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Der Flug der Mandarine
ОглавлениеDer Schüler Faruq lernte die Regeln der Schulordnung erst kennen, als seine Klassenlehrerin ihm einen Verweis erteilte.
„Das Werfen mit Gegenständen wie Dosen, Schneebällen, Kastanien, Steinen, usw. ist grundsätzlich verboten. Ausgenommen davon sind Bälle, die für Pausenspiele von Lehrern/innen dafür ausgegeben werden.“
Er hatte mit einer Mandarine geworfen. Oder war es eine Clementine? Egal, die Frucht flog quer durch das Klassenzimmer auf die Eingangstür zu, während sie sich gerade öffnete und traf halb mittig das Gesicht der Frau Fischer, seiner Klassenlehrerin. Perfektes Timing gelingt meistens nur, wenn man es absolut nicht braucht.
Patsch! Das Geräusch des Aufschlags würde ihm für immer unvergesslich bleiben. Saft und Fruchtfleisch der Mandarinenscheiben spritzten beim Einschlag und befeuchteten Nase und Wangen der 10 b Klassenlehrerin am Hans-Carossa-Gymnasium, Berlin Kladow. Direkt gepresster Fruchtsaft lief ihr in den Ausschnitt, obwohl sie sich sofort nach dem Einschlag mit ausgebreiteten Armen seltsam vornübergebeugt hatte.
Getobt hatte die Klasse, eine aberwitzige, unkontrollierte Schadenfreude brach los. Plötzlich brüllten die Schüler ihre unterdrückten Sorgen und Ängste ungehemmt heraus. Party, schon drei Monate vor dem Beginn der großen Ferien? Sowas von genial!
Aber so etwas führt nicht geradewegs zu guten Noten. Deutsch und Mathe, beides Fächer, in denen Faruq knapp zwischen vier und fünf lag, boten einen Ermessensspielraum. Obwohl der Mandarinensaft schnell abgetrocknet war und das Wurfgeschoss nur eine leichte Rötung auf Frau Fischers blassem Teint hinterlassen hatte, etwas bleibt doch immer hängen.
Auch Klassenlehrerinnen können nachtragend sein.
Am Zeugnistag vor den Sommerferien hielt sich Faruq auf dem Pausenhof auf. Seine Mitschüler redeten über Ferienpläne. Allein an ihren exotischen Reisezielen wurde deutlich, dass das Einzugsgebiet der Schule, bis auf wenige Einzelfälle, kein sozialer Brennpunkt war.
Nicht bei allen höheren Töchtern und Söhnen war die Stimmung ausgelassen. Vor allem, wenn die Versetzung gefährdet war. In einigen Gesichtern spiegelte sich die Sorge vor der Zeugnisvergabe in der nächsten Stunde, obwohl sie sich nichts anmerken lassen wollten. In manchen Familien des bürgerlichen Mittelstands herrschte seit der Grundschule ein Leistungsdruck, der bei missratenen Leistungsnachweisen Freizeitinteressen gefährdete und sie bei ganz schlechten Zeugnisnoten sogar unter sich begrub. Was einigen an diesem Tag drohte, war allen klar.
Faruq zitterte weniger aus familiären Gründen, sondern wegen des Vorfalls mit der Mandarine. In den Wochen darauf hatte Frau Fischer immer schärfere Kritik an seinen mäßigen Deutschkenntnissen geübt. Zwar resultierten sie aus der Herkunft seiner Eltern aus dem Iran, aber Frau Fischer ließ das als Ausrede neuerdings nicht mehr gelten. Schließlich sei er in Deutschland geboren und es stehe ihm frei, auf Deutsch zu kommunizieren und die Sprache zu üben.
Faruq war zwar fast sicher, dass es schon nicht so schlimm kommen würde, aber ein dumpfes Gefühl spürte er trotzdem in der Magengrube. Für zusätzliche Spannung sorgte die neben ihm auf der Bank sitzende Klassenkameradin Deborah, die wie versehentlich mit ihren schwarz lackierten Fingernägeln von seinen hübschen dunklen Locken an federleicht über seinen Nacken Wirbel für Wirbel seines Rückens hinabtastete. Er trug nur ein dünnes T-Shirt, so dass seine Nackenhaare allesamt gleich steil aufrecht standen.
„Was ist los, Faruq?“
Sein bester Schulfreund Jonas Poborskie, ein kantiger Bursche mit Kurzhaarschnitt, grinste ihn breitmäulig an.
„War das vor zwei Monaten vielleicht dein entscheidender Wurf?“
Alle aus seiner Klasse, die um die Sitzbank herumstanden, lachten und erlebten den legendären Mandarinenflug noch einmal nach. Nur Faruq presste seine Lippen aufeinander und blies seine Wangen auf, wodurch er aussah wie ein Fallschirmspringer im freien Fall. Zu Hause hatte er die Grimasse vor dem Spiegel geübt. Am Ende seiner Darstellung ließ er einen ausgedehnten Pfiff hören, dem ein fulminantes Aufschlagsgeräusch folgte, das seinen harten Aufprall als „Sitzenbleiber“ dramatisieren sollte. Das Renommee dieses Titels wollte er den Versammelten auf seine Weise drastisch vor Augen führen.
Allgemeines Gelächter. Einige Mitschüler konnten sich nicht in seine Lage versetzen und zeigten sich schadenfroh. Wie er sich nach der Zeugnisvergabe als Sitzenbleiber tatsächlich fühlen würde, wenn es dazu käme, konnte Faruq sich nicht einmal selbst vorstellen.
Logik und Emotionen zu vereinbaren, war für ihn ein Problem. Auch Ironie konnte Faruq nur selten gleich erkennen und daher auch nicht schlagfertig erwidern. Dafür verstand er sich umso besser auf die Darstellung witziger Szenen. Damit stand er in den Pausen im Mittelpunkt.
Sein Spitzname „Boxer“ stammte daher. Mit seiner breiten Nase und seinen schwarzen Brauen, die sich als zwei hohe Bögen über seinen Augen wölbten, sah er markant aus. Doch erst sein pantomimischer Live-Boxkampf mit Treffern eines imaginären Gegners hatte ihn in den Rang eines Entertainers befördert. Streber nannten ihn abfällig Klassenclown. Er konnte sein Gesicht wie ein Sofakissen zerknautschen und total echt einen Zombie mimen. Seine beste Performance aber blieb der Boxkampf, bei dem er einen überlegenen Gegner leibhaftig auferstehen ließ. David gegen Goliath fanden alle phänomenal.
Zwei Stunden später, nach der Zeugnisvergabe, redeten Faruq und Deborah über den Tod.
„In Japan springen Manager aus dem zehnten Stockwerk, wenn sie versagen.“
„Du bist aber kein Manager.“
Mit ihren schwarz geschminkten Lippen im Gruftie-Outfit wirkte Deborah wie ein Todesengel, aber genau das Gegenteil traf auf sie zu. Sie stand Faruq in der bitteren Stunde bei. Aus persönlichen Rachegelüsten hatte Frau Fischer Faruq gecancelt, das war klar. Was das Leben noch für einen Sinn machte, wenn er aus seinen sozialen Beziehungen herausgerissen würde, hatte sie nicht interessiert.
„Diese böse Fee! Ich hasse sie.“
„Hast Du noch Kontakt zu einem der Sitzenbleiber vom vergangenen Schuljahr?“
Scheu blickte Faruq bei seiner Frage auf die Erde, sah aus den Augenwinkeln, wie Deborah den Kopf schüttelte. Ein Abgrund öffnete sich, und er schonte sich nicht, hinabzublicken.
Vielleicht wäre es besser, sich nach einer solch einschneidenden Entscheidung künftig aus dem Weg zu gehen, überlegte er. Für ihn bedeutete das allerdings eine noch größere Katastrophe. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er eine enge Beziehung zu einer Mitschülerin, eine Nähe, wie er sie noch nie zuvor empfunden hatte. Eine dicke Freundschaft existierte bereits länger, aber seit kurzem hoffte er, dass mehr daraus werden könnte.
Noch am frühen Morgen vor der Schule war ihm die Vision, dass sie Hand in Hand auf einem geraden Weg in ihre Zukunft gehen würden, ganz natürlich erschienen. Drei Stunden später, auf dem Spielplatz, wo sie für gewöhnlich rauchten, quälte ihn der Gedanke, dass ihre Freundschaft nach den Sommerferien vorbei sein könnte.
In Weltuntergangsstimmung verließen sie den Spielplatz und liefen, ohne auf den Weg zu achten, durch einige Straßen mit Gärten vor Reihenhäusern, dann durch eine Siedlung mit Einfamilienhäusern und danach entlang einer vielbefahrenen Straße, bis sie plötzlich, immer noch ohne ein konkretes Ziel, vor der alten Zitadelle standen.
Düster ragte die Renaissancefestung am Zusammenfluss von Havel und Spree vor ihnen auf, umgeben von Wassergräben und Wällen, an denen sie entlangspazieren konnten. Faruq war hier gern unterwegs, denn er liebte alte Gemäuer, deren Geschichte ihn glücklichere Zeiten ersinnen ließ. Seine Eltern hatten ihm aus ihrer früheren Heimat Iran berichtet, weshalb Teheran für ihn zu einem Sehnsuchtsort geworden war. Er selbst hatte die Stadt noch nie gesehen, so dass seine Fantasie nach einem Ersatz dafür verlangte. Diese alte Zitadelle gab ihm ein Gefühl von Zugehörigkeit, als gäbe es hier, inmitten der Altstadt von Spandau, ein geheimnisvolles altes Persien.
„Hier gibt es jede Menge Fledermäuse.“
Deborah lächelte ihn mit einem gespielten Ausdruck von Schaudern an, so dass er gleich ein Batman Gesicht formte und Bewegungen machte, als klettere er gerade eine Skyscraper-Fassade hinauf. Ihre Traurigkeit löste sich für einen Moment auf und sie rannten bis zum Wasser, dessen Oberfläche wie ein glänzender Spiegel vor ihnen lag. Auf der Ufermauer hockten sie sich nebeneinander und ließen ihre Füße über dem glitschigen Moos baumeln, das unter ihnen an den Steinen heraufwuchs.
Auf einmal fasste Deborah Faruqs Hand.
„Ich will nicht, dass es vorbei ist. Verstehst Du?“
In ihren Augen schimmerte ein bewegender Glanz, für ihn ein Anblick, dessen Schönheit alles übertraf, was er bisher in seinem Leben gesehen hatte.
„Ich auch nicht.“
Es brauchte keine weiteren Worte, um dem Glücksgefühl ihrer festen Verbundenheit noch verbalen Nachdruck zu verleihen. Dies alles war ihnen ganz unbekannt, aber fühlte sich rund und vollkommen an in diesem Augenblick, wie sie da so saßen, ihre Handflächen und Finger einander berührend.
So saßen sie eine ganze Stunde fast bewegungslos, zart aneinander gelehnt, das Neue in sich gleichzeitig mit allen Sinnen auskostend, mit einer bangen Zuversicht, dass es mit ihnen weitergehen könnte.
„Wenn ich jetzt sterben müsste, hätte ich schon schön gelebt.“
„Nein, uns wird es immer geben. Sagt mir mein Bauch. Weißt Du, worüber er noch mit mir spricht?“
Faruq blinzelte verwirrt, wusste keine Antwort.
„Er sagt: hallo, Faruq, ich lade dich zu ´ner Pommes ein, hab nämlich dollen Hunger!“
Deborah ergriff die Initiative, um den großen, zugleich betrübten und beglückten Jungen Faruq mit sich in eine fröhlichere Stimmung hinüber zu reißen, zurück in eine greifbare Realität. An der Hand zog sie ihn mit sich, wobei sie, lächelnd vor ihm rückwärtsgehend, einen tiefen Blick in seine weit geöffneten dunklen Augen wagte.
Dort entdeckte sie genau das, wonach sie sich selbst schon so lange gesehnt hatte.