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Emigranten des Geistes

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Bei Harry war ich mir da nicht so sicher. Mochte auch ihn das Unbehagen in der Hochkultur zu einem zurückbesinnten Leben in der Natur verdonnert haben? Harry war in seinem früherem Leben Theaterschauspieler gewesen, zuletzt auf einer Bühne in Stuttgart, bis Corona sein Ensemble einschmolz wie 5G-Sendetürme die Hirne letzter verbliebener Kleinbauernbestände. Wir alle tragen zuweilen Hirne mit uns herum, die schrumpeligen Sultaninen gleichen. Nun war er jedenfalls mit am Set, doch weshalb es ihn hierher verschlagen hatte, wollte sich mir nicht erschließen. Vermutlich war sein Beitritt maßgeblich motiviert durch die bedrohte Existenz seiner Schauspieler-Karriere. Eine Art existentieller Koller, welcher in erster Linie ledige, geschiedene oder schlichtweg überdrüssige, sich auf der ewig zerrenden Suche nach vitalisierenden Energien umher geisternde Charaktere befällt. Zudem - und das konnte man energetisch ohne jede spirituelle Vorkenntnis deutlich spüren - galt er der neugegründeten Gemeinde als der auserwählte Sündenbock, worin er tatsächlich eine fabelhafte, geradezu wie für ihn maßgeschneiderte Rolle einnahm. Er hatte sich vom fleißigen Scrollen und Wischen seines Touchscreens, sowie vom beschäftigten Zurückstreichen seiner grau melierten Kunstdarstellerlocken nicht wirklich befreit, was vielen Stammesgenossen ein Dorn im Auge war, indem sie in Harrys glatt-designtem Gebaren ihr ideell ausstaffiertes Zukunftsidyll mit dem infamen Einfluss der abgeschüttelten Vergangenheit konfrontiert sahen. Somit erfüllte auch er seine Funktion mit bravour.

Das Gesamtkonzept schien allen schlüssig. Gandalf bildete den Wegweiser, das Glaubensangebot. Seine derzeitige Vertraute, Margot, ehemalige Kulturbeauftragte, nun linke Hand - über allem subtil schwebend wie der zürnende Geist einer zur Ohrfeige ausholenden Muttersmutter - Firstlady des neuen Morgens, worauf dann annähernd hundert Individuen jeglichem Alters folgten, mehrheitlich deutsche Paare sowie ledige Frauen und Männer, darunter drei syrische Emigranten, vier Österreicher und ein Schweizer Pärchen.

Segregation, Integration, Assimilation und Marginalisierung bilden die vier Säulen, bzw. Formen der Akkulturation, welche die Migrationsforschung als das methodische Hinführen oder die individuelle Anpassung an eine bestehende Kultur definiert.

Wir fördern das was uns behagt, den Rest blenden wir aus. Selbstmarginalisierung steht der Assimilation an veränderte Lebensgrundlagen gegenüber. Eine kulturelle Adoleszenz jagt die andere. Ziellose Verwerfungen, Verschiebungen und Umlagerungen sind die Folge. Und wieder folgt eine neue Phase der Individuation. Unermüdlich ermüdend. Eine x-te verflixte Neugeburt folgt der soeben erst geborenen Idee, große Affekte und Gefühle wie pubertäre Omnipotenzphantasien. Der Schmerz, rührend aus der Trennung von psychischen sowie sozial umhegten Räumen der Kindheit, durchtränkt unsere heimatlosen Herzen, flutet überreizte Hirne leergefegter Ideologien. Eine ewige Adoleszenz, Heimatverlust, Existenzangst, drohendes Scheitern.

Auch ich war und bin ein postmoderner Hanswurst. Kulturpessimist, innerer Nomade und somit ewiger Adoleszenzler. Der Apfel fällt nicht weit von des Häuptlings Stamm. Deformierungs - sowie deutliche Umlagerungsprozesse hatten sich an Körper, Geist und Seele zu schaffen gemacht, worauf selbst meine Freiheitsdefinition unterjocht war vom klaffendem Zeitgeist. Wenn erst die Realität einem zerbrochenen Spiegel gleicht, dessen Scherben verstreut auf dem Boden liegen und der sich dem Begehen sowie Stehen unweigerlich entzieht, gar widersetzt, sich aufwirft, Risse bildet, alsbald jäh klafft, um sich daraufhin nahezu unmerklich zu verschieben, so fällt die Orientierung an Halt gewährender Fixpunkte durchweg aus. Ohne Fixpunkte aber trudelt der Mensch ins Leere. Diese Leere hatte mich, hatte Harry, hatte all die Darsteller auf der Bühne der Realität zusammengeballt, die Gandalf uns stellte. Ödnis hatte uns in das Reich blütenblättriger Hoffnungen geführt. Emigranten des Geistes, Randexistenzen, die auf ihrer 'Flucht', der Verschiebung ins Abseits, am Rand des Abbruchs tanzend, allein durch ihren puren Lebensdrang der grassierenden Gleichschaltung entgegen zu wirken versuchten, indem sie das Abseits zum Zentrum ihrer derzeitigen Auffassung für nachhaltige Lebenskunst avancierten.

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