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Wer fragt sich hier was?

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Waren die Gumpenjucker, die sich trotz strenger Verordnungen hin und wieder an den Buchenegger Wasserfällen einfanden, im vereinenden Moment ihrer adrenalingetränkten Rudelbildung, nicht ebenfalls neotribal organisiert? Ekstatisch und dionysisch wie zu allem bereite Kämpfer sprangen sie noch in das kälteste Wasser. Und zählten nicht auch all die dort draußen unlängst vom Glauben abgefallenen und coronös Geschädigten letztlich zu den friedlichen Kriegern des Lebens!? All die Coronösitäten, Absurditäten und Kuriositäten menschlicher Vielfalt. Auch jene, die blindlings ihre Rechte Einforderten, die jäh Erwachten und die zulange unbedacht die auferlegten Missstände Hinnehmenden. Und schließlich all die Verarschten, durch quasi-demokratische Prozesse Verblödeten und Ausgestochenen. All die sich hinter ihren Einweg-Maulkörbchen, Individual-Schnabeltüten und bunt verzierten Schnutenmützen versteckenden Verschreckten und sich unmündig eingerichtet Verstörten - waren sie nicht alle tief in ihren Herzen Stammesmitglieder eines großen starken und autark organisierten Stammes? Eines Stammes ohne vorgeschobene, sich in fremden Interessen verlierende Volksvertreter an der Spitze, die ihre Untertanen mundtot machten, entmutigten und unter fragwürdigem Banner der Volksgesundheit regelrecht entmündigt hatten.

Ein komplexer, der Einfachheit entkoppelter Leviathan, der alles Verständliche saugte, alles in Mehrwert ersäufte und verschlang, trieb schon zu lange sein hässliches Unwesen. All die Landwirte, Handwerker, zu niederen Stände und zu hoch angesiedelten Intellektuellen - waren sie nicht allesamt gelackmeierte Nomaden? Postmoderne Umtriebige, eingelullt und weichgespült. Dem Glauben an ihr Selbst beraubt, da alles seinen Preis hatte, nichts mehr einen Wert. All die Sportler und Arbeitsamen mit ihren industriell gefertigten Hilfsmitteln, Gerätschaften und Werkzeugen - waren sie nicht einst allesamt stolze Krieger gewesen? Selbstgefertigte Werkzeuge und Waffen, eingetauscht gegen einen kleinen Allround-Computer und ausgestattet mit vielerlei künstlichen Bedürfnissen, gekoppelt an eine reiche Produktpalette aufgezwungener Wertigkeiten, die nichts als sinnlose Industrien rechtfertigten und die ohnehin einlullende Scheinzufriedenheit und Entfremdung der User weiter begünstigten. Wo waren sie nur, all die solidarisch vereinten Kämpfer des Überlebens, die Einforderer grundlegender Bedürfnisse und Rechte? Bleiche verängstigte Menschlein oder eben vor Wut schäumende, aufgepumpte Wutbürgeradern und Schreihälse in Muskelshorts zierten die Monitore. Ein Panorama und denkwürdiger Querschnitt der Gesellschaft. Was außer ihrer fahrigen Definition von Freiheit und Frieden einte diese Leute? Hatte es für sie denn überhaupt jemals so etwas wie eine intuitive moralische Instanz, eine Übereinkunft des Gewissens gegeben? Eine geistige Bruderschaft regionaler Zusammenschlüsse? So etwas wie diese verschriene völkische Übereinkunft, in deren Imagination die moderne Rechte so gerne schwelgte. Oder war hinter dieser Verkitschung einstiger Ahnenschaft und der Idealisierung vorindustrieller Zeiten, all der überschaubar vital strahlenden Männlichkeit, der praktisch ausgerichteten manuellen Tätigkeit mit echten Materialien, all den bemühten Tönen um den Erhalt und der vorrangigen Gesundheit der Familien, der Böden, denn nichts als territorialer sowie permanenter Stellungs- und Gesinnungskrieg die Regel? Und waren nun folglich denn auch all diese Outdoor-Freaks und feschen Alpinisten, die nun unsere postmodernen Gefilde durchstachen und durchkreuzten, nichts weiter als braungebrannte, drahtige und narzisstische Kletteraffen, allesamt breitgetretene Grenzerfahrungen im frisierten Schädel, oder aber einte sie letztlich doch mehr als allein das Narrativ absoluter Outdoorbekleidungs-Konformität und industriell gefertigtem sowie gestilltem Erlebnis-Heißhungers? Fühlten sie tief in ihrem Wesen denn nur annähernd etwas, was sich über den Rahmen ihrer zwangs-individualisierten Bedürfnisse hinaus Solidarität nennen ließe?

Was für statisch festzumachende Werte bildete ihre Gesinnungsübereinkunft, ihre Einheit? Und wie stand es um ihre wahre Manneskraft und Weiblichkeit? Verschossen sie sich da nicht gewaltig mit ihrem technokratisch anmutenden Gestrampel für Gesundheit und spirituelle Unabhängigkeit? Strampelten sie sich nicht allesamt, Schritt für Schritt, weiter hinein in den kollektiven Niedergang? Schaufelten sie sich nicht unmerklich ihr wohltemperiertes Grab in der Digitalisation eines Gesundheitsregimes, dass es einfach nur zu gut mit ihnen meinte. Niemand mochte heute die Galeere der geistigen Erschöpfung noch manuell voran peitschen. In Zeiten von wohldosierten Cyberattacken verrenkt man sich beim Peitschen nicht mehr den Arm. Das Hobby dem Körper, die Arbeit dem Hirn.

Der innere Nomade, der auch in ihm nahezu domestiziert und erloschen war, versuchte wieder Fuß zu fassen. Langsam aber sicher geriet er in Bewegung, wagte den Versuch eines ersten vorsichtigen Schrittes.

Sofern der allzu deutsche Hang zur Romantisierung auf verklärte Untergangsverliebtheit trifft, gipfelt das entweder in radikale, bis hin zu faschistoiden Tendenzen, zu ewig links-bekannter Moniertheit oder aber zu neotribalem Idealismus. Alles war zu begrüßen außer das Gestern, der Status Quo-Übereinkunft.

In Maffesolis Forschung findet sich kein eindeutiger Beweis für die Existenz eines universellen Narratives, demzufolge der postmoderne Nomade über die kulturell angelegte Eingebung einer Sinnes- beziehungsweise Gesinnungsübereinkunft verfügt und sich aus dieser folglich ein Fundament besagter Einheit und Einstimmigkeit für ideell orientierte Gemeinschaftsmodelle ergeben würde. Daraus resultiert eine inhärente Distanz zu festgelegten Wertigkeiten und mythologischen Begrifflichkeiten wie etwa die der Ehre und des Gewissens. In welcher Tradition von Ehre, des besten Wissens sowie Gewissens, vermag der unstete, sich vor der Wertigkeit schützende Nomade denn schon einzurichten? Ist dies bei dem ganzen heillosen Durcheinander denn überhaupt noch sein Anliegen? Ob der postmoderne Nomade nun, in Anbetracht der jüngsten Ereignisse, ein Freund der Bodenreform sein sollte oder nicht, für eine entschärfende präventive Umverteilung einzutreten habe oder nicht, das lässt sich nicht vorwegnehmen. Der Tradition von Ehre und Gewissen stellt Maffesoli die permanente experimentelle Verschmelzung des Individuums mit der “konfusiellen Ordnung korrespondierender Elemente“ gegenüber. Mit einfachen Worten: Maffesolis Theorie zufolge war er offen für alles.

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