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Der Nachbar aus Nummer 13
ОглавлениеKafka ist gar nicht so. So kafkaesk. Ich begegne ihm jetzt manchmal, mit einem Abstand von 85 Jahren zwar, aber nachbarschaftlich. Er wohnt bloß sieben Häuser weiter, an derselben Straße im Süden von Berlin. Kafka musste damals nicht den Strom der Autos abwarten, um sie zu überqueren und zum Botanischen Garten zu spazieren. Eine Viertelstunde brauchte er bis dahin, ziemlich zügig für seinen geschwächten Zustand. »Meine Gasse ist etwa die letzte halb städtische, und hinter ihr löst sich das Land in Gärten und Villen auf, alte üppige Gärten.« Das schrieb er aus seiner ersten Wohnung hier im Stadtteil, ehe er noch näher an die Gärten zog, in meine Straße. Meine?
Dass ich eigentlich in seine geraten bin, wusste ich zuerst gar nicht. Das ist auch besser so. Womöglich hätte es mich von der Gegend abgeschreckt. Ich verehre ihn, aber bis vor einiger Zeit fand ich ihn auch irgendwie unheimlich, als Typ, das ist schwer zu erklären. Dann kam ich an einer netten kleinen Villa vorbei, an der eine Gedenktafel hängt, las die Tafel und erfuhr, dass er da gewohnt hat, in seinem letzten Lebensjahr. Mit vierzig. Das Haus hat eine völlig unkafkaeske Ausstrahlung. Als Vorteile nannte der Mieter aus Prag ein sonniges Wohnzimmer, »Centralheizung und elektrisches Licht«. Er blieb nur zehn Wochen, ehe er mit seiner neuen Freundin woanders zusammenzog.
Aber Leute wie er sind immer da. Ich versuche ihn manchmal zu sehen, klein und viel zu mager und mit diesen großen Augen und seiner schräggestreiften Krawatte. Denn ich weiß, dass er hier rumlief, am Lidl vorbei, am Fahrradgeschäft, wo natürlich andere Geschäfte sich befanden, zum Rathausplatz, der damals noch keine städteplanerische Idiotie mit Asbesthochhaus war, aber mit Buchhandlungen dreimal so gut ausgestattet. Und ich finde ihn nicht mehr unheimlich. Seit Kafka für mich Passant ist und Mieter in der kleinen Villa, nicht mehr nur Dichter, hat er was Normales, ein Typ, der hier viel spazierengeht, freundlich, frisch verliebt, nicht berühmt.
Einmal gerät er irgendwie ins Lidl. Da guckt er sich die Kameras an, das triste Licht, die Warenstapel, sucht vergeblich nach Verkäufern, auch nach Produkten, die er ihrer Verpackung wegen nicht erkennen kann, das ist für ihn noch rätselhafter als für uns sein »Schloss«. Da kriegt er vor der Tiefkühltruhe einen Hustenanfall und will weg, und ich sage vorsichtig »Hallo, Herr Kafka« und führe ihn an der Kasse vorbei. Von da findet er den Weg zum Botanischen Garten, die Ampeln verschwinden, die Autos werden rar. Ich bin trotzdem nicht neidisch: Für seine zwei Zimmer muss er eine halbe Billion zahlen, wegen Inflation. Aber stolz bin ich schon auf ihn, den Mann aus Nummer 13.