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Im Schatten eines Doppelturms

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Ab und zu mache ich auf dem Balkon Fotos von Sonnenuntergängen. Die sehen so aus, als befände man sich in wilder Natur: Am unteren Rand Baumwipfel, ansonsten dramatische Wolken, rot, orange, rosa, violett, diverse Blaus. Es könnte sonstwo sein, Canada etwa, oder Australien. Ich muss dafür nichts wegpixeln. Ich muss nur warten, bis die Sonne überhaupt mal zum Vorschein kommt und Berlin nicht unter der ortstypischen Wolkendecke begraben liegt. Und vor allem darf ich die Kamera nicht zu weit nach links bewegen. Da steht nämlich der Spukturm.

Der Spukturm ist eigentlich ein Doppelturm, er besteht aus zwei zusammengeklebten Hochhäusern der 70er Jahre. Die Berliner nennen das Ding »Kreisel«. Sie haben hier seltsame Bezeichnungen. Die höchste Bodenwelle der Stadt, ein Trümmerberg, heißt »Insulaner«. Hannoveraner sind da anders. Wenn sie in eine Masch einen See graben, heißt er Maschsee und nicht Bergziege, ein Hochhaus heißt Hochhaus, in begründeten Einzelfällen auch Anzeiger-Hochhaus, aber nicht Gurke oder Auster. Als gelernter Hannoveraner kann ich in Berlin auch rings um den Spukturm keinen Kreisel erkennen, dafür aber die weltweit komplizierteste Art, das Ende einer Autobahn mit zwei Straßen zu verknoten.

Grob geschätzt 163 Ampeln regeln den zähen Verkehr auf zahllosen Teilabschnitten. Es ist unmöglich, dieses Labyrinth ohne anzuhalten zu überqueren, sogar ein Selbstmordattentäter unter Zeitdruck würde hier unwillkürlich bei Rot warten. Umwürgt von diesem Netz erhebt sich also das »Kreisel« genannte Monument, auf das mein Balkon eine fabelhafte Sicht bietet. Der Doppelturm ist völlig leer und nachts zappenduster bis auf rote Lämpchen an den Kanten zur Orientierung der Flugzeuge, die bis vor Kurzem nach Tempelhof flogen (noch so ein irrer Name! Als wäre da mal die Akropolis gewesen und nicht ein preußischer Exerzierplatz).

Wegen einer Asbestverseuchung, deren Beseitigung fast 100 Millionen Euro kosten würde, darf in den Turm niemand hinein, fast niemand. Ein Architekt, der drin war, hat mir erzählt, man habe von oben eine berauschende Sicht bis hin zum Insulaner und nach Tempelhof und wohl noch weiter. Eine Berlinerin, die nicht drin war, reagierte indigniert auf meine Bemerkung, der Turm verstelle mir die Sicht nach Südosten. Ich sei hier schließlich in einer Großstadt. Mein toter Lieblingsnachbar hätte dem Spukturm und auch dem irren Labyrinth womöglich etwas abgewonnen. Aber Franz Kafka gefiel der Rathausplatz, wie die Ecke damals hieß, auch so.

Auf meinen Abendfotos existiert der Spukturm jedenfalls nicht. Die Leute, denen ich sie zeige, fühlen sich von den Sonnenuntergängen über Baumwipfeln allerdings nicht an Australien oder Canada erinnert. Manche sagen, es sähe aus wie über den Feldern und Wäldern nördlich von Hannover.

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