Читать книгу Kommissar Katzorke - Volker Lüdecke - Страница 11
Endlich Ferien!
Оглавление„Guten Morgen, Faruq! Du kannst noch liegen bleiben, wir haben Ferien. Bleib einfach unter meiner Kuscheldecke, ich bringe uns Frühstück herauf. Keine Sorge, meine Eltern haben Zimmerverbot. Die dürfen hier nicht herein. Gleich zurück.“
Deborah drückte ihrem ersten Geliebten, der noch etwas schläfrig in die ungewohnte Umgebung blinzelte, einen sanften Kuss auf die Lippen. Dann öffnete sie die Tür ihres Mädchenzimmers und ging im Pyjama hinaus.
Faruq fühlte das weiche Kissen unter seinem Kopf und wagte es nicht, sich zu bewegen. Nur seine Pupillen tasteten die sich schräg zu den Fenstern hin absenkende Zimmerdecke und die rosafarbenen Wände ab, ohne dass er wusste, wonach er eigentlich suchte. Alle Gegenstände, die er erkennen konnte, waren geordnet. Ein Regal an der Wand neben dem Fenster, wo nach Fächern alphabetisch sortiert ihre Schulbücher standen und eine Sammlung CDs, ebenfalls in alphabetischer Reihenfolge.
Auf dem Deckel einer blauen Holzkommode mit Schminkspiegel und kunstvoll gedrechselten Bordschwingen waren mit Staub bedeckte Playmobil Country Figuren um einen Playmobil Bauernhof gruppiert, was ihm zeigte, dass Deborah noch unlängst, wie er selbst, eher ein Kind als ein Teenager gewesen war.
Er erinnerte sich bildhaft, was in den vergangenen vierundzwanzig Stunden geschehen war. Extrem gegensätzliche Gefühle versuchten gleichzeitig, Raum in ihm zu greifen. Frau Fischer hatte vor der versammelten 10b mit seinem Zeugnisblatt in der Hand zu einer Rede angehoben, die einem politischen Statement gleichkam.
Die deutsche Sprache sei besonders für Schüler mit ausländischer Herkunft Voraussetzung für Integration, Bildung und eine erfolgreiche berufliche Karriere. Wer zu wenig Vokabular in seinem Gehirn abgespeichert habe, könne auch nicht kompliziert denken, weil Wörter eben die Flügel der Gedanken wären. Die deutsche Sprache, und so weiter… bla, bla, bla, und so weiter, bla, bla!
Deshalb habe sie lange über die Benotung von Faruqs Leistungen im Deutschunterricht nachgedacht und sei eben aus dieser Tatsache heraus zu dem Schluss gekommen, wer als Schüler nachlässig oder gar fahrlässig mit der deutschen Sprache umgehe, befördere auch insgesamt eine grundsätzlich falsche Einstellung zum Unterricht und damit zum Fundament unserer Bildung. Der Schüler zeige nicht die Bereitschaft, sich in die Klassengemeinschaft einzufügen und in die deutsche Gesellschaft zu integrieren.
Es war an dieser Stelle ihres pathetischen Vortrags eine Unruhe in der Klasse 10b entstanden, denn Faruq war allgemein bekannt als einer der beliebtesten Mitschüler. Weil er zwar nicht labern konnte, dafür aber witzig war.
Frau Fischer hatte sofort demonstrativ ihren Arm mit gestrecktem Zeigefinger gehoben, um wie eine Dompteurin im Zirkus mit ihrer Show in der darauf folgenden, angespannten Stille fortfahren zu können.
Ihre Stimme war einen Halbton höher als zuvor, als sie weiterhin energisch ihr politisches Statement ausführte. Nämlich, dass sie nicht die Möglichkeit gesehen habe, Faruq, unter Berücksichtigung seiner Herkunft, seiner Familie aus dem Iran, eine Vier minus geben zu können. Sie, Frau Fischer, wäre stattdessen der festen Überzeugung, dass es im Sinne einer modernen Pädagogik gerechtfertigt und notwendig sei, dass er die zehnte Klasse noch einmal wiederhole.
Dies wäre für ihn eine zweite Chance für sein Fortkommen, wenn er den Stoff des Deutschunterrichts noch einmal gründlich in derselben Klassenstufe auffrischen dürfe.
Faruq hatte währenddessen auf seinem Stuhl mit den Tränen gekämpft, denn vor seinen Augen flog noch einmal die verhängnisvolle Mandarine als Wurfgeschoss durch das Klassenzimmer, landete klatschend im Gesicht von Frau Fischer, woraufhin ihr der immerhin frisch gepresste Mandarinensaft noch einmal in ihren Ausschnitt tropfte.
Sein Zeugnis, das sie ihm gestern mit kaum sichtbarem Grinsen überreicht hatte, war der Alptraum des letzten Schultages vor den Ferien. Woran sich für Faruq fast übergangslos das bisher schönste Erlebnis seines Lebens angebahnt hatte, als Deborah ihn nach einem gemeinsamen Spaziergang gefragt hatte, ob er mit zu ihr kommen wollte.
Mit geröteten Augen unter seinem schwarz gelockten Ponyschnitt hatte er ihr schüchtern zugenickt, worauf sie sich heimlich durch das Haus von Deborahs Eltern in ihr Zimmer geschlichen hatten. Seiner Mutter hatte Faruq von unterwegs eine kurze Nachricht geschickt, er sei von seinem Schulfreund Jonas eingeladen und bleibe bei der Familie zum Abendessen.
Für Faruqs Mutter bedeutete dies eine besondere Ehre, die ihr Sohn auf keinen Fall zurückweisen durfte. Sie ließ ihn in Ruhe, auch wenn ihre Neugier auf seine Zeugnisnoten groß war. Faruqs Eltern waren sehr stolz darauf, wie gut sich ihr Sohn in die deutsche Gesellschaft integriert hatte und wie gemocht und anerkannt er bei seinen Schulfreunden in der fremden Heimat schon war.
Insgeheim verspürten sie gleichzeitig Angst, dass er ihnen eines Tages fremd werden könnte. Als Eltern waren sie vergleichsweise alt und in ihrer Kindheit mit den strengen Konventionen der iranischen Gesellschaft in der südlichen Vorstadt von Teheran aufgewachsen. In einer Zeit, als eine unbedachte Handlung die Wut religiöser Eiferer auf den Plan rufen konnte, mit manchmal verheerenden Folgen.
Deborah kam mit einem Tablett zurück ins Zimmer, auf dem ein Teller mit einem Stück Marmorkuchen und ein Pott Kaffee standen.
„Entschuldige, meine Eltern haben schon die Koffer gepackt. Die stehen schon unten an der Haustür. Ich muss schnell meine Tasche runterbringen, sonst kommt meine Mutter herauf.“
Eilig stapelte sie ein paar Kleidungsstücke in eine Reisetasche, legte ein Buch und ein paar Schminkutensilien obendrauf und trug die vollgepackte Tasche zur Tür.
„Der letzte gemeinsame Urlaub mit meinen Eltern. Nächstes Jahr reisen wir beide gemeinsam, Du und ich! Versprochen. Ich bringe die Tasche nach unten, dann zeige ich dir einen Weg über die Terrasse in den Garten hinaus.“
Damit eilte sie wieder zur Tür hinaus und Faruq sprang eilig aus dem Bett, um sich anzuziehen. Eine peinliche morgendliche Begegnung mit Deborahs Eltern wollte er unbedingt vermeiden. Als er fertig war, sah er auf dem Display seines Handys, dass es keinen Empfang hatte.
Es war ein älteres Modell mit abgegriffener Oberfläche und geringer Akkulaufzeit, so dass er es gut als Ausrede benutzen konnte, wenn er einmal für seine Eltern nicht erreichbar sein wollte. Aber nun wunderte er sich über das Funkloch, das es in Berlin Gatow am Ufer der Havel gab, in der zweigeschossigen Villa mit malerischem Blick über die Havel auf den Grunewald am gegenüberliegenden Ufer. Eine exklusive Adresse, wo Familie Voss mit ihrer Tochter Deborah residierte. Er war zum ersten Mal da und kam aus seiner Verwunderung über ihr luxuriöses Ambiente gar nicht mehr heraus.
Auf einmal gab es ein seltsames, ihm unbekanntes Geräusch an den Fenstern. Die elektrisch betriebenen Jalousien fingen an, sich mit einem schnurrenden Geräusch vor das Fensterglas von Deborahs Zimmer zu schieben. Im nächsten Augenblick hörte er ihre Schritte draußen vor der Zimmertür die Treppe heraufeilen. Deborah stürzte herein und redete hastig auf ihn ein.
„Keine Panik, Faruq! Mein Vater checkt die moderne Haustechnik, aber er kapiert sie einfach nicht. Ich sorge auf jeden Fall dafür, dass Du von hier aus unentdeckt in den Garten kommst. Warte, bin gleich zurück!“
Bevor Faruq sich irgendwie dazu äußern konnte, war sie schon wieder weg. Er hörte, wie sie auf der Treppe laut „Papa, lass mich das machen!“ rief. Die Jalousien schnitten einen letzten Schlitz des sommerlich hereinströmenden Sonnenlichts ab. Auf einmal war es stockfinster in Deborahs Zimmer. Und Faruq wusste noch nicht einmal, wo sich der Lichtschalter befand.
In der Dunkelheit musste er an seine Mutter denken, die ihm leidtat, weil sie sich bestimmt große Sorgen um ihn machte. Er war ja am gestrigen Abend nicht nach Hause gekommen und hatte von daher ein verdammt schlechtes Gewissen. Sein Vater war vermutlich längst bei der Arbeit, und wenn er Glück hatte, war ihm sein Fehlen über Nacht nicht aufgefallen. Seine Mutter, die ihn immer gern etwas verwöhnte, erzählte seinem Vater nicht automatisch alles, was ihn betraf.
Vorsichtig tastete er sich in der Dunkelheit durch Deborahs Zimmer, stieß schmerzhaft mit einem Zeh gegen eine auf dem Boden liegende Hantel, was ihn zögerlich abwarten ließ, bis sich seine Augen besser an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Durch einen minimalen Spalt zwischen zwei Lamellen der Jalousie drang noch ein feiner Lichtschimmer herein. Kaum war es soweit, dass er seine Umgebung wieder einigermaßen detailliert erkennen konnte, wurde die Zimmertür geöffnet und Deborah stand mit verwirrtem Gesichtsausdruck vor ihm.
„Die Hausanlage ist kaputt.“
Faruq verstand nicht, was Deborah ihm zuflüsterte.
„Smart-Home Technik! Alle Türen und Fenster nach draußen sind verriegelt. Automatisch! Du musst dich verstecken.“
Sie öffnete leise einen Bettkasten hinter ihrem Bett, nahm einen Stapel Decken, Kissen und Bettwäsche heraus und deutete mit entschuldigender Geste darauf, er solle hineinklettern. Faruq selbst war so verwirrt, dass sie ihn zu dem Versteck hinschieben musste, bis er begriff, was sie von ihm wollte. Er stieg hinein und sie schloss den Deckel über seinem Lockenkopf gerade noch rechtzeitig, bevor ihre Mutter Sandrine im Zimmer stand.
„Festnetz ist auch defekt. Hast Du mit deinem Handy Empfang, Deborah? Was willst Du denn mit der Bettwäsche?“
„Brauchen wir im Urlaub keine?“
Sandrine schüttelte den Kopf und nahm Deborahs Handy entgegen, um den Service für ihr Smart-Home anzurufen.
„Auch kein Empfang! Deborah, in zwei Stunden hebt unser Flugzeug in Tegel ab. Fünf Sterne Hotel auf den Malediven. Ich habe mich riesig auf unseren Familienurlaub gefreut. Hilf bitte deinem Vater, diese neue Technik zu begreifen. Dann hast du bei mir etwas gut.“
Deborahs Mutter war den Tränen nah. Deborah zog sie mit sich aus dem Zimmer.
Faruq öffnete den Deckel des Bettkastens einen Spalt, um wieder Luft zu kriegen. Was sollte er jetzt machen? Er wusste, seine Eltern machten im Moment eine schwere Zeit durch.