ist immer mit irgendetwas unzufrieden, und das kommt ans Licht. Aber ich spürte durch und durch, dass niemand anderer als ich selbst mich zum Volksfeind erklärt hatte; so etwas ist irreversibel.

Was für ein Zustand das ist? Ich möchte mir nicht zumuten, ihn in allen Einzelheiten zu beschreiben. Er war eben erst in mich eingedrungen und begann mich zu erfüllen. Er ist nicht durch flammenden Hass gekennzeichnet, bei dem man schreien will und alles zum Teufel wünscht. Wut ist eine banale Gefühlsäußerung. Dagegen ist die Todesstrafe eine love story. Hier aber war es wie nach einem Sturm. Der Herbstwind bewegte sanft die Vorhänge. Mit der eintretenden Abkühlung der Empfindungen wuchs die Verachtung. Ein ruhiges, kein brennendes Gefühl.

Ich hatte Lust, es mit Sport und Gleichgültigkeit zu unterdrücken. Ich stieg ins Auto, um auf den Sperlingsbergen meine üblichen vierzig Minuten zu joggen. Ich trabte dahin und dachte: Finde dich ab. Finde dich ab: da, Dolden von Vogelbeeren. Der Fluss, ein Lastkahn, die Tribünen, der Glockenturm – finde dich ab. Nicht mehr ganz junge Offiziere, die einen ihrer routinemäßigen Ausdauertests ablegten, hüllten mich in ihren Schweißgeruch ein – halt dir die Nase zu und finde dich ab. Kurz vor ihrer Zielgeraden kam der Oberaufpasser auf mich zugeschossen und brüllte:

»Schon wieder Letzter!«

»Schlimmer als das!«, sagte ich zu dem Oberst und warf das Handtuch.

Ich bin ein Volksfeind. Kein schönes Gefühl und kein Grund, stolz zu sein. Zum Gefühl der Verachtung gehört weniger Hochmut als vielmehr Hoffnungslosigkeit. Nach einigem Nachdenken kam ich zu dem Schluss, dass ich nicht einmal einen konkreten Anlass hatte. Gestern, auch in der vorigen Woche, hatten die Russen nichts Außergewöhnliches angestellt. Sie waren nicht auf der »Aurora« in die Mitte des Flusses gefahren (obwohl es sie in den Fingern gejuckt hatte), sie hatten keinem Säugling die Kehle durchgeschnitten (obwohl sie das hätten tun können). Sie lebten wie immer, tranken Bier, aber ich konnte mich schon nicht mehr damit abfinden.

Das bedeutet nicht, dass ich plötzlich heftige Abneigung gegenüber bestimmten Leuten empfunden hätte: gegenüber dem zurückhaltenden Onkel Serjoscha aus Piter, den ich lange nicht gesehen hatte und, fürchte ich, gar nicht mehr wiedererkennen würde; Soja Jefimowna, die ihr Leben lang Majakowskis Gedichte mochte; gegenüber meinen Cousinen Bjelka und Strjelka, die in verschiedenen Städten lebten und sich Kinder angeschafft hatten, die ich nicht kannte; gegenüber Tante Slawa, der verarmten Buchhalterin mit gigantischen Ausmaßen, die von Zeit zu Zeit mit zugequalmter Stimme telefonisch darum bittet, dass ich sie auf meine Kosten beerdige. Tolstoi war immer noch der Autor von Krieg und Frieden. Fürs Erste jedenfalls standen die Säulen Russlands noch an ihrem Platz.

Lediglich ein Pronomen hatte eine Metamorphose durchlaufen, das abgegriffene Wörtchen »wir«. Gleichwohl ist »wir« der Nikolai II. des russischen Wortschatzes. Es ist illusorisch, zu meinen, unser »wir« bestehe aus der Summe eigenständiger »ichs«. Das russische »ich« ist als einzelnes Element nicht lebensfähig und existiert ausschließlich in der Keimzelle Familie. Das heißt, nicht das »ich« prägt die Idee des »wir«, sondern das »wir« ist manifest und sprachbildend. Das »wir« gebiert Bastarde von »ichs« wie kleine Kartoffeln. Alle Kräfte der russischen Rechtschreibung stehen auf der Seite des »wir«, und wie viele literarische Qualen auch immer in die Entwicklung des »ich« investiert wurden, sie rentieren sich nicht mangels grammatischer Reserven. Man nehme zum Beispiel nur Platonows unbewussten Gebrauch des »wir« und Nabokovs widerborstigen Gebrauch des »ich«, um die unterschiedlichen Potenziale zu erkennen. Das »wir« kann man anbellen wie Samjatin, über das »wir« kann man kichern wie Olescha, aber das »wir« besitzt eine autokratische Qualität, bekannt unter dem Namen »Volk«.

Das russische Wort für »Volk« – »narod« – ist einer der präzisesten Begriffe der russischen Sprache. Er impliziert eine zweifache Übertragung der Verantwortung: vom »ich« auf das »wir« und vom »wir« auf (na) den Stamm, das Geschlecht (rod): »wir-sie«, Außen-Innen-Faktor, ewige Suche nicht nach Selbsterkenntnis, sondern nach Selbstrechtfertigung. Das Wort »narod« hat das russische Volk auf ewig zementiert.

Ungeachtet aller Unterschiede zwischen den sozialen Schichten und Generationen, Geschlechtern und Regionen sind die Russen eine Gemeinschaft mit Knute und Peitsche geprügelter Nachfahren. Die Russen sind Kinder der Folter. Dort, wo die Besonderheiten individuellen Lebens auf Kosten des gemeinschaftlichen Lebens gedeihen, ist »Volk« eine Metapher oder überhaupt ein nicht existierendes Wort. In unserem Land transportiert es die Essenz der Ungerechtigkeit.

Von Anfang an war ich verwirrt und hatte massenhaft Schuldgefühle. Eben jenem »Volk« gegenüber. Doch die Russen, die Eigenverantwortung mit Eigenmächtigkeit verwechseln, haben sich in einen klebrigen Klumpen verwandelt, der rollt und rollt und nicht zum Stehen kommen will, immer weiter abwärts eine schiefe Ebene hinunter, unter Ausstoßung von Flüchen, Parolen, Hymnen, folkloristischen Schüttelreimen, Ohs und Ahs und nationalistischem Pathos. Als ich erwachte, erkannte ich das Volk an der allgemeinen, wie in einem Eintopf köchelnden Stimmung wieder. Penner, Intelligenzija, Fatalismus-Vertreter – alles eine Soße.

Ich schaltete den Fernseher aus. Ich hörte auf, mit den Unseren zu fiebern.

Enzyklopädie der russischen Seele

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