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Überbevölkerung und Konsequenzen

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Durch den Rückzug ins Private lässt sich das Unbehagen inmitten einer zerfallenden Kultur über einen gewissen Zeitraum hinweg überbrücken. Darauf findet sich das Individuum, je nach konditionalisierter Frustrationsgrenze, mehr oder weniger organisiert, an den Pforten neu orientierter Sozialisierung ein. Das Ideal sozial varitabler Strukturen ist ebenfalls wie die Liebe Motor und Antrieb artspezifischer Selbsterhaltungsprozesse. Wir überdauern das Dunkel, um uns im Lagerfeuerschein früher Sozialisation wiederzufinden. Das sind die vor der Desillusion verschont gebliebenen Randbezirke und Ruhezonen unseres Glaubens an uns selbst, ja gar an unsere dem Untergang geweihte Art. Und während Transhumanismus-Experten und allerlei gewiefte Technokraten unser Gehirn entschlüsseln und nebenbei das Universum erobern, finden sich Rückbesinnende oberhalb der Buchenegger Wasserfälle ein, um etwa über den nachhaltigen Umgang mit der Fruchtfolge in Wort und Tat zu transformieren.

Das im eigenen Garten angelegte Gemüsebeet erwies sich mehr als ein Alibi vor mir selbst, weniger als ergiebige Grundlage ein Stück Autarkie zurückzuerobern. Ein rührender Versuch, nichts weiter. Es spiegelte im Angesicht einer beschämenden Verlorenheit mein eigenes Wesen wieder. Das Beet stand bereit, trug, wenngleich imaginäre, so doch keine reifenden Erdfrüchte. Zeichens der Entfremdung von essenziellen Arbeitsprozessen durch lange zerrende Arbeitstage, erwies sich mir, als Einzelperson, der Gemüseanbau als ein hoffnungsloses Unterfangen. Dieser Fakt, Bestandsaufnahme des Moments, der mir meine dezimierte Begabung, nachhaltige Arbeitsprozesse effizient zu etablieren aufzeigte und unweigerlich unter die Nase rieb, dass ich doch ein Gartengestalter in Lohnarbeit war und kein autarker Ökobauer, hatte mich auf den entlastenden Gedanken gebracht, spätestens im kommenden Frühjahr einer Solidarischen Landwirtschaft beizutreten. Kurz darauf hatte ich von Gandalfs Projekt erfahren.

Zentrifugalkräfte, verursacht durch die Trägheit der Körper, vergiftete Wahrheiten allerorts. Medial vertrieben wie Minderheiten aus annektierten Regionen, entsandt in alle Welt, desperate Lebensgrundlagen, ihrer solidarischen Zugehörigkeit beraubt, vermarktet und verwurstet, Zerstreuung und Konsum, Blasenbildung und alltägliche Selbsteinschränkung – durch all diese Artefakte der Zersetzung, hatte auch ich mir den Zugang zu den ersehnten Feldfrüchten durch ein vorwiegend in der Theorie verhangenes Dasein verwehrt. Theoretisch sowie praktisch jedoch war mein Beet ein Schneckenparadies, von Wildkraut und Co besiedeltes Brachland. Eine Gründüngung für zukünftige Verwilderung. Ein Abstrich meiner Seele und Außenaufnahme, die Einblick ins Innerste gewährte. Alleine ließ sich nicht viel Handfestes ernten und einbringen. Ein paar Dutzend Radieschen, etwas Kopfsalat, Kartoffeln und Rüben, einige wenige Kohlsorten. Die Goldenen Gaben lagen im goldenen Wagen im Supermarkt, her gekarrt aus aller Herren Länder. Das Ideal des eigenen Gemüseanbaus wurde mit jedem Einkauf zermalmt im Eifer zertrümmerter Aufmerksamkeiten.

In diesem Haufen voll zertrümmerter Aufmerksamkeiten mussten auch all die Mitglieder erwacht sein, mussten sich inmitten dieses Trümmerfeldes neu entdeckt und von Teilbereichen reflektierender Scherben widergespiegelt haben. Wüste Fratzen mochten ihnen dabei ins schweißgebadete Antlitz gestarrt haben, da nach Liebe trachtende Herzen auf unfruchtbaren Böden bluteten, bis sie sich schließlich selbst reanimierten, auferstanden, die Umstände sie revitalisierten, sie sich sehnten nach der Rückeroberung ihrer kindlichen Unschuld, ihrer ewig währenden Unschuld.

In den ersten fruchtbaren Gesprächen mit diversen Mitgliedern hob sich eine Kernthese des gandalfschen Kosmos deutlich hervor: die These der Einkinder-Beziehung, der Sterilisation sowie der unbedingten Verhütung. So sehr sich mir die Theorie auch durch die klaren Worte einiger Mütter aufdrängte, so nachvollziehbar war dann auch deren Annahme, durch Regulierung, Geburtenkontrolle, bewusstes Entsagen und fein sensorische Achtsamkeit den Herausforderungen unserer Zeit entschieden entgegenzuwirken. Verspätete evolutionäre Frühwarnsysteme, nannte Gandalf die als ein Opfer an Erdenmutter Gaia zu erachtenden Regularien scherzhaft, ja gar Zeremonien der Achtsamkeit, wenngleich derlei Disziplin der Natur einer jeden intakten Spezies widerstreben mochte. Die meisten Mitglieder jedoch hatten diese strikte These als rational annehmbar akzeptiert, andere wiederum konnte Gandalf erst nach langen hitzigen Diskussionen zumindest Offenheit und Toleranz abgewinnen, welche er ebenfalls als eine Art Tribut erachtete, das zu zollen die Gemeinschaft den Anforderungen für ein besseres Morgen wappnen würde. Die meisten schienen die Theorie bereits in ihre alltägliche Lebenspraxis eingewoben zu haben, was ehrlich gesagt meinen libertär ausgerichteten Vorstellungen und Erwartungen deutlich widerstrebte. Anmerken ließ ich mir diesen desillusionierenden Seitenhieb nicht.

Gandalfs Söhne lebten wie der Großteil aller Scheidungskinder bei ihrer Mutter. Über die Kinder sprach er wenn überhaupt dann nur sporadisch, jedenfalls nicht direkt. Er hatte sich wohl - seinen kryptischen Anspielungen nach - mit seiner Familie bis aufs Äußerste zerworfen. Daher waren wohl auch keine näheren Berührungspunkte sowie verpflichtende Familienaktivitäten mehr vorgesehen, die ihn davon abgehalten hätten, sich mit voller Hingabe in das Projekt zu stürzen und den Anforderungen des Existenz sichernden Gemüsebaus zuzuwenden. Hinsichtlich seiner allabendlich an uns gerichteten Darbietungen, gab es hierin keinen Zweifel. Es war davon auszugehen, dass auch er seine beiden Söhne an die Datenkraken supersplatternder Informationskonzerne verloren hatte. Diese Pathologie hatte nahezu alle Familien erfasst, wenn nicht geradezu dahingerafft. Man konnte dem Geschehen nur mit entrückter Klarheit beiwohnen oder sich einer Sucht unterwerfen, einer Sucht des Vergessens. Zu variabel war das Diktat der Ohnmacht, zu weitläufig das Netz der hungrigen Spinne. Das wir unsere eigene Existenz mittlerweile mehr verwalten als sie zu Leben, vermag zu diesem entsetzlichen Zersetzungsprozess beitragen und zusätzlich Binnenangst schüren. Hatespeek, Gangsterrap, Virologen, der Digitalisierung untergebene Oberbürgermeister und Schulleiter, die Strategien der neuen Normalität, Smartcitys auf der einen, Landsturm mit feuchtem Smarthome-Dream auf der anderen Seite, all das war nicht auszuhalten und doch hatte die Agenda längst über die eingeschlagene Richtung entschieden. Den Rest würden die Algorithmen übernehmen. Man konnte nun tatenlos sportiv oder phlegmatisch passiv weiter vibrieren oder man schloss sich einer Sache an oder gründete wiederum Alternativen. Noch funktionierte der Rechtsstaat, ebenfalls in Form verwalteter Existenz zum Nachteil lebendiger Substanz.

Eine Gesellschaft wird pathologisch, sofern sie sich ihres naturgemäßen Habitats entfernt. Hier definiert bereits Rousseau den Zeitgeist der Postmoderne lange vor ihrer endgültigen Heraufkunft. Durch den aufkeimenden, aus der Aufklärung resultierenden Kulturpessimismus, welcher davon ausgeht, dass der kulturelle Zerfall wie eine obsessive Sehnsucht nach Umorientierung in die Welt hineinzuströmen vermag, somit zwangsläufig zur Konzeption überschaubarer sozialer Strukturen führen müsse, ist zwar anzuzweifeln, er aber arbeitete daran. Arbeiteten sie miteinander, unverbindlich und frei und aus der Krise heraus.

All die vom Kapitalismus sich zuletzt Abgewandten, die Enttäuschten, die in Seminarwelten ein mildes Lächeln sowie mannigfaltig ihre alternativ-therapeutischen Raffinessen kultivieren,

der sympathische Frührentner aus der Nachbarschaft,

der junge Gartenbaumeister hinter Dreitagebart mit Hang zum Alkoholismus,

der peppig schnittige Revoluzzer, Linguistikprofessor und ewige Student zugleich, Poetry Slamer und Buchautor,

all die in Gumpen juckenden Jungbauern,

die nach Berlin, Leipzig sowie Freiburg abgerückten Kulturschaffenden und Konsum-Süchtigen,

all die an Prekariat und Markt zerbrochenen, an Haushalt und Familie gebundenen Krieger,

all die an ihren Ehen gescheiterten, zerbrochenen Elendshäuflein, beflügelten Schwärmer und Losgelösten, geflügelte Worte Umschwärmende,

all die gefallenen Engel der Individualisierung, der Atomisierung, des kollektiven Sinnesschwunds,

all die Akteure des vergangenen Gesterns - organisieren mussten sie sich. Ein jeder unter ihnen musste lernen selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu agieren. Nur so konnte das Diktat des Marktes und der Macht zu Gunsten einer lebenswerten Zukunft gesprengt werden. Davon waren die Mitglieder um Gandalfs solidarisches Landwirtschaftsprojekt überzeugt. Selbst Harry schien hierin zuzustimmen. Ohne Überzeugung versagt die Rhetorik der eigenen Sprache. Doch keine Überzeugung ist wirklich wahr. Und das wusste Gandalf. Ja, es blieb ein Spiel mit dem Feuer der Unwissenheit. Aber auf was, wenn nicht auf das Experiment, sollte er sich schon berufen.

Das mit dem Primitivismus war so eine Sache. Dem derzeit vorherrschenden Meinungskanon der Humanisten und Demokraten galt er als Barbarei oder sie erkannten in seinen Auswüchsen nichts weiter als den repressiven Aufbau primitiver, kleinregionaler Machtstrukturen. Auch hatte man bereits einiges über die sogenannten Reichsbürger gehört, die scheinbar, von Außen betrachtet, einer ebenfalls auf Autarkie setzenden Philosophie folgend, einen beachtlichen Stamm gegründet hatten. Unser Areal lag höchstens dreißig Kilometer Luftlinie von dem der Reichsbürger entfernt. Sie hatten sich etwas weiter südlich, jenseits des Hochgrates, im Bregenzerwald angesiedelt. Dort sollten sie über weite Nutzflächen in günstiger Südausrichtung - obendrein mit uneingeschränktem Nutzungsrecht einiger Quellen - verfügen, während ein Großteil der gandalfschen Äcker und Weidegründe an steilen, nur mühselig zu bewässernden Nordosthängen eher mangelhaft ausgerichtet waren. Nun mag man sich fragen, was die Reichsbürger ausgerechnet nach Österreich verschlagen hatte. Nach den anhaltenden Unruhen, die sich über gesamt Europa und darüber hinaus über den gesamten Erdball erstreckt hatten, hatte sich in der österreichischen Landesregierung ein unerwartet heftiger Rechtsruck ergeben, der einem klassischen Putsch nicht unähnlich war. Jedenfalls hatte die neue Regierung unweigerlich eine radikale Bodenreform zugunsten aller österreichischer Familien - bevorzugt aus den unteren Schichten sowie der Mittelschicht - erlassen, wobei sogenannte Sinnesgenossen aus Deutschland, als Zuwanderer durchaus erwünscht waren. Die Gesinnung jener zugesiedelten Reichsbürger jedoch hatte mich bisher davon abgehalten, den österreichischen Kolonisten meine bescheidene Aufwartung darzubieten. Mit ihrer pathetischen Vorliebe für Odin-Kulte, der koträr zu ihrer entschlossenen Brutalität verlaufende Verkitschung der Anastasia-Lektüre sowie der als evolutionär und naturgemäß angelegte Zwang feste familiäre Stammesstrukturen zu bilden, konnten die ostdeutschen Zuwanderer bei mir nicht punkten. Mit der Familie war ich bereits durch und Odin sowie Wladimir Megre, Autor der Anastasia-Buchreihe, war nie mein Typ gewesen. Bei Gandalf genoss ich trotz Nordostausrichtung sowie biologisch dynamisch hochgehaltenen Verhütungs-strategien gewisse Vorzüge. Aber, was rede ich!? Wie lange war ich denn hier - vier Tage? Und was war nochmal mein Anliegen? Gemüsebau? Frauen? Wahre Umorientierung und Verzicht? Von einer klaren Antwort auf diese Frage war ich weit entfernt. Zudem quälte mich allmählich der Gedanke an mein Auto, oben am rückgebauten Wanderparkplatz. Hatten es die Behörden mittlerweile kostspielig abschleppen lassen? Vielleicht hatten sich auch bereits aufgebrachte Anrainer über die Scheibenwischer hergemacht und den Lack zerkratzt, gar die Scheiben eingeschlagen. Jedenfalls beunruhigte mich dieser verräterische Materialklotz, an dem ich doch noch bis vor wenigen Tagen hing wie ein schwer gebeutelter, künstlich am Leben gehaltener Coronapatient an Beatmungsschläuchen. Und an dem ich und in diesem ich vielleicht auch bald wieder hängen werde - leergefegte Innenstädte und Landstriche durchkreuzend - während der nächsten, bereits medial groß angekündigten Welle.

Den Reichsbürgern wurde eine deutlich aggressivere Abschottungsstrategie nachgesagt. Die Österreichischen Behörden hatten mittlerweile jegliche Verfahren gegen die ebenfalls aggressive Bebauung der Landesparzellen, die durch den regen Zustrom aus Deutschland stetig anwuchsen, eingestellt. Selbst die widerrechtliche und völlig unbehelligt rege Versiedelung sowie die Fremdnutzung landwirtschaftlicher Grünflächen schienen die österreichischen Behörden entschlossen übersehen zu wollen. Die Reichsbürger hatten bei den anfänglichen Versuchen seitens der Behörden, das Gelände zu räumen, nicht lange gefackelt. Mit diversen Kalibern sollen sie das Feuer auf die Beamten eröffnet haben, worauf diese sich deutlich zur Wehr gesetzt hatten. Wie durch ein Wunder soll dabei nicht eine einzige Person verletzt worden sein. Und das Gelände wurde bis heute nicht geräumt. Die Regierung hatte nicht wie erwartet mit der Räumung und sofortigen Festnahmen reagiert. Aus taktischen Gründen schien sie sich mit der Schießerei abgefunden zu haben. Nicht ein einziger Strafbefehl wurde erlassen. Darüber hinaus hatte sich die österreichische Regierung auch mit diversen anderweitig rechtlichen Grenzüberschreitungen arrangiert und weitere Gesetze, zum Schutz des auf Basis der Bodenreform gegründeten Nationaliberalismus erlassen.

Letztlich hat die Wiener Politik den Reichsbürgern somit den Rücken gestärkt. In den Medien - auffällig einhellig in den deutschen Printmedien - wurde das Spektakel um die Schießerei nahe Bezau als die wundersame Schlacht ums neue Reich auf dem Hubertusbichl ausgeschlachtet.

All das klang sehr unglaubwürdig und doch musste es sich so zugetragen haben. Die Reichsbürger bauten weiterhin fleißig ihre Festung aus, während die Behörden ihnen dazu den Weg bereiteten. Oder sie sahen angeordnet weg oder hatten Wichtigeres zu tun. Vielleicht gründete ja bereits in der Bodenseeregion ein Heer an dunkelhäutigen flüchtigen jungen Männern ein maoistisch-selbstverwaltetes Basislager zukünftiger Emigration. Das postmoderne Nomadentum war schließlich ein globales Thema.

Das alles mag nun wohlwahr wie ein grell überzeichnetes Asterixcomik daherkommen und doch hatten die Gallier die Römer in die Flucht geschlagen. Man hatte so seine Medien, seine Späher, seine Informanten. Allein auf die Medien konnte man sich ja nicht verlassen. Und doch war man hier, oberhalb der Wasserfälle, annähernd isoliert. Die deutschen Behörden ließen uns trotz des Gewaltsausbruchs der Reichsbürger im nahen Nachbarland friedlich unseren Verrichtungen nachgehen. Schließlich gab es zwischen den Reichsbürgern und uns keine direkte Verbindung. Auch hielt Gandalf das Maß baulicher Maßnahmen sehr gering, was seiner Philosophie der Einfachheit eine gewisse doppelte Glaubwürdigkeit verlieh und uns, als erwünschter Nebeneffekt, die Behörden vom Hals hielt. Bald aber würde auch er expandieren müssen. Durchaus war das gandalfsche Projekt den Behörden ein Dorn im Auge. Eine Entwicklung, der sie sich nur auf Rechtswegen, also durch die erwartete Ausweitung drakonischer Maßnahmen, zu entledigen wussten. Dazu bedurfte es noch weiterer Gesetzesbeschlüsse, um dem alternativen Treiben auf Gandalfs Lichtung ein baldiges Ende zu setzen. Das war nicht unwesentlich, die Politik - so vermuteten wir derzeit - war daran, weitere Schritte einzuleiten im Kampf gegen sich ihrem Gesundheitsdiktat entziehende Aussteiger, Kolonisten, Impfverweigerer und sonstige Lebensreformer. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie uns mangels vorzuweisender Hygienekonzepte als dem Kollektiv, also dem Allgemeinwohl unzuträgliche und potentielle Gesundheitsgefährder - subversiv, konspirativ und verächtlich - einstufen würden. Dann erst würde der Räumungsbefehl drohen, konnten sie uns den Garaus machen. Und ob wir uns am jüngsten Tag dann im Ton vergreifen oder gar - - wie die Reichsbürger zur Wehr setzen würden, stand noch aus. Heimliche Sympathien zumindest an der kompromisslosen Zielstrebigkeit, die diese gewalttätigen Querulanten an den Tag legten, war in unseren Reihen zwar leise und - trotz vorgeschobenem Pazifismus - doch hier und da deutlich zu vernehmen. Würde Gandalf im Ernstfall kapitulieren oder die uralte Flinte, die er irgendwie von seinem Vater vermacht bekommen hatte, aus dem Schrank holen und im Affekt alles aufs Spiel setzen und sein im Wesen pazifistisches Ideal über den Haufen werfen? Würde er gar - sofern es darauf ankäme - mit den Reichsbürgern kooperieren, etwa einen Korridor bilden, der den regen Austausch zwischen den Stämmen gewährleisten würde? Quasi einen Oberallgäuer Ho-Chi-Minh-Pfad als Versorgungsroute interaktivem Austauschs in die Wege leiten? Und würde Harry schließlich sein Smartphone beiseite legen, sein Haar zurückzustreichen, um darauf mit gefletschten Zähnen, der Bedrohung seines Lebens - dem Gipfel der Destruktivität - in die garstige Fratze zu fauchen?

„Wärst du auch bereit, für die Gemeinschaft einzustehen? Würdest du sie verteidigen, sie schützen? Wie lange bist du jetzt hier - vier oder fünf Tage? Ich weiß, das ist eindeutig zu viel verlangt. Aber versteh mich nicht falsch. Überall geht es um Sicherheiten. Ich kann mich nicht rein auf mein Gefühl verlassen. Die Zeiten sind mehr als unsicher und streben somit vermehrt nach Absicherung. Und bisher hast du dich bevorzugt am Rand aufgehalten.“

Das musste ja kommen. Nur war es eindeutig zu früh, sich diesem voreiligen Initiationsritus zu unterwerfen. Ich wich aus, indem ich das Gespräch auf meine pazifistische Orientierung hinlenkte, worauf er sofort unter einer schnittigen Handbewegung, eine Art gestikulierter Kung Fu-Schlag, abblockte. Diesen Blödsinn habe er von jedem anderen Mitglied auch gehört. Von mir habe er das nun wirklich nicht erwartet, schloss er und schüttelte theatralisch untermalt den Kopf, was mich wohl zu einem schlechten Gewissen bewegen sollte, wobei sowohl sein langes, zu einem Dutt gebundenes Haar als auch sein ungestümer Bart lustig mit wippte.

„Du würdest also weder Partei ergreifen noch zur Tat überschreiten?“ Umzingelte er mich nach einer nur vom Knacken des brennenden Holzes und den Gesprächen der Mitglieder übertönten Schweigeminute.

„Ich würde dem Geschehen mit meiner ganzen Aufmerksamkeit beiwohnen und bei Bedarf einschreiten.“ entgegnete ich wahrheitsgemäß und ohne weitere Umschweife.

„Das lässt sich hören. Nur, bist du dir da sicher? Nochmal - ich brauche Sicherheiten. Tut mir leid. Ich weiß dass das nervt. Aber das reicht mir nicht. Ich muss mich voll und ganz auf dich verlassen können. Verstehst du das?“ Sein Blick war durchdringend. Allmählich kam ich mir bedrängt vor. Sein Anliegen war allzu verständlich und doch konnte ich ihm nicht geben, was er von mir einforderte und geradezu erwartete und mir somit regelrecht abverlangte. Voreilige Loyalität und Treue.

„Als Sicherheit muss dir dein Vertrauen in mich genügen. Mehr kann ich dir derzeit nicht anbieten,“ vertröstete ich ihn kühn. „Meine Reaktion ist und bleibt abhängig von dem was kommt. Da lass ich mich nicht festnageln,“ untermauerte ich meine Haltung.

„Ja...“, seine Stimme klang versonnen. Sein Blick fixierte wohl irgendeinen Punkt im Dunkel des uns umgebenden Waldes, „...ja, Ich glaube das reicht mir.“

Die Initiation ist der Ritus, der ausbleibt. Mehr Sicherheit kann man in unsicheren Zeiten sicher nicht erwarten.

Meterhoch türmten sich da draußen in den angeschlagenen Haushalten die Sorgen um das Morgen. Wie würde es ihr und ihrer Tochter ergehen, fragte er sich. Hatte sie mittlerweile die Scheidung eingereicht? Der Termin musste gestern gewesen sein.

Und wie ging es eigentlich seinen eigenen Kindern? Was würde seine Ehemalige in diesem Moment mit ihnen unternehmen und würden sie auch hin und wieder miteinander über ihn reden? Was dachte sie eigentlich über die jüngsten Entwicklungen? Wie würde es seiner Tochter, seinem Sohn ergehen? Dem Gedanken wollte eine Reaktion, gleich einem Reflex, erfolgen. Sein Mobiltelefon jedoch lag im Auto.

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