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Waldbewohner oder Transhumanist – Somewhere oder Anywhere?

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Tendenziell liebäugelte Gandalf eher mit der radikalen Praxis des Neotribalismus. Zwar strebte er im Kern eine kummunitaristische Gemeinschaft an, schloss langfristig die Beteiligung an Aktionen, die den Zerfall des erschöpften Systems beschleunigen würden, nicht kategorisch aus. Zum Erhalt der Lebensgrundlagen, seien diese auch noch so primitivistisch motiviert, gehöre der gesunde Widerstand eines jeden Stammesmitglieds gegen destruktive Außenmächte, sofern diese das Erblühen der Gemeinschaft bedrohten oder gar zu unterdrücken versuchten. Somit war für Gandalf geklärt, inwieweit diverse Arten des Verlusts ( ja selbst die von jeglichem Glaube abgefallene Weltsicht der sogenannten modernen Gesellschaft mit ihren krankhaften Verfeinerungs-tendenzen, die Abkehr vom Glauben an die Säkularisierung mit endfinalem Pathos zur Überschätzung demokratischer Werte und folglich auch die ganze Politikverdrossenheit, genährt durch die entgrenzten Interessen dem Gemeinwohl entkoppelter Großindustrien) erst zu dieser innovativen Rückbesinnung des aufkeimenden Primitivismus geführt hatten und folglich für dessen Heraufkunft zur Verantwortung heran gezogen werden mussten. Zur Abtrünnigkeit und schließlich zum endgültigen Ausstieg ganzer Volksschichten würden die heutigen Entwicklungen seines Erachtens nach bald führen. Langfristig würde eine gewaltige Umlagerung von Wert und Besitz unausweichlich stattfinden. Hinsichtlich dieser beeindruckenden, da gleichsam verschleierten Werteverschiebung, sei die derzeitige Umrüstung des Analogen ins Digitale ein reines Kinderspiel. Ein Nebeneffekt, den die Mehrheit als einen ihr Leben erleichternden Zugewinn geltend mache. Doch aus gesamt-philosophischer Sicht ergäbe sich für die Gesellschaft einfach kein zurück mehr. Folglich hielt er auch nicht viel von Maffesolis postmodernem Nomadentum, wenngleich er dessen Annäherung an die soziale Frage durchaus akzeptierte - er selbst wähnte sich bereits angekommen. Das selektive Prinzip der Somewheres und Anywheres hielt er für ein enorm gefährliches neuartiges Vergesellschaftungsprinzip abgehobener Gefühls-Ästethen, die die Gesellschaft mit ihren perversen Phantasien in zwei, sich konträr gegenüberstehende Klassifizierungen des zukünftigen Menschen zerteilt. Wer derart innovativ und sektiererisch zugleich denke, der durchschnitt in Gandalfs Augen blindlings das aus natürlichem Material geflochtene Seil, das Tier und Übermensch bis dato wenigstens noch im materiellen Sinne verband.

„Nun geht der Technisch-Versierte daher, seziert und operiert am Naturzustand herum, durchtrennt das Seil und wähnt sich auf der richtigen Seite - die der Zukunft. Er erklärt den ortsansässigen, mit der Scholle verwurzelten Mensch zum Tier, also zu einem Untermensch, der der überholten Vergangenheit angehöre, während er selbst, den Herausforderungen technischer Innovation folgend, sich als omnipotenten Weltenretter und bevorzugt durch ein gestaltetes Morgen strömenden Anteilnehmer verstehen will, der überall und nirgendwo unter hocheffizienter Flexibilität sein Zuhause zu installieren wisse.

Sollten sie doch in ihm einen hängengebliebenen Somewhere sehen. Ihn würde man nicht so schnell vertreiben. Vor allem nicht die der Technik verfallene Zukunftsvision weltverbesserischer NGOs, gefolgt vom Angebot durchgeknallter, milliardenschwerer Schirmherren und Weltenretter. Heimat war für ihn noch lange kein Auslaufmodell, beworben von irgendwelchen verlorengeglaubten, dem Gestern nachtrauernden Somewheres. In der steten Entfernung von Heimat und Boden lag für ihn keine Zukunft. Ein leeres Versprechen war diese weitere Entfremdung von Mensch und Natur hin zum Typus des unabhängigen, multilateral agierenden Anywheres, der zur Erholung gelegentlich einen auf geerdeten Somewhere machte.

Und auch die moderate Tendenz des Neotribalismus konnte ihn ehrlich gesagt mal kreuzweise. Kreuzweise konnte ihn auch der Pfaffe zu Oberstaufen, der Bürgermeister, der Förster, die Jäger, die Almgenossenschaft - sie alle waren schlichtweg blind. Blind für das Eigentliche. Doch die Menschen, sie hatten nun einmal unterschiedliche Vorlieben. Ein Blinder würde gerne sehen, während ein Sehender nur selten erblinden mochte.

All diese frühgeschädigten Interessen blinder Menschen, die naturgemäß auch die subkulturellen Aussteigerkulturen mit ihrer Destruktivität befielen und regelrecht zum Scheitern zwangen und dabei große Töne von einer glanzvoll sicheren Zukunft spukten, in der wir doch alle an einem Strang ziehen würden – in alledem erkannte er einen gewaltigen Schwindel. So gesehen bedeuteten ihm all die schönen Reden dieser schwer gebeutelten Leute, die sich bei ihm einfanden, meist nichts weiter als es auch schlussendlich Maffesolis theoretisches Schwärmen vom neotribalen Siegertypus tat. In seinen Ohren nichts als leere Phrasen.

Der Anywhere, der hier und da, wenn es ihm danach ist - etwa im Urlaub oder auf kreativer Exkursionsreise zum Erwerb altem Wissens und zur Erlangung neuer Ideen - einen auf Somewhere macht und der Somewhere, der gelegentlich finanziell vom Retro-feeling des Anywheres zerrt und zugegeben auch liebend gern ein Vollblut-Anywhere wäre - das war also das Arrangement für ein zukünftiges Miteinander. Ihr Plan für ein besseres Morgen.

Von der Kulturindustrie gesteuerte Konsumenten mussten seiner Ansicht nach erst zu wahrer Menschwerdung finden. Und um diese Leistung zu vollbringen musste man nicht zwingend ein Anywhere sein. Im Gegenteil. Als Somewhere hatte man sich vermehrt im Verzicht zu üben, während man als sogenannter Anywhere eben ein Lebtag lang in seiner Bevormundungslogik verharrte, überall und nirgendwo sich einzurichten wusste und somit mehr und mehr den Draht zur Herkunft einbüßte und dabei das Leben anderer gefährdete, daran herumzerrte und dabei das für einzig richtig empfundene Leben erwartete.

Und wenn wir schon dabei sind: Satt hatte Gandalf auch das Freihandelsabkommen, den kalten Krieg der digitalen Umstrukturierung, heuchlerische Empörung der Massen sowie der verantwortlichen Eliten, ohnmächtiges Gejammer besagter Opfer, Kleinmut und Niedertracht, falsche Empörung und Humanismus, all das etabliert blinde Gesinde eines verlogenen, an sich selbst sterbenden Gesterns, das obendrein auch noch vom Anywhere-Dasein schwärmte wie Maffesoli vom postmodernen Nomaden.

Und erst dieses Wischi Waschi aus Alt und Neu. Nein. Auch mit dieser Vermischungs- und Green-Washing-Kultur konnte er nicht mitgehen. Auch er habe zulange am Versuch des Einens schier unvereinbarer Gegensätze festgehalten und zu lange gehadert. Nun aber war er sich sicher: Altes hatte sich bewährt und würde diesen Vorzug vor so mancher Innovation auch weiter leisten. Altes hatte sich schließlich bewährt. Zu synkretistisch kamen sie daher, diese milden Versöhnungs- und Verbrüderungsversuche zwischen Gestern und Morgen, Alt und Neu. Ob in der Produktion von Gütern, der Architektur, der Philosophie. Das neue war für ihn einfach noch zu formal und zu unbewehrt. Und der Mitte zugewandte Sinnesverschmelzungen führten sowieso unweigerlich zu diversen Legierungen, was nicht immer förderlich sei. Entweder überlebt zuletzt der Hybride, die Mischkultur oder die Reinheit des allerhöchsten Fixstoffes. Aber das war nichts weiter als das ewig gestrige Prinzip überholter Rassenlehre und eben doch allzu nahe am Denkmodell postmoderner Eugenik angesiedelt. Hierin kam er nicht weit. Hierbei handelte es sich nur um eine unheilvolle Verschmelzung aus alten und neuen Ideologien. Diese verwirrende Logik der Verschmelzung von Altem und Neuem sprengte den Rahmen des Denkbaren wie die Unendlichkeit. Selbst noch die sichtbare Endlichkeit sprengte den Rahmen des Vorstellbaren. Wenn doch vereinfacht betrachtet alles eins war, dann war diese komplizierte These gleichzeitig nur schwer zu akzeptieren. Das musste er sich wieder einmal mehr eingestehen. Somewhere und Anywhere als ein im Kern einheitlich beschaffenes Seelenwesen zu denken überstieg schlichtweg seine derzeitigen mentalen Handlungsspielräume. Durchaus hätte er sich auch mit etwas primitiveren Aussichten auf ein etwas einfacher gestricktes Leben zufrieden gegeben. Unendlichkeit und Endlichkeit - beides unvorstellbare Artefakte menschlichem Unmuts und Strebens zugleich. Und obendrauf diese ewig wiederkehrenden und traurigen Konfrontationen mit den allzu menschlichen Erwartungen der neuen Mitglieder.

Gekommen war er um zu bleiben. Kein Unheil dieser Welt würde ihm sein Areal streitig machen. Kein Großindustrieller und kein Bürgermeister, weder identitätsnaher Jäger noch hyperaktiver Umweltschützer. Genau genommen erwartete er auch von den Mitgliedern diese Loyalität. Dass sie - würde es darauf ankommen - ihr Anliegen auch verteidigen würden. Sicher, in einer freigewählten Gemeinschaft konnte man derlei Forderungen nicht stellen und erst recht nicht von einem jeden Individuum unaufgefordert erwarten. Soweit die Crux. Auf Chorgeist und Binnenkultur setzten einst die Stammesfürsten. Er war jedenfalls angekommen. Und zu einer Enteignung von Land und Besitz würde es nicht kommen.

Damals - als er noch bei seinem bürgerlichen Namen genannt wurde - wollten ihn seine Studienkollegen als WG-Mitglied für sich gewinnen. Nichts zu machen: Mit Fertig-Pizza mampfenden Trotteln wollte er schon damals nicht die Küche teilen. Und erst recht nicht die Toilette. Derlei löbliche Eigensinnigkeiten hätten ihn schon damals nahezu in die Vereinsamung getrieben, hätte er nicht rechtzeitig seine fehlerhafte Gesinnung erkannt. Man musste den privaten Raum bis aufs Äußerste öffnen, ihn ins Öffentliche überführen, um sich schließlich von der Knechtschaft des Geistes zu befreien. Sein damaliger Sinneswandel jedoch war keineswegs mit Automatismus zu verwechseln. Ohne die Erkenntnis, Privateigentum auf ein Minimum reduzieren zu müssen, um schließlich das Bewusstsein in klärender Leere zu schärfen, wäre es niemals zu diesem Projekt gekommen. Ein Haus im Süden. Vielleicht eine rustikale Hütte in den Bergen. Ein Chalet. Reisen. Zerstreuung und gut. Aber dazu ist es nicht gekommen. Berufen war er.

Seine Eltern hatten sich an der konventionellen Landwirtschaft systematisch nieder geschuftet, was dazu führte, dass sich sein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn bereits in jungen Jahren festigen durfte und seinen Sinn für nachhaltiges Wirtschaften erst schärfte. Unmittelbar nach einem abgeschlossenen Agrarwirtschaftsstudium hatte er den elterlichen Hof übernommen, um, getrieben von übermütigem Eifer, auf biologischen Anbau umzurüsten, was für die Familie alles andere als ein leichter Schritt gewesen war. Doch dieser durch ihn begangene Schritt sollte über alles Weitere entscheiden.

Doch dieses Standbein war nun weggebrochen. Wie doch so vieles weggebrochen und Neues in sein Leben getreten war. Die vom Markt abhängige biologische Landwirtschaft hatte er, als das mit dem Virus begonnen hatte, von heute auf Morgen auf Eis gelegt. Innerhalb eines Jahres hatte er dann das ehemalige Bauernhaus, durch einen Kraftakt gewagter und tatkräftig angegangener Neuorientierung, in ein provisorisch ausgebautes Basislager für Neuankommende verwandelt.

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