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Neotribalismus

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Falls er sich recht besann, so musste es für ihn mit dem Rückbau des öffentlichen Wanderparkplatzes oberhalb der Buchenegger Wasserfälle seinen Anfang genommen haben. Es war nicht auszuschließen, dass die Auflösung der Parkmöglichkeiten den überstürzt angeordneten und als drakonisch zu erachtenden Maßnahmen zuzuschreiben war, welche die Regierung derzeit zur Bekämpfung der sogenannten Pandemie mit nationaler Tragweite erlassen hatte. Folglich sollte der Rückbau - wenngleich es sich hierbei um einen etwas unbeholfenen Hotspotbeseitigungsversuch seitens bajuwarischer Behörden handelte - dem Bevölkerungsschutz dienen und somit von Tagesausflüglern akzeptiert oder zumindest berücksichtigt werden. Durch die strikten Ausreisebeschränkungen hatte sich der diesjährige Tourismusstrom radikal umgelagert, worauf die süddeutschen Ferienregionen durch eine starke Frequentierung nie dagewesenen Ausmaßes belastet wurden. Dass diese unschuldig und perspektivlos anmutende Rückbaumaßnahme nur ein unbedeutend geringer Teilbereich in einem beispiellosen Sammelsurium irrationaler Prozesse und staatlich verordneter Grundgesetzbeschränkungen bilden dürfte, sollte mittlerweile den meisten Bürgern klar geworden sein. Man konnte den Menschen das Bedürfnis nach freier Bewegung nicht einfach austreiben, indem man die Infrastruktur der jahrzehntelang geförderten Ausbaumaßnahmen und Innovationen im Bereich der Freizeit- und Tourismusindustrie, kurzerhand zurückbaute. Der Auftakt eines aufkeimenden, in vielen Köpfen emporkommenden Phänomens war unlängst eingeleitet.

„Jüngst habe ich mich einem neotribalen Projekt angeschlossen. Zwar war der Initiationsritus - eine persönliche Unterredung mit dem Gründer des Projekts - alles andere als angenehm, musste seiner Ansicht nach jedoch vollzogen werden. Um die mir in den Augen des therapeutisch geschulten Initiators anhaftende Konditionierung im Innersten zu sprengen (Glaube an Eigentum, Bindung, Bildung, Erziehung, Familiensinn, Zweisamkeit als letztes Kleinod etc.). Aufgrund meines bereits zumindest ansatzweise gelebten Primitivismus wurde ich dann auch sogleich als außerordentliches Mitglied aufgenommen, was mir einen gewissen Vorzug versprach und vor allem die Einhaltung strenger Probezeit-Auflagen ersparte. Meine harte Arbeit an und bestenfalls mit den Elementen hat mir hierin wohl einen großen Vorteil eingeräumt. Die stehen hier regelrecht auf extravagante Gartenbauer. Ich versuche den Schein nicht gänzlich zu wahren, ihn aber auch nicht voreilig abzulegen. Stets verwechseln die Leute die Vorzüge des autarken Gemüsebaukults mit den Unerträglichkeiten lohnarbeitsgebundener Kreativitätsdienstleistung.

Und du versuche mich bitte nicht aufzusuchen. Es war und ist meine freie mündige Entscheidung! Fürs erste scheine ich angekommen zu sein in der lang ersehnten Gemeinschaft!

Ohnmächtig verschrobenes Einzelgängertum, panisch verkappte, intellektuell übersensibilisierte Individualisierung - Schnee von Gestern! Kein Raum mehr zum Trübsal-blasen. Dieses rückgratlose Rühren und Rudern im Leeren Raum, dieses innere degenerierte Gejammer - vorbei. Verzeih, du kennst meine Ausführungen. Individuelle Glückssuche kann auf Dauer zu enormen Verwachsungen führen. Auch ewige Sinnes-Drangsal, Eigendünkel, die Pein des Scheiterns, die daraus folgende Sinnesfinsternis und Selbstaufgabe. Alles nur allzu bekannte Instanzen. Diese pervertierte erkrankte Gesellschaft, deren Teil ich doch irgendwie bis zuletzt war, ist nicht zu retten, geschweige denn weiter durch mein Zutun - wie auch immer ein solches geartet sein könnte - zu unterstützen. Ist es nicht an der Zeit, sich elementar zusammenzuschließen, neue Wege zu begehen, indem man seinem verödeten Leben eine gesunde Dosis Gemeinschaftssinn hinzu träufelt, oder am besten gleich in Neotribalem Primitivismus einer archaisch anmutenden Stammessippschaft aufgeht.

Und die Frauen - sie zeigen sich offen wie schwingende Saloontüren. Und erst die Bärte der Männer... sie würden dir sicher gefallen...ganz zu schweigen…

Ja, ich möchte dich locken und doch liegt mir nichts daran, was beweisen mag, wie es doch in letzter Zeit verdammt nochmal um uns stand!“

Laut dem französischen Soziologe Maffesoli beginnt die Logik der Vergemeinschaftung die Logik der Vergesellschaftung abzulösen. Der Mensch werde in Zukunft vielmehr zwischen den Zugehörigkeiten diverser Stammeskulturen seinen Platz finden als in statisch fixem Milieu, also in permanentem Wandel und erforderlicher Flexibilität. Diesen Idealtypus Mensch nennt Maffesoli den postmodernen Nomaden, der, vorbei an Institutionen, sein selbstbestimmtes Leben auszurichten vermag. Der Soziologe imaginiert in seiner Forschung diesen Werdenden und Unabkömmlichen, als eine Art flexiblen und ruhelosen Springer zwischen den Welten herauf, als einen dem dionysischen Prinzip zugewandten Ekstatiker und Spagatler zwischen Ideal und Wirklichkeit, der frei und ausgestattet mit dem nietzscheanischen Willen zur Macht, zwischen all den ihm zur Verfügung stehenden Lebensformen umherswitcht.

In der Postmoderne sei nach Maffesoli der Typ Mensch, welcher sich durch kreativen willentlichen Schöpferdrang vom Korsett des Neoliberalismus lossagt, der entscheidende Brückenerrichter hin zu einem sozialem Miteinander. Durch diesen lebensgestaltenden Rausch des permanenten Wandels und steten Werdens erfolgt in ihm eine vielen sozialen Kreisen gleichsam verbundene Zugehörigkeit. Verbunden mit allem Sein, im Innen sowie Außen, sich stets auf ein Neues der sozialen Frage anvertrauend, lehne dieser Werdende das Streben nach Konsistenz sowie nach Eindeutigkeit entschieden ab. Jeder verfüge über die Freiheit, sich jederzeit von Bestehendem wieder zu lösen, um alsdann nomadisch weiterziehend sich Neuem anzuschließen. Durch den fortschreitenden Prozess dieser steten Umwälzung eröffnet sich ihm die Erkenntnis, dass die Wiederkehr des ewig Gleichen, im neuen Licht erscheinend, aus ihm bestenfalls eine enorme Selbstermächtigung herausschält und lebensbejahende Kräfte entfaltet. Durch diese Freiheit des steten Wandels sowie der beständigen Wiederkehr des Gleichen ergibt sich, dass der Willentliche, der dem lebensbejahend-dionysischen Rausch folge, alte Machtstrukturen überwinde. Die eingeleitete Verschmelzung des einstmals isolierten Individuums zu einem Kollektiv korrespondierender Elemente strebt somit ein freies gemeinschaftliches Gefüge an, das allein einer universell geltenden Konstellation konfusieller Ordnung untersteht.

Organisieren würde sich der postmoderne Nomade dann intuitiv, orientiert an der Dunbar-Zahl, welche besagt, dass der Mensch zur Vermeidung kognitiver Dissonanzen im näheren sozialen Umgang, sich in überschaubaren Gruppen bis zu 150 Personen einfindet - was in etwa der Anzahl an Mitgliedern neotribaler Zusammenschlüsse entspricht. Dabei müssten die Mitglieder eines Tribes, der durch die Arbeitsteilung vom Arbeitsprozess entstehenden Entfremdung ihre ganze Flexibilität entgegensetzen, um die Akkumulation ökonomischen Potentials zu vereiteln, welches unweigerlich zu unzumutbaren Machtstrukturen führe.

Maffesolis Theorie wurzelt zudem nahe am Prinzip des urkommunistischen Gedankens, wie er bereits bei indigenen Völkern des mittleren Westens vorzufinden ist: Der Gedanke des Gemeineigentums von Land, Wasser sowie Wild. Alles weitere sei dem Privateigentum zuzuordnen.

Ein solches Grundgerüst der fairen Aufteilung bestehender Ressourcen setzt ein Mindestmaß an gelebten Primitivismus voraus. Sogenannten Minderprivilegierten fällt in der Umsetzung des primitivistischen Gedankens ohnehin und unmittelbar ein Zugewinn an Lebensqualität zu. Den sogenannten gehobenen und folglich privilegierteren Bevölkerungsschichten wird erst zeitverzögert der heilsam vitale Nutzen eines aktiv gelebten Primitivismus sowie durch diesen in die Welt hinein strömenden Neotribalismus bewusst werden. Etwa durch den eintretenden Reinigungsprozess des entlasteten Gewissens durch transparente Arbeitsabläufe und Produktionsschritte sowie der folglich aufkommenden Solidarität, die langfristig in der gesamten Gemeinschaft diverser Stammesstrukturen für geistiges Wachstum sorge. Doch wie findet der Mensch aus der Trennung und Spaltung, aus der Uneinigkeit in die Zusammenkunft, vom Expansionismus zurück zum Minimalismus oder zumindest zum Reduktionismus? Sieht er nicht in jeglichem Verzicht hungerkünstlerische Askese, also eine entartete und gleichsam rückschrittliche Verneinung hedonistischer Freizügigkeiten? Folglich muss sich in der Gesellschaft erst einmal das Bewusstsein für den notwendigen Wandel ausbilden. Dem Versuch, diesen notwendigen ersten Schritt einzuleiten, widmet Maffesoli sein gesamtes ideelles Schaffens-Motiv und somit letztlich auch sein großes Lebenswerk, dem er sich mit Leidenschaft aus seinem innigsten Herzensbedürfnis, bis in die imaginären Wachträume des kollektiv Unbewussten hinein, verpflichtet sieht.

Es ist zu hinterfragen, ob nicht nahezu jede relevante politische Entscheidung stets gegen die Interessen der Mehrheit des Volkes durchgesetzt wird. Die Mittelschicht würde - über kurz oder lang - den Gürtel enger schnallen müssen, wollte sie nicht jäh wie ein erodierender Steilhang abschmieren. Was ja im satten Futter des heutigen Wohlstands nicht zwangsläufig existentielle Dringlichkeit in sich birgt. Der Verkauf des SUV, ein Umzug in kuscheligere Räumlichkeiten, ein zwei Reisen pro Jahr weniger, etwas weniger erkaufte, ein wenig mehr tatsächlich gelebte Nachhaltigkeit - kurz: gesunde Reduktion statt entbehrungsreicher Hungertuch-Enthaltsamkeit. Doch durfte man das dem Bürger abverlangen? So etwas Mühseliges kam bei den Wählern nicht gut an. Noch war der Primitivismus alles andere als salonfähig. Behaftet vom reinsten Irrglaube und dem Ressentiment, er sei nichts weiter als eine den Zeitgeist bestimmende Laune anarchistischer Barbarei rückwärtsgewandter Chaoten, deckelten weiterhin mannigfaltige Konsumgüter sowie zahllose Informationsangebote das Unabwendbare. Noch klammerten sich die Leute in ihrer von klein auf eintrainierten Duldungsstarre an das untergegangene Gestern wie Kleinkinder an Mutters Rockzipfel. Das Gestern jedoch war alles andere als eine mütterliche Plattform infantiler Gefühlsduselei. Das Gestern gilt bekanntlich als ein düsterer Schlund, aus dessen Tiefen der Dampf sich zersetzender organischer Masse herauf quillt, während das Klingen und Dröhnen roher Gewalt in unser Ohr dringt. Vielleicht aber handelte es sich hierbei auch wieder nur um eine Täuschung, eine unbedeutende Begleiterscheinung verworfener Psychogramme, die sich störrisch vor die paradiesische Kulisse eines zauberhaften Liebesgartens wirft.

Kooperative Offenheit als Grundsatz und egalitäre Werte anstrebend, sowie intern ausgehandelte Regeln organisierend, würden die neotribalen und postmodernen Nomaden autark verwaltet, aus der naturnahen Lebensweise von Gestern das Nötige in ein lebenswertes Morgen überführen. Die rituell anmutenden Übereinkünfte, die noch heute als Überbleibsel einstiger Stammeskulturen in Vereins- und in Clubklauseln, unter Fans und Fetischisten, Subkulturen, ja auch in kommerziellen Unternehmen und schließlich in diversen Sektenstrukturen vorzufinden sei, folge laut Maffesoli allein dem archaisch-tribalen Muster in uns angelegter sozialisierter Tendenzen, bilde jedoch im Kern keine ganzheitliche sowie eindeutig organisierte, wirtschaftliche sowie soziale Ausrichtung, die als basisdemokratisch oder gar als sozialistisch zu bezeichnen wäre.

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