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Auf gutem Weg

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Mirandas Postkarte, die am Morgen in der Vivantes-Komfortklinik eingetroffen war und später mit der übrigen Post in den Einzel- und Zweibettzimmern der Reha-Station verteilt worden war, las Katzorke akribisch und mit großer Aufmerksamkeit durch.

Allein, dass er die Buchstaben entziffern konnte, war für ihn eine Sensation. Die Umrisse der Schrift, die er unter einem Lupenglas betrachtete, wirkten zwar noch weder scharf noch kontrastreich, aber Hell und Dunkel konnte er klar unterscheiden, vor allem, wenn er mit einer starken Taschenlampe einen Lichtkegel auf Mirandas Schreibschrift fokussierte.

Wie ein Erstklässler, der gerade Lesen lernt, ging er Buchstabe für Buchstabe durch, merkte sich dann Wort für Wort, um am Ende daraus einen ganzen Satz zu bilden, den er in seiner Gesamtheit noch nicht auf einmal komplett überblicken konnte.

Was er entzifferte war, dass Miranda und Sandor gerade Urlaub auf Teneriffa machten. Miranda litt unter einem schmerzhaften Sonnenbrand und Sandor war der Meinung, dass Teneriffa der ideale Drehort für einen Krimi wäre, bei dem ein als Frau verkleideter Gangster arglose Bikinischönheiten auf seine Motoryacht lockte.

Katzorke schmunzelte über Sandors Einfall, denn gemessen an seinen langjährigen Erfahrungen im Dienst der Berliner Polizei fand er die Handlung doch eher unwahrscheinlich und wenig glaubwürdig. Sandor war also immer noch der große Kindskopf, genauso, wie er ihn zusammen mit Miranda kennengelernt hatte.

Seine aus früheren Tagen lieb gewonnenen Freunde grüßten ihn herzlich und wünschten ihm viel Erfolg bei der Therapie seines Sehvermögens. Katzorke freute sich darüber. Die Karte endete mit einem spanischen Wort: Suerte!

Versonnen träumte er sich ans Meer der Insel Teneriffa, so intensiv, dass Meeresrauschen und Strandgerüche ganz nah schienen, bis er für einen Moment die Eingebung hatte, draußen auf dem Flur vor seinem Einbettzimmer tatsächlich Mirandas Stimme zu hören. Gleich lauschte er zur Tür, als müsse sie sich jeden Augenblick öffnen und die junge Frau mit einem duftenden Blumenstrauß an sein Bett treten. Doch nichts dergleichen geschah.

Seit dem fast vollständigen Verlusts seines Augenlichts überfielen ihn gelegentlich solche Tagträume. Da es um ihn herum meistens düster war, fand er helles Licht nur in seinen Erinnerungen. Sinnestäuschungen, eine Vermischung von Traum und Wirklichkeit waren die Folge.

Vermutlich waren Krankenschwestern scherzend in dem Flur vor seinem Patientenzimmer vorbeigezogen, und er hatte ihr Lachen in seinen Tagtraum integriert. Er wünschte sich so sehr, einmal Mirandas Gesicht zu sehen, um seine Vorstellung von ihr mit ihrem wirklichen Aussehen zu vergleichen. Vielleicht sah sie ganz anders aus, als ihre Stimme vermuten ließ?

Miranda hatte ihn auf das bionische Auge aufmerksam gemacht. Eine Chance für Erblindete, und das nicht erst in der Zukunft, hatte sie gesagt. Zwanzig Jahre lang hatten Forscher an diesem Implantat gearbeitet, die Ergebnisse wurden mit dem Fortschritt der Medizintechnik immer besser.

„Du musst das einfach ausprobieren, bitte!“

Mit eindringlicher Stimme hatte sie ihn dazu aufgefordert, fast wie eine Tochter, die sich Sorgen um ihren Vater macht. Längst hatte er Miranda in seinem Herzen adoptiert und auch ihren Freund Sandor mochte er, aber auf etwas distanziertere Weise.

Nach der erfolgreichen Augenoperation in einer Heidelberger Spezialklinik war Katzorke zur anschließenden Reha zurück in seine Heimatstadt Berlin gereist. Der Zweck der Reha in der Klinik bestand darin, sein Gehirn an die neuen Reize der Sehnerven zu gewöhnen. Er stellte sich das so vor, dass durch alte, verrottete Kabel plötzlich wieder Starkstrom fließen sollte. Die Gefahr eines Kurzschlusses, fürchterliche Kopfschmerzen, musste er in Kauf nehmen, wenn er zumindest ein Sehen in Schwarzweiß, aus Hell und Dunkel, wiedererlangen wollte.

„Ein rundum entspannter Körper ist für die Bildung von neuen Gehirnzellen eine der wichtigsten Voraussetzungen. Stress sollten Sie auf jeden Fall vermeiden, und überanstrengen Sie sich nicht. Seien Sie nicht zu ehrgeizig!“

Dr. Globb, die Leiterin der Reha-Abteilung, hatte ihn gleich nach seiner Ankunft in die Maßnahmen und Ziele der Therapie eingewiesen. Das individuell auf ihn zugeschnittene Tagesprogramm diente vor allem der Förderung seines Kreislaufs. Mit leichten sportlichen Aktivitäten sollte eine bessere Durchblutung erreicht werden, um insgesamt seine Körperzellen mit mehr Sauerstoff zu versorgen. Alles war genau aufeinander abgestimmt, auch eine spezielle Ernährung sollte den Zellaufbau fördern.

Katzorke hatte sich gespannt auf alles Neue eingelassen. Vor allem ließ er sich gern massieren, paddelte wohlig in dem badewannenwarmen Wasser des im Keller der Klinik befindlichen Schwimmbeckens oder radelte auf einem Indoor-Bike durch die Landschaft seiner Imaginationen.

Nach den ersten Tagen seines Aufenthalts konnte er jedoch frustriert noch keine Besserung seines Sehvermögens feststellen. Im Gegenteil, versuchte er einen schwarzen Punkt auf einem ein Meter entfernten weißen Blatt zu fokussieren, blieb das Ergebnis so unscharf wie zuvor. Ja, er glaubte auf einmal sogar, eine noch größere Unschärfe wahrgenommen zu haben. Auf seine Bemühungen folgten bohrende Kopfschmerzen, für die der Begriff Migräne ein unverschämter Euphemismus war. Das Sehtraining fand immer öfter vor einem Bildschirm statt, was den ehemaligen Kommissar an Verwaltungsarbeit erinnerte und ihn genauso ärgerte wie früher während seines Berufslebens.

„Diese Heidelberger Metzger haben mir den Sehnerv gezogen, meine letzten Sehsynapsen ruiniert.“

Völlig unvermittelt hatte er lautstark gegen einen jungen Assistenzarzt gewütet, und Dr. Globb bemerkte besorgt, dass seine Bereitschaft zur Kooperation nachließ. Daher richtete sie die Abstände zwischen den Trainingseinheiten neu ein und ermunterte ihn, bei den Übungen nicht nachzulassen.

„Nur Mut, Herr Katzorke! Sie schaffen das.“

Er ließ sie nicht wissen, wie sehr solche Floskeln ihn ärgerten.

Die Gesamtdauer seines Aufenthaltes in der Klinik war bald um eine Woche verlängert worden, was Katzorke in seinem niedergeschlagenen Zustand vollkommen gleichgültig war. Zwar genoss er die Unterhaltungen mit fremden Menschen, die sich zufällig im Restaurant oder auf dem Flur ergaben, seine zunehmende körperliche Entspanntheit und das ungewohnte Ambiente nahm er jedoch trotzig einfach nicht zur Kenntnis. Er weigerte sich sogar zu sagen, er sei entspannt und deswegen glücklich. Die Stimmen der Krankenschwestern und die Gerüche aus der Restaurantküche nahm er bald viel intensiver wahr als am Anfang, was ihm einen ständigen Appetit bescherte. Nur besser sehen konnte er auch nach einer Woche Aufenthalt immer noch nicht.

In der Klinik hielten sich vor allem zahlungskräftige Ausländer aus dem arabischsprachigen Raum auf, sowie einige Briten und Amerikaner.

Ihm fiel auf, dass der gesetzlich krankenversicherte Berliner Durchschnittspatient hier offenbar keinen Zutritt hatte. In seinem beruflichen Streben nach Sicherheit hatte Katzorke frühzeitig Versicherungen für alle erdenklichen Lebenslagen abgeschlossen. Die teuersten Therapien und besten Fachärzte standen nun angeblich für ihn bereit.

„Morgens wird es hell und abends wird es dunkel.“

Mit tonloser Stimme beschwerte er sich bei seinem Schicksal. Die Klimaanlage fiel an diesem Sommertag im Juli aus, und manche Patienten in den kleinen Zimmern wickelten sich zum Abkühlen in nasse Laken.

Katzorke verbrachte den Tag matt in einem fortwährenden Zwielicht in seinem Zimmer. Am Nachmittag schwebte ihm ein Krankentransport nach Teneriffa vor. Am Strand ließe sich solch eine Hitze genießen.


Kommissar Katzorke

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