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Tiere blicken dich an
ОглавлениеNeulich bin ich mal wieder in meiner Lieblingsgegend spazierengegangen, nördlich von Hannover, in den Feldern ums Dorf, in der Dämmerung. Außer mir war nur noch ein Trecker unterwegs, ich wusste auf einmal nicht mehr, wie man Stress buchstabiert. Und dann waren da die Kühe. Zehn Kühe standen hinterm Zaun in einer Reihe unter Bäumen. »Guten Abend«, sagte ich, und weil mir das etwas zu wenig schien für so viele, fügte ich an: »Na, ihr?« Es ist nicht leicht, bei Kühen den richtigen Ton zu treffen, aber sie fanden es wohl okay. Gemeinsam sahen sie mir nach, während ich vorbeispazierte.
Und diese Stille! Wenn ich jetzt auf den Balkon trete, höre ich Autos brausen und sehe hunderte von Menschen, Straßen, Häuser und Hochhäuser, ein paar Bäume auch, aber hinter denen ist die Stadt noch lange nicht zu Ende. Es ist in Berlin nicht einfach, sich vorzustellen, wie es wohl war, als hier nur ein paar Dörfer in der Landschaft standen. Aus dieser Zeit ist in meinem Stadtteil ein Straßenname geblieben, »Frohnhofstraße«, da muss es einen Hof gegeben haben. Die Straße ist eine Asphaltschlucht, eingeklemmt zwischen S-Bahn-Damm und den Spukturm, dessen obere Etagen bei Nebel verschwinden.
In so einer Stadt ist eine Kuh seltener als ein Eisbär. Denn Kühe in Halbtrauer, wie Arno Schmidt sie nannte, also das ganz normale europäische Fleckvieh, gibt es nicht mal im Zoo. Wer in Berlin eine Kuh sehen will, begibt sich zur Domäne Dahlem. Das ist ein Ökohof mit U-Bahn-Anschluss, umgeben von Stadt und mit immerhin so viel Feld, dass man eine Viertelstunde braucht, um das Areal abzuschreiten. Am Wochenende gibt es Märkte und Kinderbelustigung, dann kommen viele Familien, und den Kindern werden die Rinder gezeigt. Ein paar Tage nach meinem Landspaziergang fuhr ich dorthin. Ein junger Stier wurde im Kreis geführt, auf dem Kinder reiten durften, und eine Mutter sagte zu ihrem Kind: »Willst du die Kuh nicht mal anfassen?« So werden Bildungslücken von einer Generation an die andere weitergereicht. Während in Walsrode jedes Kind eine Kuh von einem Stier unterscheiden kann, kennen kleine Berliner den Unterschied zwischen U-Bahn und S-Bahn. Aber es gab auch eine richtige Kuh dort auf dem Ökohof. Zehn Städter standen am Gatter und sahen sie an.
Das Tier stand auf einer kleinen Weide und blickte irritiert auf die Zuschauer. »Guck mal, wie die guckt!«, sagte einer. Ich dachte daran, wie ich allein den zehn Kühen gegenübergestanden hatte. Wie still es gewesen war. Wie herrlich es ist, wenn eine ganze Herde im Galopp über die unermesslichen Weiden der norddeutschen Tiefebene donnert. Ich bin nun mal kein Berliner. Ich hätte mich zur Vorführkuh auf die Weide setzen können, mit einem Schild am Zaun: »Hausrind, 2 Jahre, Niedersachse, 47 Jahre«. Vielleicht hätten sich noch ein paar weitere Zugereiste danebengesetzt.