Читать книгу Mann, Frau, Affe - Volker Hagedorn - Страница 20

Kreuzberger Wandverschiebung

Оглавление

Die Größe einer Wohnung lässt sich nur scheinbar in Quadratmetern messen. Wir waren eingeladen in eine Kreuzberger Wohnung, die mir labyrinthisch und groß vorkam. Sie atmete noch den Geist der Hausbesetzerzeit, der frühen Wohngemeinschaften. Es gab einen gemütlich vollgestellten Flur, zwischen dessen Schränken und Regalen überall offene Türen in Zimmer führten, auf deren Sofas Kinder unterschiedlichsten Alters herumlümmelten oder »Harry Potter« guckten, während die Erwachsenen sich in der Küche versammelten, an einem langen Holztisch. Die Urbewohnerin lebt hier schon seit 25 Jahren, ihr Lebensgefährte kam vor zehn Jahren dazu, Kinder brachten beide mit, außerdem haben sie gemeinsame, ganz blickte ich da nicht durch.

Von den übrigen Fetengästen kapierte ich so viel, dass sie alle irgendwie zusammengehörten, teils hatten sie in Nicaragua die Revolution unterstützt, teils in der BRD eine erhofft, wenn auch nicht gerade den Fall der Mauer, und jetzt beobachteten sie mit Sorge das Ansteigen des Mietspiegels in Kreuzberg. Neuerdings wollen dort auch Leute wohnen, die niemals eine Revolution unterstützen oder ein Haus besetzen würden, Ingenieure, die für den Bau des neuen Flughafens so gut bezahlt werden, dass sie über Kreuzberger Mieten nur lachen können. Dabei ist es für Neumieter jetzt schon so teuer, dass unser Gastgeber sich seine Wohnung gar nicht leisten könnte, bezöge er sie jetzt. Er schlägt sich mit Projekten durch, wie fast alle nicht fest angestellten Akademiker in Berlin. Und innig liebt er seinen Raucherbalkon.

Er war einst aus Westfalen nach Westberlin gekommen, weil er »nicht in Deutschland, aber auch nicht im Ausland leben« wollte. Hier habe er eine neue Familie gefunden, womit er die »Szene« meinte. Das alles floss ein in meinen Eindruck von dieser Wohnung. Sie war vernetzt mit einem virtuellen Dorf aus Freunden und mit Südamerika, in der Küche saßen Westfalen und Mexikaner nebeneinander, irgendwo waren noch zwei Karren mit sanft schlummernden Einjährigen abgestellt worden – mir kam diese vierte Etage wie eine ganze Welt vor. Später rechnete ich durch, wie viele Zimmer es waren, und kam auf drei. Drei Zimmer plus Küche. Es konnten kaum mehr als hundert Quadratmeter sein, den Balkon nicht gerechnet. Aber sie fühlten sich an wie doppelt so viele.

Ich habe mal in einer WG am Prenzlauer Berg gewohnt, die tatsächlich doppelt so groß war. Im Flur konnte man Fahrrad fahren. Aber die gefühlte Grundfläche reichte nicht mal bis zur Wand. Die Leute, die da wohnten, gehörten nicht zusammen und waren falsch gelandet, dauernd zog jemand ein und wieder aus. Wenn aber jemand sein Nest gefunden hat, kommen die Freunde und bringen weitere Freunde mit. Dann fehlen Stühle, aber die Wohnung wächst mit ihren Aufgaben. Ich könnte schwören, dass die Wand dieser Kreuzberger Küche an dem Abend noch um einen halben Meter nach außen gewandert ist.

Mann, Frau, Affe

Подняться наверх