Читать книгу Kommissar Katzorke - Volker Lüdecke - Страница 13
Selfmade Man
ОглавлениеEiner, der täglich zwölf bis vierzehn Stunden am Computer verbringt, verfügt in der Regel kaum über eine Modelfigur. Ron schaffte es immerhin, noch einen Arsch in der Hose zu haben, wie er es zu formulieren pflegte, wenn er sich in einem der zahllosen Chats beschreiben sollte, was er niemals durch ein echtes Foto von sich belegte. Es war ihm egal, was die anderen von ihm hielten, wenn er mit Igor, dem Hund seiner Mutter, durch den Wustrower Park joggte.
Seine Honorare erhielt er anonym per Bitcoins, die Aufträge führte er pünktlich und zur Zufriedenheit seiner Kunden aus. Dabei interessierte ihn nicht, wer seine Auftraggeber waren, solange er bei dem Deal ein gutes Gefühl hatte. Änderten sich die Konditionen, konnte er zickig werden, denn Änderungen bedeuteten zusätzlichen Zeitaufwand. Und Zeit hatte er nicht, denn seit er einundzwanzig war, hatte er sich vorgenommen, bis zu seinem dreißigsten Geburtstag mehrfacher Millionär zu sein. Um anschließend die Tapeten entscheidend wechseln zu können. Do svidaniya, Berlin!
Die Unwissenheit der meisten Mitbürger über die Möglichkeiten des Internets betrachtete er für sich als eine grandiose Chance, die sich vielleicht in ein paar Jahren oder gar Monaten nicht mehr ergeben könnte, sofern Polizei und Geheimdienste aufrüsteten, um ihn und seine Mitbewerber um die lukrativen Research Jobs zu bringen.
Was danach kommen würde, wusste er nicht. Er hatte aber einen realistischen Traum. Dass er dann am Meer sein würde und alles um ihn herum wäre sonnig und angenehm. Konkretisieren wollte er diese unscharfe Imagination nicht. Ein Traum, der zu konkret aussieht, verliert seinen Zauber. Wenn er sich festlegte, alles verengte, sich ein Leben ausmalte, vielleicht würde es in dem Moment fad werden, wenn er es erreichte. Sein Leben wie ein Poster an der Wand? Für Ron eine grässliche Vorstellung.
Seinen Gepflogenheiten blieb er nicht immer treu, denn manchmal überfielen ihn vor seinen fünf Bildschirmen, an denen er täglich fast rund um die Uhr parallel arbeitete, Bedürfnisse, wie Menschen mit zweiundzwanzig sie allgemein haben. Ins Kino gehen, ein Konzert besuchen, Flirten und Tanzen, etwas gemeinsam in einer Gruppe unternehmen. Deshalb hatte er bei René aus Neukölln eine Ausnahme gemacht, sich mit einem Kunden persönlich getroffen. Etwas, das er normalerweise strikt vermied.
Im Prinzip konnte er sich alle Freizeitaktivitäten leisten, woran es ihm jedoch mangelte, waren eben freie Zeit und Freunde, die ihn mal anriefen, um zu fragen, ob er vielleicht Interesse hätte, spontan mit ihnen auszugehen. Als russlanddeutscher Spätaussiedler war er zusammen mit seiner Mutter Jelena als kleiner Junge von fünf Jahren von Jekaterinburg nach Berlin umgezogen. Sein Vater Victor war bereits kurz nach seiner Geburt als Soldat in Tschetschenien bei einem Sprengstoffattentat getötet worden.
Der frühe Tod seines Vaters, welcher dem Jungen weder von seiner Mutter noch von Armee oder staatlichen Stellen hatte schlüssig erklärt werden können, war die Ursache für sein früh ausgeprägtes Gefühl, dass in der Welt da draußen noch andere Mächte herrschten, als die allgemein bekannten, legalen Einflussnehmer.
Diesem Gefühl war er bereits mit dreizehn Jahren weiter nachgegangen und hatte bald durch seine Aktivitäten im Internet festgestellt, dass er mit dieser Einschätzung richtig lag. Er stieß auf Informationen und Parallelwelten, deren Pforten sich nur demjenigen öffneten, der die vorgegebenen Einlassbedingungen erfüllte.
Im Stadtbezirk Hellersdorf-Marzahn wurde viel für die Integration von ausländischen Jugendlichen getan, manche konnten kein Wort Russisch mehr, aber Jelena hatte ihm die Grundkenntnisse beider Sprachen beigebracht, und oft unterhielten sie sich miteinander auf Russisch, was ihnen ein besonderes Gefühl der Zusammengehörigkeit und Vertrautheit gab.
René hatte Ron eines Abends per Email zu einem Konzert ins Café Sandmann nach Neukölln eingeladen. Einer Eingebung folgend war er spontan darauf eingegangen und kam bald darauf in dem kleinen Lokal mit Livemusik an, wo gerade ein paar versierte Rythm & Blues Musiker jammten und René bei Kippen und Bier an einem der Holztische saß.
Die Einrichtung der Gaststätte hatte für Ron, der sich ansonsten höchstens mal privat zum Schachspielen verabredete, reichlich gebraucht ausgesehen. An diesem Ort war offenbar schon häufig bis spät in die Nacht getagt worden, selbst die alte Holztheke schien einen gewaltigen Bierdurst entwickelt zu haben. Er hatte etwas Anderes erwartet. Die Theke sah aus, als hätte sie Hektoliter an Gerstensaft durch ihre Holzporen eingesogen. So hoch wie sie war, konnte man meinen, sie wäre stetig gewachsen, in den vielen Jahren, seit es dieses Café gab.
Sie hatten erst angefangen zu reden, als die Band eine Pause machte. Zuvor hatte ihn René, wie ein Arbeitgeber einen neuen Bewerber, mit einem tiefen Seufzer angeschaut, so als wollte er sagen, so jung habe ich mir dich gar nicht vorgestellt. Aber dann hatte er ganz offen und frei über seinen Coup geredet, so als beschreibe er vor den offenen Ohren an den Nachbartischen die verschiedenen Level eines Computerspiels.
„Der erste kleine Job für dich war nur ein Testballon, Ron. Jetzt geht es darum, ein neues Level zu bespielen. Schaffst Du das?“
Keiner der Gäste an diesem Abend hatte den ständig Zigaretten anzündenden René mit seiner auffällig schlechten Haut im schmalen Gesicht und mit seinen zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen blonden Haaren ernst genommen. Ganz unverblümt erläuterte er seinem Gegenüber, dem in einen altmodischen, beigefarbenen Anzug mit weißem Hemd gekleideten, kurzhaarigen, spießig aussehenden jungen Mann seinen Plan für die Erpressung einer Bankiersfamilie.
Während er den Facebookaccount der Tochter der Bankiersfamilie manipulierte, erinnerte sich Ron schmunzelnd an seine erste Begegnung mit René.
Nun war er also dabei, voller Vorfreude auf einen vielversprechenden Coup die Chronik eines Strandurlaubs einer höheren Tochter zusammenzubasteln. Nichts leichter als das! Er benutzte einfach die Bilder ihres letzten Urlaubs am Meer, die er aus ihrem Profil herunterlud und morphte ihr Gesicht ein Jahr älter.
Ihre alte Umgebung veränderte er nur sporadisch. Wer schaute sich schon Urlaubsbilder ganz genau an? Wichtig waren seine kurzen Kommentare zu ihren Fotos, denn sie würden von ihren Facebook Freunden geliked und kommentiert werden.
Dazwischen fügte er ein Foto von einem Teller mit einer exotischen Mahlzeit ein, sowie für den ersten Abend einen romantischen Sonnenuntergang am Meer. Er war sich sicher, das gäbe bewundernde Likes und Kommentare!
Jeder Besucher von Deborahs Facebook Seite würde bei solch einem perfekten Urlaub neidisch werden und felsenfest davon überzeugt sein, dass sie sich wirklich zusammen mit ihren Eltern an diesem manipulierten Strand aufhielt.
Zufrieden schloss er die notwendigen Arbeiten ab. Auf einem anderen Bildschirm hatte er die Familienmitglieder zu seinem Vergnügen in ihrem geräumigen Wohnzimmer live im Blickfeld, denn ihr modernes Smart Fernsehgerät, mit Mikrofon und Kamera ausgestattet und andauernd im Standby Modus aktiv, diente der Übertragung via Internet zur heimlichen Aufnahme ihrer häuslichen Aktivitäten.
Die Fenster ihres Wohnzimmers waren durch dicke Rollläden verschlossen, so dass sie tagsüber Lampen für die indirekte Beleuchtung ihres modernen Wohnambientes eingeschaltet hatten, um überhaupt etwas sehen zu können.
Ron hatte das smarte Zuhause dieser Familie im Auftrag von René ausfindig gemacht und weitere Recherchen über ihre Wohnlage und ihren gesellschaftlichen Status angestellt, bis René die Familie Voss letztendlich als geeignet für seinen Coup akzeptierte.
Seine akribische Recherche über die geheimen und verzweigten Kanäle des Internets zahlte sich offenbar aus, denn das Schauspiel der drei im eigenen Wohnzimmer eingesperrten Mitglieder der Bankiersfamilie Voss bot beste Unterhaltung.
Herr Voss tigerte fluchend zwischen Hi-Fi-Anlage und Sitzgruppe hin und her, dabei wild gestikulierend und mit wutverzerrtem Gesicht. Tochter Deborah und seine Frau Sandrine hockten derweil betreten nebeneinander auf dem Sofa und zeigten dermaßen fassungslos blöde Gesichter, dass Ron ihre Live-Performance als „Best Of“ für seine private Videosammlung aufzeichnete. Zufrieden strich er sich über seinen schmalen Oberlippenbart.
„Bald Zeit, unsere Forderungen zu präsentieren?“ Renés verschlüsselte Messengernachricht kam in diesem legendären Moment an.
Ron tippte zurück.
„Gestatte mir, sie noch ein wenig zappeln zu lassen. Wenn Du ihre verblüfften Gesichter in dem Video sehen könntest, großes Kino. Der Schock ihres Lebens.“
René schrieb zurück.
„OK. schick mir eine Kopie! Geteilter Spaß ist doppelte Freude.“