Читать книгу Ein Quantum Zeit - Volkmar Jesch - Страница 10

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Nicht allein

Was man als Blindheit des Schicksals bezeichnet,

ist in Wirklichkeit bloß die eigene Kurzsichtigkeit.

William Faulkner,

Schriftsteller

Als sie wieder aufwachte, war es Spätnachmittag. Die Sonne ging gerade unter. Hätte man das Abendrot gemalt und auf eine Postkarte gebannt, hätte es kitschig ausgesehen. Sie war nach dem vielen Schlaf wunderbar erholt. Physisch hatte sie den gestrigen Unfall bestens weggesteckt. Die leichte Schulterprellung, die man bei ihrer Einlieferung noch in der Nacht diagnostiziert hatte, spürte sie nicht.

Doch psychisch ging es ihr alles andere als gut. Das Licht der tief stehenden Sonne brach sich wunderbar in den verschneiten Bäumen, doch ihr erschien alles irreal. Die Szenerie mutete seltsam an. Sie lag in einem Krankenhaus, genauer auf der Terrasse eines Krankenhauses. Sie hatte einen Unfall gehabt. Wie furchtbar. Die letzten Stunden hatte sie dann doch noch nicht verarbeitet.

An Skifahren war mit der geprellten Schulter natürlich nicht mehr zu denken. Das war ihr inzwischen klar. Doch eigentlich schmerzte sie vielmehr, ihr geliebtes Auto vermutlich verloren zu haben. So einen Verlust konnte sie nur schwer verwinden. Es ging ihr dabei nicht ums Geld. Es war ihr erstes Auto, mit dem sie auch den letzten Urlaub mit ihrem Vater gemacht hatte, bevor dieser … Daran mochte sie jetzt nicht denken. Es war auch schon über zwei Jahre her. Möglicherweise konnte man den Wagen reparieren. Sie wusste gar nicht, wohin man ihn gebracht hatte. Wenn sie aus dem Krankenhaus kam, wollte sie sich gleich darum kümmern. Sie malte die Umrisse des Autos in die Luft. Das Bild des Fahrzeuges zerplatzte wie eine Seifenblase.

Nachdem sie den ersten Schreck überwunden hatte, kam sie ins Grübeln. Was sollte sie nur in einer Klinik machen? Sie war so voller Tatendrang und langweilte sich. Spätestens in zwei, drei Tagen wollte sie die Mauern des Krankenhauses nur noch von außen sehen. Ein Buch hatte sie nicht mitgenommen, wer nimmt schon ein Buch mit in den Skiurlaub, wo man nach dem Après-Ski froh ist, wenn man rechtzeitig zum Schlafen kommt. Lesen mit Alkohol im Blut geht gar nicht. Wenn doch wenigstens ihre beste Freundin hier wäre, mit der sie sonst alle Nöte und Sorgen teilte. Sie suchte nach ihrem Smartphone, doch man hatte nur das Bett auf die Terrasse geschoben. Die Handtasche mit dem Handy war nicht dabei, lag vermutlich noch in ihrem Zimmer. Sie wollte das warme Bett nicht verlassen. Dann würde sie eben später telefonieren.

Immer wieder kramte sie in ihrem Gedächtnis, wie es zu diesem vermaledeiten Unfall hatte kommen können. Sie konnte sich an die Zeit erinnern, als sie auf die Leitplanke zugesteuert war. Dieser kurze Ausschnitt ihrer Fahrt, der offensichtlich nur einige Sekundenbruchteile gedauert hatte, war unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt, in einer quasi unendlichen Filmschleife. So kam es ihr vor, als sich ihr mehr und mehr Details einer Handlung offenbarten, die sich in Zeitlupe vor ihr abgespielt hatte. »Vor ihr« war der richtige Ausdruck. Sie hatte im Mittelpunkt gestanden. Sie war plötzlich im Raum stehen geblieben, während sich die Welt um sie gedreht hatte. Der Zeitraum davor war weg, der Zeitraum danach auch.

Sie konnte sich erinnern, wie sie zu Hause losgefahren war, dass alles glatt gegangen war und es zu regnen begonnen hatte. Und sie wusste inzwischen wieder, wie sie im Krankenwagen aufgewacht war, neben dem feschen Rettungssanitäter, der ihr zugelächelt hatte. Seltsam, diese sporadischen Erinnerungen, heftig für einen kurzen, intensiven Moment, umgeben von einem dunklen Nichts.

Dann stieg Zorn in ihr hoch. Ihre Miene verfinsterte sich, und der Groll auf ihren Unfallgegner wuchs. Es war doch alles so schön gelaufen. Am Vorabend der Abreise hatte sie noch die Wohnung aufgeräumt, die zunehmende Unordnung wieder beseitigt, damit es perfekt war, wenn sie zurückkehrte. Gestern war sie noch morgens beim Friseur gewesen, war ohne Stau auf der Autobahn vorangekommen, sodass der eintretende Regenschauer ihren Zeitplan nicht nachhaltig durcheinandergebracht hatte. Alles war bestens durchorganisiert. Dann musste sie dieses unwahrscheinliche Pech ereilen und alle Planungen über den Haufen werfen. Am liebsten wollte sie jetzt aufstehen und irgendwohin tanzen gehen. Sie fühlte sich absolut fit und unternehmungslustig, war aber im Bett gefangen. Mitten in ihren trübseligen Gedanken hörte sie auf einmal, wie jemand in ihrer Nähe sprach.

»Grämen Sie sich nicht so sehr wegen des Autounfalls. Der Wolkenbruch war richtig stark, da kann ein Fahrzeug schon einmal ins Schleudern kommen. Auch wenn Sie Ihr Auto sehr gemocht haben, es wird ein neues geben.« Und er zog auch gleich ein Resümee seines Einwurfs: »Wer weiß, wofür die plötzliche Wendung in Ihrem Leben gut ist.«

Sie blickte erstaunt auf, drehte ihren Kopf nach links und schaute ihn verdutzt an. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass ein Mann neben ihr an einem Tisch saß. Er war älter als sie, in den besten Jahren, würde man wohl sagen. Eine sympathische Erscheinung. Nur woher wusste er von ihrem Unfall? Warum war ihm bekannt, dass sie mit ihrem Auto ins Schleudern gekommen war? Und woher, um alles in der Welt, wusste er, dass sie ihr kleines Auto so sehr geliebt hatte. Er ließ ihr keine Zeit, zu antworten, fuhr fort, als ob er auch diese Gedanken erraten hatte.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie beobachtet habe und jetzt so unvermittelt anspreche. Nachdem Sie sich hin- und hergewälzt haben und dann in ihrer Mimik mal Zufriedenheit, Erstaunen und auch Zorn zu lesen waren, nahm ich an, dass Sie erst kürzlich angekommen sind und die Gründe hierfür analysieren. Ich dachte zunächst, Sie seien beim Skifahren gestürzt, wie eigentlich alle Patienten hier, zumal ich ihre leichten Hin- und Herbewegungen als rhythmisches Wedeln beim Skifahren interpretiert hatte. Nachdem Sie mit trauriger Miene die Konturen eines Fahrzeuges in die Luft gemalt haben, kam mir in den Sinn, dass Sie die Drehbewegungen vielleicht mit einem Auto gemacht haben, schlichtweg geschleudert sind. Ich kam zu dem wahrscheinlichen Schluss, dass Sie einen Autounfall hatten. Autounfall-Opfer werden hier selten eingeliefert. Ich hoffe, dass Ihre Verletzungen nicht so schlimm sind.«

Sie war zunächst perplex über seine gute Beobachtungsgabe, fing sich aber gleich wieder. Seine Stimme war äußerst angenehm, und sie war froh, dass sie mit jemandem reden konnte.

»Ach nein, es sind nur ein paar Schrammen an der Schulter«, antwortet sie. »Das ist nicht so schlimm.«

»Na, dann werden Sie bald wieder entlassen werden können«, murmelte er, hoffte aber jetzt schon das Gegenteil.

»Ja, das erwarte ich auch«, sagte sie. Der Himmel war jetzt glutrot. Obwohl es ein wenig kühler geworden war, war ihr Bett immer noch schön warm und weich. Die Terrassenbeleuchtung ging an.

»Wir hatten heute Morgen viel Schneefall und immer wieder nur kurze Phasen, in denen die Sonne schien. Mittags sind die Wolken aufgerissen, und wir können einen wundervollen Sonnenuntergang beobachten, bevor es bestimmt gleich wieder zu schneien anfängt.« Seine sonore Stimme gefiel ihr, und es tat ihr gut, über belanglose Dinge zu reden. Er fuhr fort: »Für die nächsten Tage ist noch mehr Schnee angesagt. In der ganzen Alpenregion soll in den nächsten Tagen sehr viel Neuschnee fallen.«

»Da werden sich meine Freunde aber freuen«, sagte sie. »Da sind einige Experten dabei, die das Tiefschneefahren lieben. Und im Neuschnee lässt sich besonders gut wedeln.«

»Na ja«, warf er ein. »Der Schnee wird wohl eher unwetterartig herunterkommen. Die Wetterlage ist nicht gerade konstant für die nächsten Tage. Sehen Sie es positiv, und freuen Sie sich, dass Sie hier so gut untergebracht sind und nicht unbedingt nach draußen müssen.«

Doch die Erinnerung an den Unfall war zu frisch. Sie war immer noch in ihren trüben Gedanken gefangen, und so hörte sie sich auf einmal sagen:

»Ich kann mich nicht so richtig freuen. Viel schlimmer als die paar Schrammen ist es, dass mein Auto kaputt ist. Ich habe gestern Abend auch wirklich Pech gehabt. Ich bin noch nicht einmal so weit gekommen, wie die anderen, die sich erst beim Skifahren verletzen. Ich wurde schon auf dem Weg dahin in einen Unfall verwickelt. Ich bin schon ein Unglücksrabe!«

»Denken Sie nicht so«, warf er ein, »bei diesem Wolkenbruch war es nicht unwahrscheinlich, dass ein Unfall passiert. Seien Sie froh, dass er so glimpflich abgelaufen ist, wenn Sie schon einen Unfall erleben mussten.«

Doch so einfach konnte sie ihren Gedankengang nicht verlassen: »Ich gebe es ja zu: Ich hadere mit meinem Schicksal.« Sie erwartete seinen Zuspruch. In ihr keimte der Wunsch, dass er ihren Schicksalsschlag bestätigte. Das hätte ihr gutgetan. Doch es kam anders.

Ein Quantum Zeit

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