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Nachkommenschaft

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Da Gandalf es vermied, bei den abendlichen Gesprächen seine Familie zu erwähnen, drängte sich mir - wie bereits erwähnt - die Vermutung auf, dass er bei der Planung des Projekts die Ansprüche seiner Söhne nicht ausreichend berücksichtigt habe mochte und mit ihnen deshalb im Argen lag. Den wenigen Worten zufolge, die er über seine Familie verlor, waren auch sie längst übergelaufen in das Lager der Hetze. Die EU finanzierte derzeit einige fragwürdige Projekte, obenan soma - die EU-Beobachtungsstelle gegen Desinformation. Bei vielen älteren Kindern und Jugendlichen hatte diese Aufklärungsoffensive in kürzester Zeit ganze Arbeit geleistet. Ohnehin war man nur noch von separaten Lagern umgeben. Wohin auch sollten die Kinder übersiedeln, wenn nicht in feindlich abgesonderte Lager. Die Aufteilung der Welt in Gesinnungslager, Stämme, Interessenverbände, bestenfalls in Gemeinschaften - so sah sie aus, die Zukunft. Und die Interessen der Kinder waren der Konformität untergeordnet, da deren industrialisierte und digitalisierte Begierden lauter einforderten und schlichtweg stärker waren als das Wehklagen der ewig Gestrigen, mochten sich jene auch noch so auf die sogenannte Zukunft wie in eine neue Offenbarung stürzen. Sie blieben den Kindern rückwärtsgewandte, ewig gestrige Spaßbremsen. Algorithmen bestimmten wer der Herr im eigenen Hause war. Nicht die Eltern.


Man kann sich nicht der eigens geschaffenen Realität entreißen. Eine Brücke braucht man zu Zeiten der Veränderung und diese haben unsere Kinder bereits errichtet. Durch das Drücken von Knöpfen, durch das Streichen und scrollen ihrer zarten Finger über Touchscreens. Sie haben bereits über die Zukunft entschieden. Egal, welche Stämme sich in welche Wälder auch immer zurückziehen, welche Ballungszentren von Morgen auch immer sie erobern werden. Die Geschichte wird sich wiederholen. Man braucht ihren Anfang nicht künstlich empor imaginieren. Die Nachkommenschaft hat bereits über die Zukunft entschieden. Wie die Erwachsenen so sind auch sie dem Triumphzug des eingebrannten Modells verfallen, im Konsum haben sie sich ganzheitlich eingerichtet. Es ist zu spät. Unsere geliebte Brut wird uns Fressen, uns das aufgesetzte Ideal wie die Wilden das Herz des Feindes ausreißen und roh pochend verspeisen. Unsere Kinder haben verinnerlicht, was wir im Eifer des Gefechts erschaffen und übersehen, wieder und wieder verdrängt haben. Nun sind unsere Kinder an der Reihe. Sie fressen uns mit Haut und Haar, tilgen uns mit unseren eigenen Waffen. Ja, sie bekämpfen Gleiches mit Gleichem. Sie sind die Zukunft, nicht wir. Und am Ende werden ihre Kindeskinder dann unsere Reliquien ausbuddeln und unsere späte Kehrtwende und Besinnung wie eine schräge knöcherne Naturreligion ehren und huldigen. Und immer so weiter und sofort. Gandalf wusste das, ich wusste es, die Mitglieder wussten es. Vielleicht auch Harry. Doch das mit dem Wissen war so eine Sache. Sicherheit durch Wissen. Sicherheit, die der Fürst auch aus mir zu pressen gedachte. Oh, wie sicher unsere Welt doch wäre, würde uns unser Wissen gleichsam Sicherheit spenden.

Schon Platon wusste, dass die Einsicht konträr dem Handeln angesiedelt ist. Dass die humanspezifische Aggression hinzukommend uns schließlich wieder und wieder die Suppe versalzt. Das geringe Empörungspotential sowie unsere Zustimmungserhöhung weisen uns durch mannigfaltige Gesinnungskorridore hindurch letztlich doch in Schranken. Die Duldungsstarre löst sich nur langsam mit dem materiellen Zerfall und dem Schwund an Sicherheit, die gespielte Empörung weicht innerster Aufruhr. Und dann sind da unsere Kinder mit ihren federleichten Smartphones, den Blick mehr aufs Display als in die Zukunft gerichtet.

Ein Zivilisatorisches Gegenmittel, ein Aufwind an Menschlichkeit kann nur von Unten kommen. Egalitäre Prozeduren zur Vermeidung von institutionalisierter Macht und Gewalt. Ob das sogenannte Volk nun endlich dieser Selbstverantwortlichkeit ihre langersehnte Ehre erweist? Die Kosten für Repression waren nie so gering wie im Gefolge der Digitalisierung. Die Platonische Regulierung des uneinheitlichen Geistes, der Affekt-, der Triebseele sowie der Vernunft, also das Ideal der heutigen Demokratie, ist nicht aufgegangen. Machtinteressen haben selbst die Philosophie Platons untergraben und sie sich zu eigen gemacht. Es kratzt der Mensch an der Wand der Höhle.

Die Bündelung von wirtschaftlicher Macht wird als Faschismus definiert. Diese Bündelung von materiellem Wohlstand und der national orientierte Erhalt von wirtschaftlichen Machteinfluss kommt nicht umhin, sich der antifaschistischen Kritik zu unterziehen. Die steil-viral gehende Handlungsunfähigkeit der Massen hält das Unrechtssystem am Laufen. Wir alle müssen uns gegenseitig schützen. In diesem konfusen Selbstschutz findet schließlich der Faschismus Schutz und Deckung. Wer nicht erkennen möchte, dass auch er ein Teil dieser zugemuteten Kollektiv-Verdrängung ist, der nährt Bestehendes und vermeidet Kommendes. Gandalf erkannte in dem pandemischen Wahn Tendenzen des unüberwundenen, tiefgreifenden Faschismus, der das alte Wirtschaftssystem weiterhin stütze und dabei gleichzeitig in ein neues Betriebssystem überführe, somit festige und weiter ausbaue, wodurch demokratische Prozesse immer weiter zurückgedrängt und folglich in unerreichbar nostalgische Ferne entrücken würden. Und wir alle nahmen stillschweigend daran Teil. Nutzen verschaffe das nur Wenigen.

Was sich während eines langen emanzipatorischen Prozess aus der Mangel des Zentralismus gelöst hatte, folgte nun wieder dem Aufschrei nach bundeseinheitlichen Regelungen der Maßnahmen zur Bewältigung der Krise. Selbst Föderalismus und Pluralismus schienen in Anbetracht der Erwartung nach vereinfachten Regelungen nichts als leidtragende Auslaufmodelle zu sein. Das Verlangen nach einer starken einheitlichen Schaltzentrale wurde deutlich formuliert. Zentrale Einheiten für zerfaserte Wertvorstellungen. Neue Brüderlichkeit, neue Währung, eine Schalte, neue Herausforderungen.

Worin lag für Gandalf die neue Herausforderung? Setzte er insgeheim auf den einzuleitenden Zusammenbruch des Bestehenden, auf den beschleunigten Zerfall und Niedergang kulturindustrieller Machtstrukturen, oder sah er es tatsächlich als seine Pflicht, den Menschen eine Brücke zu errichten, den Übergang in ein neues Zeitlalter in Milde einzuleiten, indem er eine Stätte der Genesung und Besinnung erschuf, die aufzusuchen und zu unterstützen vielen Menschen Hoffnung und Glauben spenden würde ohne den Zusammensturz, den Bürgerkrieg und somit den Bruch mit der Geschichte durch fehlgeleitete Energien zu riskieren. War es denn nötig, die Zerstörung der zivilisatorischen Errungenschaften einzuleiten, um Neues Denken zu können. Musste nahezu jeder subtilen Technik abgeschworen werden, um schließlich einem rückwärts gewandten Primitivismus zu frönen, indem jeder Gegenstand, der nicht aus eigener Herstellung stammte, für des Teufels Werkzeug erklärt wurde. War es fürs Erste nicht ausreichend, am Rande zu experimentieren und dabei den alten Bestand weiterhin als sichere Basis zu nützen. Und letztlich war die allesentscheidende Frage doch, was unsere Kinder vom plötzlich eingeforderten Verzicht auf das neue I-Phone, das neue Trampolin, den E-Roller halten würden. Sicher würde es ihnen als ein beachtlicher Mangel erscheinen, würde das allmorgendliche Blubbern des aus der Garage rollenden SUV aufgrund einer sich bei den Eltern manifestierenden Bewusstwerdung für immer verstummen.

Nur durch spirituelle Übung sowie Disziplin gelingt es führenden Persönlichkeiten, ihrem wenngleich eingeforderten Charisma nicht in Gänze zu unterliegen. Durch Achtsamkeit gelingt es ihnen zuletzt, der eigenen Willkür in Wort und Tat Einhalt zu gewähren. Gandalf bevorzugte deshalb das Modell des transaktionsfreien Wirtschaftens. Auch setzte er auf äußerste Transparenz aller direkt abgestimmten Regelungen für ein soziales Miteinander. Subsistenzwirtschaft, die sich, unbeachtet des regulären Marktes, an den Bedürfnissen der Mitglieder orientiert. Folglich war auch das Prinzip der Akkumulation des ökonomischen Potentials durch Arbeitsteilung strikt abzulehnen. Aus Fehlern musste man doch irgendwann einmal lernen.

War nicht der Föderalismus ein installiertes Zwangsprogramm der alliierten Mächte zur präventiven Eindämmung diktatorischer Tendenzen? Verhindert eine buntgemischte, prächtig aufgestellte Farbpalette Einseitigkeit und Eintönigkeit des Malers? Kann Vielfalt die Einfältigkeit alter Machtstrukturen überwinden? Ist das Bunt wirklich das, was wir wollen, schreien wir doch gleichsam nach bundeseinheitlichen Regelungen im Umgang mit der Krise.

Gandalf ist der Überzeugung, dass der tief in national geprägten Staaten verwurzelte Faschismus nur durch einen Kunstgriff zu überwinden sei. Und zwar einzig und allein durch die Kraft gelebter Kunst. Nur durch künstlerisches Reflektieren gelange der Mensch auf den lichtdurchfluteten Posten der Erkenntnis, dem Vorhof mitzugestaltender Zukunft. Allein in der Schöpfernatur eines jeden Einzelnen liege die Möglichkeit, der Manipulation und Willkür zu entrinnen. Nur die Kunst - ob nun technisch ausgefeiltes Schaffen oder rein intuitive Lebenskunst - verfüge über die lebensbejahende Energie, die zur Entschlüsselung des ökonomischen Regelwerks und schließlich zu innerer Einkehr und Frieden führen würde. Das klang sehr optimistisch und doch hatte die Kunst jede Krise überlebt. Bestenfalls wurde die Kunst durch die Krise wachgerüttelt, solange sie nicht unmittelbar unterbunden wurde. Die Kunst aber lässt sich nicht gänzlich ausradieren, weder tilgen noch vollständig instrumentalisieren. Durch feinste Kanäle findet sie ihren Weg aus dem Untergrund hinaus in die Welt. Löst sich von der Seele ihres Schöpfers und umspielt mit Leichtigkeit das träge Weltgeschehen. Allein in ihrer spielerisch angelegten Lebensfreude sei der uns ureigene Faschismus zu bezwingen. Im Spiel will er gezähmt, transformiert, in edlere Ströme geleitet und in reinere Sphären gehoben werden. Nur die Kunst erhebe den Mensch aus dem Moloch faschistoidem Eifers. Und sofern man ihr durch Zensur und Benachteiligung die Grundlage entzieht, wird sie sich neu formieren.

Was sich einst bereits in rüden Durchhalteparolen militanter Patrioten manifestiert hatte, stellen heute die Handlungsunfähigkeitsmantren der neoliberalen Gewinner zur Schau. Sie emigrieren ins geistige Exil ewiger Wellness, den unabhängigsten aller Beauty-Ranch Spa-Bereiche. Sie haben sich alles genommen, indem sie alles nahmen, was andere unter mehr oder weniger rational begründeter Ehrfurcht unberührt gelassen hatten. Ein Tabu nach dem anderen wurde zugunsten der Marktregulation gebrochen und die Zukunft durch das Bemühen jahrzehnte langer Zukunftsforschung noch der Zukunft beraubt. Die Regularien waren ihres Erachtens nach fix. Ihre zulässigen Transparenzen reichen gerade noch heran an die Erkenntnis, das selbst Transparenz ihre Grenzen hat und an den Rändern fasert wie ein alter Pilz. Sie waren gute Verkäufer und Designer, (gar künstlerisch beseelte Schöpfer, daher ihr durchdringender Erfolg in ganzer Linie) die Produkten eine Seele überstülpten, welche sie anderorts ersteigert hatten. Und weiterhin halten sie ihre Pop-up-Philosophien hoch wie einst die 68er ihre Mao-Bibel, kokettieren mit der buddhistischen Leere gleichsam wie mit ihren achieved identities. Selbstbestimmt kapern sie noch die letzten Asselviertel, den letzten Baggerseekiosk und Streichelzoo. Bahnhofskneipe, der Frühschoppen und auch das verruchte Bordell weichen ihrem wertsteigernden Nipes.

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