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Ohne Pfeife und Glaskugel

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In der Nacht nach dem Mordversuch hatte Katzorke kaum geschlafen, sich im Halbschlaf zwischen den Infusionsschläuchen hin und her gewälzt und dabei an die Lektionen über Profiling nachgedacht, die er in seinem aktiven Dienst beim Berliner LKA in einigen Fortbildungskursen, an denen auch Kommissare teilnehmen mussten, gelernt hatte.

Seinerzeit im Dienst hatte er solche Fortbildungen gehasst. Diese grauenhafte Wichtigtuerei von Theoretikern, deren einziger Verdienst es war, sich auf Fälle zu beziehen, die andere gelöst hatten.

Um als Gipfel ihrer Dreistigkeit vielleicht am Ende der geschwätzigen Vorträge den versammelten Beamten neue Computerprogramme anzupreisen, deren Wert darin bestehen sollte, zukünftige Verbrechen vorherzusagen. Das Orakel aus Bits und Bytes, welch groteske Anmaßung gegenüber seinem Beruf.

Aus der Erhebung von Daten der im Bezirk ansässigen Bürger sollten diese Programme herausfiltern können, wer in nächster Zukunft den Boden der Legalität unter seinen Füßen verlieren würde und sich ins Verbrechen stürzte.

Ein Blick in die Arbeitslosenstatistik hätte, so Katzorkes Meinung, ohne teure Software eventuell genau dieselben Erkenntnisse geliefert, wie er freimütig als sein Fazit zu verstehen gab. Aber schon damals waren die fachlichen Einschätzungen unter den Ermittlerkollegen weit auseinandergedriftet.

Man darf sich der Zukunft nicht verschließen, hieß es. Vor allem die notorischen Schreibtischhocker plädierten für diese Neuerung mit der verlockenden Aussicht, sich in Zukunft die Hände nicht mehr schmutzig machen zu müssen.

Eine smarte Polizei, so sollte die rosige Zukunft aussehen. Katzorkes Meinung nach konnte kein Computerprogramm jemals einen gut geschulten Beamten ersetzen, der seinen Bezirk in- und auswendig kannte. Seiner Meinung nach konnte diese Software nur eines.

„Personalkosten einsparen. Darum geht es hier.“

Als eine unerträglich eitle Selbstbeweihräucherung waren ihm diese Vorträge unter dem Deckmantel des Profiling vorgekommen. Er mutmaßte sogar, dass eine Lobby von Softwarefirmen diese rhetorisch geschulten Sonntagspsychologen geschmiert haben könnten, um der Behörde Programme aufzuschwatzen, die nur auf eines abzielten: den diensthabenden Polizeibeamten zu eliminieren.

„Gott bewahre uns vor einer Software, die Bürger nach sogenannten kriminellen Mustern selektiert!“

Aus seiner Ermittlungsarbeit heraus wusste er, dass oftmals sogenannte soziale Problemfälle ein rechtschaffeneres Leben führten, als die aus gutem Hause, die gar nicht nicht zimperlich dabei waren, sich am gesellschaftlichen Eigentum zu bedienen.

Trotzdem begriff sich Katzorke als modernen Ermittler, ohne Pfeife und Glaskugel. Technische Hilfsmittel wie Nachtsichtgeräte, Abhörmikrofone oder Kameradrohnen hatte Katzorke gern selbst eingesetzt.

Es störte ihn auch rückblickend nicht, dass er dabei oftmals den Boden der Legalität verlassen hatte. Sein privates Arsenal an Aufklärungsgerätschaften war ansehnlich, wenn auch inzwischen verstaubt. Doch wähnte er sich immer als Mensch mit Herz und Verstand im Zentrum seiner Möglichkeiten.

Letzten Endes aber war er in seinem Beruf so erfolgreich gewesen, weil er akribisch Beweise gesammelt hatte.

„Das Brot des Ermittlers sind Indizien, Beweise und Zeugenaussagen.“

Katzorke meinte, laut seine Stimme gehört zu haben. Egal, auch wenn er nachts laut mit sich redete, wen sollte er dadurch wecken?

Jedenfalls hatte er einfach immer so lange an jedem Fall geschuftet, bis glaubhafte Zeugen und Beweise gefunden waren. Nichts Anderes zählte vor Gericht. Ja, zum Glück war die Gesellschaft noch nicht so weit, dass sie aufgrund eines spekulierenden Computerprogramms Bürger in die Kerker der Haftanstalt Tegel verbrachte.

In dieser unruhigen Nacht realisierte er, dass in manchen Fällen seine jahrelange Ermittlungsarbeit zu einem fast liebevollen Studium seiner Gegner geworden war. Gelegentlich sogar voller Sympathie für deren kriminelle Vorgehensweise, ihre besonderen Fähigkeiten und Tricks.

„Ich habe selten einen Kriminellen wirklich gehasst.“

Mörder von Kindern oder Vergewaltiger waren für ihn keine Gangster, sondern Kranke, deren Geist er verabscheute. Wut und Trauer der Angehörigen oder das Martyrium der von der Tat gezeichneten Opfer kannte er gut. Ihren Schmerz blendete er nicht aus, denn in ihrem Auftrag handelte er. Das war sein Selbstverständnis.

Seine Chefs oder die Vertretung irgendeiner Staatsgewalt hätten ihn im Leben nicht gleichermaßen motivieren können, wie die Tränen im Gesicht einer misshandelten Frau oder der angstvolle Blick eines Kindes am Grab seiner Eltern.

Er erinnerte sich an die letzten Jahre seiner Dienstzeit, als seine Aufgabe die Bekämpfung der organisierten Kriminalität gewesen war. Den oder die Auftraggeber für den Anschlag gegen ihn in diesen Kreisen zu vermuten, war nicht abwegig. Alles andere lag viel zu weit zurück.

Die unbändige Wut eines Gangsterbosses über die Zerschlagung einer kriminellen Struktur, die vielleicht wie ein Unternehmen in der legalen Welt über Jahre hinweg mühevoll aufgebaut worden war, wäre ein Grund für den Mordversuch.

„Warum genügt es ihnen nicht, mich zum hilflosen Krüppel gemacht zu haben?“

Er erkannte das Motiv nicht, aber wusste, der Hass würde weitergehen. Über Jahre hinweg musste sich jemand so dermaßen von ihm angepisst gefühlt haben, dass die Obsession entstanden war, ihn zu töten.

Plötzlich fühlte Katzorke einen Schmerz in der Brust, so wie er sich einen Herzinfarkt vorstellte. Da er kaum einen Hals besaß, konnte er damit nicht Schwung holen, um seinen massigen Körper auf die andere Seite zu wälzen. Der Druck in seinem Brustkorb blieb. Weitermachen, dachte er, der eigene Zerfall ist unaufhaltsam.

Etwas störte ihn am vermuteten Motiv der unerbittlichen Rachsucht. Sicherlich stellte jede Verhaftung auch eine persönliche Kränkung dar, aber derartige Gesetze von Blutrache existierten vielleicht noch in Albanien, wo in traditionellen Familien eine Blutschuld über mehrere Generationen beglichen werden musste. Er, Manfred Katzorke, hatte definitiv in seiner Dienstzeit niemanden getötet. Und eine normale Verhaftung stellte nur den Endpunkt eines Katz-und-Maus-Spiels dar, über dessen möglichen Ausgang sich beide Parteien von Beginn an im Klaren waren.

Es war vielleicht nicht lukrativ, verhaftet zu werden, aber eine Schande stellte dieser Vorgang im Laufe einer kriminellen Karriere wahrhaftig nicht dar. Im Gegenteil, für manche bedeutete der plötzliche Tapetenwechsel sogar eine eigentümliche Ehre und den Start in eine erfolgreichere Laufbahn.

Wenn die Attacke aus Kreisen von bandenmäßigen Einbrechern, Drogenhändlern, Schleusern oder Dieben erfolgt war, also der zuletzt von ihm betreuten Klientel, dann müsste er dem Auftraggeber des Mordanschlags schon einmal begegnet sein. Aber er kam nicht drauf.

Immer wieder grub er gedanklich in seinen langsam verbleichenden Akten. Bitter wurde es für einen Täter, wenn er bei seiner Verhaftung vor der ganzen Welt als Trottel dastand. Wenn beispielsweise die Presse eine Schlagzeile daraus machte. Dann ging ein Gelächter durch die Haftanstalten, das umso lauter schallte, wenn er als Neuankömmling ins Knastreich an den Zellentüren der Kollegen vorbeischleichen musste.

Bestimmt eine traumatische Erfahrung für sensible Ersttäter. Vielleicht jahrelang die Technik von Alarmanlagen studiert und dann den stillen Alarm übersehen? Aber fielen solche Kandidaten überhaupt in sein Resort?

Auch in Beamtenkreisen hatte man sich köstlich über die kriminellen Tiefflieger amüsiert, die einfach nicht helle genug waren, um eine Tat erfolgreich durchzuführen.

Der gesprengte Kontoauszugsdrucker im Geldautomatenraum einer Berliner Bankfiliale, zum Beispiel, rief in zahlreichen Dienststellen höhnisches Gelächter hervor. Oder die Sprengung eines kompletten Bankgebäudes in Brandenburg, wo am Ende, als die Täter vor den rauchenden Trümmern des Bankgebäudes standen, allein der Banktresor unversehrte übrig blieb. Natürlich kannte auch jeder Häftling im Knast solche Anekdoten.

Zeit seines Lebens blamiert war sicherlich auch jener Bankräuber, der seine Geldforderung auf einem gebrauchten Briefumschlag mit eigener Adresse an die Bankangestellte überreicht hatte. Die Einsatzkräfte erwarteten ihn nach seinem Raubzug lachend bei sich zu Hause. Solche Experten mussten während ihrer Haftzeit bestimmt jahrelang den Spott sämtlicher Insassen ertragen.

Katzorke konnte sich vorstellen, dass aus einem jahrelangen Spießrutenlaufen ein unbändiger Hass gegen denjenigen wachsen konnte, der ihn in sein neues Zuhause befördert hatte.

Auf einmal wurde ihm klar, welch ein Glücksfall der Anschlag war. Bei allem Stress, den er durchgemacht hatte, Katzorke war wieder im Geschäft.

„Man fürchtet mich immer noch in diesen Kreisen, als würde ich Voodoo beherrschen.“

Diese Überlegung brachte ihn auf ein weiteres Motiv. Dass es da draußen jemanden gab, der fürchtete, Katzorke könnte die Signatur seiner Verbrechen lesen. Wie Gemälde in einer Galerie trugen manche Verbrechen eine Unterschrift. Nur nicht für jeden sichtbar, und womöglich hatte der geheimnisvolle Mann ohne Gesicht gerade etwas Bedeutendes vor.

Das helle Licht des nächsten Morgens kam schneller als gedacht und Katzorke verwarf gleich sämtliche Überlegungen, die er während der Nacht angestellt hatte. Wozu auch immer solche Gedankenspiele gut sein mochten, sie ersetzten niemals die konkrete Ermittlungsarbeit. Seine erste Pflicht war es, sich auf die konkreten Täter zu konzentrieren. Die Killer waren bestimmt nicht an der Rezeption vorbei in die Klinik gekommen, mutmaßte er.

„Die Küche müsste über eine Tür für Anlieferungen verfügen. Solche Täter kommen oft durch den Personaleingang rein.“

Katzorke hörte sich reden, aber stand nicht auf. Ein paar weitere Minuten Schlaf würden bestimmt nicht schaden, analysierte er.

Das Frühstück, das sich vor seinen Augen wie eine Glocke aus gerollten Wurstscheiben, Trauben, Ananas und Käsestickern auftürmte, wurde dem Anspruch einer Luxusklinik mehr als gerecht. Die junge Kellnerin mit den wie Nofretete zu einem Turban hochgesteckten Haaren und der anmutigen Nase meinte wohl, mit ihrer Falschaussage das Sicherheitsbedürfnis des fast blinden Patienten beruhigen zu müssen, aber Katzorke durchschaute ihre Absicht.

„Und wo rauchen Sie ihre Zigaretten, wenn ich fragen darf?“

Mit seinem geschärften Geruchssinn hatte sie nicht gerechnet. Katzorke sog ihren nach Qualm duftenden Atem tief ein, so als wäre ihr Mund ganz nah an seinem Gesicht.

„Wo ich rauche? Na, draußen. Ok, wenn es so wichtig ist, frage ich in der Küche nach, ob gestern zufällig die Tür offen stand.“

Damit verschwand sie aus seinem Sichtfeld wie ein Geist und Katzorke hatte das Gefühl, in einem hydraulischen Bett zu sitzen, dessen Oberteil mechanisch aufgestellt worden war, um seinen Rücken zu stützen. Als dunkle Schemen vor einer lichtdurchfluteten Fensterfront nahm er um sich herum verschiedene Gestalten war, die vermutlich direkt aus der Küche kamen.

Das Frühstück vor ihm duftete verlockend, aber Katzorke verspürte keinen Hunger, seine Nachforschungen hatten ihn absolut im Griff.

„Normalerweise kommen Lieferungen montags oder dienstags, aber gestern lieferten zwei Bäcker Körbe voller Backwaren an. Für privat. Unser Koch hatte keine bestellt.“

Die Bedienung duftete nun nach Pfefferminzbonbon.

„Danke, Sie haben mir sehr geholfen. Kann mir jemand diese Bäcker beschreiben?“

Er merkte, wie nervös sie wurde. Die Umstände konnte er ihr trotzdem nicht erläutern.

„Wieso interessiert sie das? Wurde Ihnen etwas gestohlen?“

„Ja, meine Armbanduhr ist verschwunden. Aber vielleicht habe ich sie nur verlegt.“

Die Kellnerin eilte erneut in die Küche und kam mit dem jungen Tellerwäscher zurück, der artig seine Kopfhörer aus den Ohren zog, was seine Reggae Musik umso lauter werden ließ.

„Hallo, Sir! Gestern am Nachmittag kamen zwei Bäcker durch die Küche und haben zwei Körbe mit Baguettes gebracht. Einer war kräftig und groß, mit dunklen Haaren, der andere war so ein Junge, der Lehrling vielleicht. Die sollen etwas gestohlen haben? Naja, fragen Sie mal an der Rezeption, wer gestern Backwaren bestellt hat.“

Katzorke nickte freundlich, lächelte in die für ihn kaum sichtbare Welt hinaus und bedankte sich bei den beiden für ihre Freundlichkeit. Dann nahm er ganz selbständig und ohne fremde Hilfe seinen Weg durch die Flure des Krankenhauses, um irgendwie zur Lobby zu gelangen, wo sich die Rezeption befand.

Auf dem Weg fiel ihm jedoch ein, dass die beiden Killer ihre Körbe vielleicht achtlos zurückgelassen haben könnten, weshalb er sich neu orientierte und sich einen Weg in die Schwimmhalle suchte.

Ein Fahrstuhl fuhr mit ihm hinunter zur Schwimmhalle. Dort fand er nach einer heillosen Suche zwei Tüten voller Backwaren in einem der Papierkörbe im Vorraum der Schwimmhalle.

„Diese alten Schrippen werde ich bestimmt nicht an die Enten verfüttern.“

Seine Beziehungen zu seiner alten Dienststelle würden ihm helfen, Fingerabdrücke oder DNA-Spuren an den Funden auszuwerten.

Ein unbeschreibliches Triumphgefühl erfasste den ehemaligen Kommissar bei dem Gedanken, dass er nun Beweismittel in seinen Händen hielt.


Kommissar Katzorke

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