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Zur Zeit nicht erreichbar

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Als Faruqs Mutter Farang an diesem Morgen aufgestanden war, kochte sie ihrem Mann wie üblich einen Kaffee, den der kränklich aussehende Mann in den Fünfzigern wortkarg austrank, bevor er das schmale Reihenhaus auf seinem Weg zur Arbeitsstelle verließ. Am Vorabend war er wegen einer Sommererkältung früh zu Bett gegangen, weil er sich zu seiner Schicht am Schalter der BVG am Bahnhof Zoo ab sechs Uhr morgens nicht verspäten wollte. Er befand sich dort noch in einer dreimonatigen Probezeit.

Farang hatte in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan, denn ihr Sohn Faruq war von seinem Besuch bei einem Schulfreund nicht nach Hause gekommen. Ab dreiundzwanzig Uhr hatte sie fast minütlich auf die Uhr geschaut, aber als sie sich endlich dazu durchgerungen hatte, bei Jonas Eltern zu Hause anzurufen, war es bereits weit nach Mitternacht.

Um diese Uhrzeit stört man andere Leute nicht. Eine undurchdringliche Barriere für sie, in einer Gesellschaft, in der sie für eine Ausnahme von der Regel die Konventionen nicht kannte. Das Handy ihres Sohnes, dessen Nummer sie immer wieder anwählte, war permanent nicht erreichbar. Das war allerdings schon öfter passiert, wusste sie sich zu seiner Entschuldigung einzureden, denn sie hatten seit einiger Zeit zu wenig Geld, um ihm ein einwandfrei funktionierendes Modell zu kaufen. Das warf sie sich in dieser Situation voller Bitterkeit vor.

Faruqs Vater hatte noch vor fünf Monaten für die Botschaft des Iran als Übersetzer gearbeitet. Er sprach perfekt sieben Sprachen, war aber auch immer ein politisch querdenkender Intellektueller mit einem Temperament, das ihn schon öfter in Schwierigkeiten gebracht hatte. Nachdem er sich negativ über die Verfolgung von Oppositionellen durch die Geheimdienste seines Heimatlandes geäußert hatte, war er seinen Job in der Botschaft los.

In den Iran zurückkehren konnte die Familie deshalb umso weniger, was ihr Leben in Deutschland von einem berufsbedingten Aufenthalt zu einem Dasein im Exil veränderte. Sie mussten die deutschen Behörden um Asyl bitten, einen neuen Job finden und dennoch sämtliche Kostenstellen bedienen, die das tägliche Leben für eine kleine Familie im Hinterhalt hält.

Noch einmal ging sie in sein Zimmer in der oberen Etage des Reihenhauses, aber Faruqs Bett war immer noch leer. Die Tatsache der gestrigen Zeugnisausgabe versetzte sie zusätzlich in Aufruhr. Wieder probierte sie seine Handynummer aus, doch als eine Stimme aus dem Phone ihr mitteilte, „dieser Teilnehmer ist im Moment nicht erreichbar“, sank sie verzweifelt zu Boden und betete zu Allah, er möge ihren Sohn vor Unheil beschützen.

Zwei Stunden hielt sie es noch in der Küche am Fenster aus, immerzu hoffend, er würde nur einfach verspätet am frühen Morgen nach Hause kommen. Ihr inständiges Hoffen erfüllte sich nicht. Schließlich fasste sie den Entschluss, selbst die Adresse seines Schulfreundes aufzusuchen.

Eilig schnürte sie ihr Kopftuch und verließ voller düsterer Vorahnungen das Haus. Diesmal würde sie auch die frühe Uhrzeit nicht davon abhalten, jemanden zu stören. Sie war nahe daran, von einem Weinkrampf überwältigt zu werden, ihre Nerven lagen blank.

Längst verfluchte sie sich dafür, ihren Sohn am Vortag nicht dazu verpflichtet zu haben, zuvorderst sein Zeugnis nach Hause zu bringen. Jede andere Mutter hätte das getan, warf sie sich vor, nur sie verwöhnte ihn offenbar zu sehr.

Wenige Straßen weiter erreichte sie Jonas Wohnadresse und klingelte an der Eingangstür. Die Jalousien des Einfamilienhauses waren seltsamerweise auch um acht Uhr morgens noch heruntergelassen, der Garten wirkte aufgeräumt und vor der Garage stand nicht wie sonst das Auto der Mutter, der Zweitwagen dieser sehr wohlhabenden Leute.

Erneut drückte Farang den Klingelknopf, hörte das Schrillen der elektrischen Klingel aus dem Haus nach draußen dringen, doch keinerlei Reaktion erfolgte.

„Darf ich fragen, was Sie von den Poborskies wollen?“

Ein Nachbar mit Sombrero und kurzen Hosen, der gerade seinen elektrischen Rasenmäher aus einem Schuppen im Garten hervorgeholt hatte, schaute mit ernst gespanntem Gesichtsausdruck über die Hecke zu ihr herüber.

„Ich will meinen Sohn Faruq abholen. Er war gestern bei Poborskies zum Abendessen.“

Der Nachbar lüftete seinen breitkrempigen Strohhut und entfernte eine Fliege von seiner glänzenden Stirn.

„Niemals im Leben! Poborskies sind gestern Nachmittag abgereist. Da kann ihr Sohn wohl kaum zu Besuch gewesen sein.“

Entsetzen stand augenblicklich in Farangs Gesicht, sie drohte, ohnmächtig zu werden. Die Behauptung des Nachbarn wischte ihren naiven Glauben an die Rechtschaffenheit ihres Sohnes wie einen schön bemalten Vorhang beiseite. Faruq hatte sie belogen. Vielleicht nicht zum ersten Mal, sondern schon öfter. Was sie sich nie hatte eingestehen wollen, ihr Sohn hatte etwas Fremdes angenommen, Geheimnisse vor seinen Eltern. Auch vor ihr, weil sie zu leichtgläubig gewesen war.

„Machen Sie sich keine Sorgen! Gestern hat es doch Zeugnisse gegeben. Bei Poborskies hing auch der Haussegen schief. Ich habe den Streit hautnah mitbekommen. Das ganze Gezeter und Geschrei. Zum Glück sind die gleich darauf in den Urlaub abgereist. Am Badestrand relativieren sich Zeugnisnoten.“

Der Nachbar merkte, dass Faruqs Mutter in echter Sorge um ihren Sohn war. Er seinerseits war beruhigt, dass sie keine Späherin einer Einbrecherbande war, wie er vermutet hatte.

„Ihr Sohn taucht bestimmt wieder auf. Wenn nicht, müssen Sie zur Polizei gehen.“

Damit startete er seinen Rasenmäher und legte unter ohrenbetäubendem Lärm mit dem Kürzen seiner Grashalme los.

Farang fühlte eine zunehmende Panik in sich aufsteigen. Dennoch zögerte sie noch, ihren Mann bei der Arbeit anzurufen, denn er war so froh über seinen neuen Job als Fahrkartenverkäufer im BVG Kundencenter. Wegen der Probezeit konnte er innerhalb kürzester Frist, ohne Angabe von Gründen, entlassen werden. Dieses Damoklesschwert zehrte bis auf Weiteres an seinen Nerven.

Seinen neuen Arbeitsplatz wollte sie auf keinen Fall aufs Spiel setzen, denn wie sie ihren Mann kannte, würde er ohne zu Zögern sofort alles stehen und liegen lassen, um ihr bei der Suche zu helfen.

Auf einmal ahnte sie, wie entscheidend es war, Faruq schnell wiederzufinden. Eine weiterhin beschwerliche Zeit stand für die Familie auf dem Spiel. Sie überlegte, ob sie vielleicht im Spandauer Einkaufszentrum Mitschüler ihres Sohnes antreffen könnte. Irgendeine Information über seinen Verbleib musste doch auch in den Morgenstunden aufzutreiben sein!

„Schämte er sich vor uns, wegen schlechter Zeugnisnoten?“

Sie forschte in ihrem Gedächtnis, wo es in Spandau Treffpunkte von Schülern gab und beschleunigte währenddessen ihre Schritte auf dem Gehweg. Das Geschwister Scholl-Haus am Magistratsweg zum Beispiel, das etwas abseits vom städtischen Lärm und von Grün umgeben war, galt im Sommer als ein beliebter Freizeitort für Jugendliche. Tatsächlich wusste sie jedoch seit seinem fünfzehnten Geburtstag nicht mehr genau zu sagen, an welchen Orten er sich bevorzugt aufhielt.

Das Laufen tat ihr gut, so dass sie die Situation nun etwas rationaler einschätzen konnte. Um diese frühe Tageszeit wäre es eher wahrscheinlich, jemanden aus Faruqs Klasse beim Bummeln durch die Ladenzeilen der Spandau Arcaden anzutreffen. Zumal der eine oder andere vor seiner Urlaubsreise vielleicht noch Besorgungen zu erledigen hatte, Sonnencreme, ein T-Shirt oder ein Buch einkaufen wollte.

Vor einer Urlaubsreise wählte man dafür einen Ort, den man schnell erreichen und wo man fast alles gleich finden konnte. Die Spandau Arcaden lagen direkt am Fernbahnhof, was Reisenden entgegenkam.

Der Bahnhof Spandau war von ihr aus nur noch eine Bushaltestelle weit entfernt. auf einen Bus zu warten, hielt sie jedoch nicht aus, sondern eilte gleich an der Haltestelle vorbei. Merkwürdige Dinge gingen ihr unterwegs durch den Kopf. Warum der ICE ausgerechnet in Spandau anhalten musste und nicht am Bahnhof in Potsdam? Faruq hätte also einfach in einen Fernzug einsteigen können und wäre damit außerhalb ihrer Reichweite.

Viele Spandauer waren stolz darauf, dass sie als Berliner Vorstadt solch einen Bahnhof zur Verfügung hatten, während die Brandenburger Landeshauptstadt, Potsdam, diesbezüglich leer ausging. Ein trotziger Lokalpatriotismus, denn viele Spandauer wussten genau, dass ihre Vorstadt für die meisten Berliner gar nicht existierte.

Als Faruqs Mutter das Einkaufscenter durch den Haupteingang betrat, suchte sie gleich mit den Augen die weitläufigen Ladenzeilen ab. Als sie an der Modekette H&M vorbeikam, entdeckte sie seine Mitschülerin Ayse am Regal für Bikini Bademoden. Sie errötete, als die ältere Muslima sie dort ansprach.

„Hallo Ayse, ich suche Faruq. Kannst Du mir sagen, wo er ist?“

Durch die Art und Weise, wie Faruqs Mutter sie mit beinahe tonloser Stimme ansprach, wusste das junge türkische Mädchen sofort bescheid. Beruhigend legte sie ihre Hand auf die zitternde Hand der Mutter.

„Ich hab mir schon gedacht, dass Faruq das nicht so leicht wegstecken würde. Gestern kriegten wir Zeugnisse, Sie wissen...?“

„Er ist nicht nach Hause gekommen.“

Auf einmal brach die ganze Anspannung aus ihr heraus. Die zierliche Frau mit dem feinen Gesicht schluchzte laut auf und Tränen liefen ihr über die Wangen. Ayse zog sie behutsam zu den Umkleiden von H&M, wo die junge und die ältere Frau unter sich waren und es für Farang einen Stuhl gab.

„Unsere Klassenlehrerin, Frau Fischer, hat ihn hängen lassen. Das war mehr als eine harte Entscheidung, Frau Ziaar. Es tut mir leid für Faruq, dass er nach den Ferien die zehnte Klasse wiederholen muss.“

Die Nachricht landete einen Treffer in Farangs Gesicht wie der Kinnhaken eines trainierten Boxers.

„Soll ich einen Arzt anrufen, Frau Ziaar?“

Matt schüttelte die ältere Frau den Kopf.

„Sie müssen sich nicht für ihn schämen, Frau Ziaar. Ich wäre glücklich, wenn Ihr Sohn mit mir befreundet wäre. Faruq ist voll Ok! Und sehr süß.“

In dem bleich gewordenen Gesicht der Mutter stand nur traurige Resignation. Wie sehr hatte sie gehofft, dass ihr Sohn in Deutschland eine erfolgreiche Karriere machen würde?

„Der Prophet Muhammad sagte: Kein muslimischer Mann hat neben dem Islam je eine größere Belohnung erhalten, als eine muslimische Ehefrau, die eine Quelle seines Vergnügens ist, wann immer er sie ansieht. Die auf ihn hört, wenn er ihr Anweisungen gibt und die ihm treu bleibt, wenn er abwesend ist.“

Die Mutter sah Ayse prüfend in die Augen, aber die hielt ihrem Blick nicht stand.

„Wäre ich mit Faruq zusammen, hätten Sie keine Probleme, Frau Ziaar. Aber mich wollte er nicht. Wegen Deborah. Diese blöde deutsche Kuh hat ihn mir weggeschnappt. Weil ich im Gegensatz zu der Schlampe eine gläubige Muslima bin.“

Offenbar hatte Farang am Stand für Bikini Bademoden die Richtige getroffen. Die junge Türkin wusste gut über ihren Sohn bescheid. Sogar mehr, als Farang lieb sein konnte. Ihr Sohn hatte also eine Freundin.

„Faruq hat eine Freundin?“

Die Türkin nickte voller Abscheu.

Die Selbstbeweihräucherung des Teenagers fiel Farang zwar auf die Nerven, aber das ließ sie sich in keiner Weise anmerken. Im Gegenteil, sie streichelte ihre Hand, während sie alles über ihren Sohn erfahren wollte, was jede Mutter eines siebzehnjährigen Jungen normalerweise nicht erfährt.

„Gestern habe ich beobachtet, wie die beiden zusammen aus der Schule weg sind. Ich glaube, er wollte einfach nicht allein sein. Deborah hat das natürlich schamlos ausgenutzt. Die ist so berechnend, diese Vampirette. Frau Ziaar, Ihr Sohn Faruq kriegt das überhaupt nicht mit. Er ist so süß und ganz unschuldig.“

Farang war beinahe amüsiert über den Roman, den sich Ayse über ihren Sohn zurechtgelegt hatte. Trotzdem stand ihr nicht der Sinn nach Humor. Wieder liefen ihr Tränen übers Gesicht.

„Kannst Du mir sagen, wo diese Deborah wohnt?“

Für Ayses überspannte Teenagerfantasie klang Farangs Stimme verlockend rachsüchtig, so dass sie sich freute, ihr behilflich sein zu dürfen.

„Ihre Adresse weiß ich nicht, nur dass ihre Eltern auch aus Spandau sind. Bestimmt hat sie ihre Knutscherei gleich auf Facebook gepostet. Wenn Sie möchten, schau ich nach.“

Zur Freude der petzenden Mitschülerin stimmte Farang zu. Die junge Frau durchsuchte auf ihrem Smartphone ihren Facebook Account und fand bald auf Deborahs Seite ein Foto, das sie mit einem Rollkoffer am Flughafen Tegel zeigte, dazu einen Text. „Gleich hebe ich mit Mama und Papa in den Strandurlaub ab. Gähn!!!“

Ayse zeigte Faruqs Mutter das Foto und zuckte mit den Schultern.

„Das war heute Morgen um acht. Zum Glück hat sich das Luder endlich aus dem Staub gemacht.“

Farang sank erschöpft auf den Stuhl im Vorraum der Umkleide von H&M. Die erste Spur führte ins Leere. Faruq hatte zusammen mit diesem Mädchen die Schule verlassen, aber Deborah war inzwischen verreist. Sie würde Faruq also nicht bei ihr finden können.

Faruqs Mutter überlegte, wo sie ihn nun suchen könnte.



Kommissar Katzorke

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