Читать книгу Ein Quantum Zeit - Volkmar Jesch - Страница 18
ОглавлениеWas ist Zeit?
Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis.
Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es,
aber die wenigsten denken darüber nach.
Die meisten Leute nehmen es einfach so hin
und wundern sich kein bisschen darüber.
Dieses Geheimnis ist die Zeit.
Michael Ende,
Schriftsteller, aus »Momo«
»Aber was ist denn nun Zeit?«, fragte sie und kämpfte gegen die Müdigkeit an. Eine klare und kurze Antwort wäre ihr recht gewesen. Doch so einfach lassen sich die geheimnisvollen Schnüre, die die Vergangenheit mit der Zukunft verbinden, nun wahrhaftig nicht entwirren. Das wurde ihr erst langsam bewusst.
»Augustinus hatte auch hierauf eine Antwort parat«, sagte er. »Ich weiß aber nicht, ob sie Ihnen gefallen wird. Augustinus sagte: ›Was ist die Zeit? Wenn mich jemand danach fragt, weiß ich es. Soll ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.‹11«
Na toll, dachte sie.
»Für Platon, den griechischen Philosophen, der von 427 bis 347 vor der Zeitenwende gelebt hat, hatte die Zeit keine Wesenheit, sondern war nur ein bewegtes Abbild des eigentlich Seienden. Nach Platon galt das auch für den Raum. Nur die Ideen seien unvergänglich. Die Ideen seien das wahrhaft Seiende.«
Es wäre sicher schön, wenn die Wirklichkeit nur aus Ideen bestehen würde, dachte sie träumerisch, dann holte sie ihre Schulter mit einem kurzen Schmerzreflex in die Realität zurück.
»Gibt es auch eine moderne Aussage zur Zeit?«
»Der Physiker Albert Einstein, von dem die berühmte Relativitätstheorie stammt und der wahrlich als einer der profundesten Kenner des Phänomens ›Zeit‹ gilt, hat einmal gesagt: ›Zeit ist das, was man an der Uhr abliest.‹«
Auch nicht besser, dachte sie. Von einem Genie hätte sie mehr erwartet. Die grundlegende Erkenntnis, die sich mit dieser nur vermeintlich belanglosen Aussage verband, war ihr verborgen geblieben. Die Aussage schien nur trivial. Aber für diese Erkenntnis war die Zeit noch nicht reif.
Sie versuchte es mit einem anderen Ansatz. »Was bedeutet eigentlich der Begriff ›Relativität‹ in der Relativitätstheorie?«
»Diese Frage hat man natürlich Albert Einstein gestellt, und er hat folgende Antwort gegeben: ›Wenn man zwei Stunden lang mit einem hübschen Mädchen zusammensitzt, meint man, es wäre eine Minute. Sitzt man jedoch eine Minute auf einem heißen Ofen, meint man, es wären zwei Stunden. Das ist Relativität.‹«
Sie überging diese Bemerkung. »Und was ist Zeit nun wirklich?«, fragte sie und erwartete eine abschließende Antwort. Weit gefehlt.
»Zeit ist eine Illusion, wenn auch eine hartnäckige«, sagte er.
War er wirklich ein angenehmer Gesprächspartner oder doch nur ein auf Anmache abzielender, geistreicher Witzbold? Sie kam ins Grübeln. Sie war jetzt wirklich müde und brauchte Zeit zum Nachdenken. Sie hörte sich sagen: »Ich glaube, ich muss jetzt schlafen. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.« Sie beeilte sich, hinzuzufügen: »Und vielen Dank für das interessante Gespräch.«
»Nein, ich habe zu danken. Gute Nacht.«
Als sie noch etwas vor dem Einschlafen nachdachte, kam sie zu dem Ergebnis, dass der Unfall ein Gutes gehabt hatte. Es war ein wirklich beeindruckender Mann, den sie da kennengelernt hatte. Und die Bemerkung über Relativität war sicherlich nicht anzüglich gemeint, sondern witzig gewesen. Er hatte bezeichnend und bildhaft zum Ausdruck gebracht, wie unterschiedlich die Zeitwahrnehmung für einen Mann sein konnte. Auch für sie war die Zeit mit ihrer neuen Bekanntschaft sehr kurzweilig gewesen, hatte er sie doch innerhalb kürzester Zeit von ihren trüben Gedanken rund um den Unfall befreit.
Er hatte sie aber nicht nur auf andere Gedanken gebracht. Sie hatte sich schon oft gefragt, warum sie jetzt hier und nicht woanders war, wovon es abhing, dass bestimmte Dinge passierten oder eben nicht passierten. Oft hatte sie sich gewünscht, dass man das Geschehen beeinflussen oder wenigstens wieder rückgängig machen könnte, wenn es sich in die falsche Richtung entwickelte. Ein Zeitsprung wäre dabei sicherlich die eleganteste Möglichkeit.
Ihr Besuch beantwortete nicht einfach nur ihre Fragen, sondern bescherte ihr auch eine völlig neue Sicht der Dinge. Als ob ständig eine Tür aufging, die den Blick in eine neue Welt eröffnete. Manchmal fühlte sie sich auch einfach in die Luft geworfen und herumgewirbelt. Wenn sie dann die Augen öffnete, war auf einmal alles anders.
Schade, dass sie nicht einmal nach seinem Namen geschweige seinen Kontaktdaten gefragt hatte. Er hätte sich aber auch selbst vorstellen können, wenn er ein Gentleman gewesen wäre. Das war alles schon sehr merkwürdig, nach einem Unfall in einer Klinik über kosmische Entwicklungen, Zufälle oder Wahrscheinlichkeiten und vor allem über die Zeit zu diskutieren. Ein Gespräch, das sie von Atomen, Molekülen und ihre Wirkungen über kosmische Entfernungen bis zu anderen Sternen und wieder zurückgeführt hatte. In welche Welt hatte sie der Unfall gebracht? Jedenfalls hatte er ihr viele Denkanstöße gegeben, die sie auch allein weiterverfolgen konnte. Ihr war klar, dass sie gerade genug Zeit zum Nachdenken hatte.
Nicht bewusst war ihr, dass die Frage nach der Zeit erst der Anfang ihrer wunderbaren Reise vom Anfang bis ans Ende der Welt war. Und das Rätsel der Zeit würde gelöst werden. Ein für alle Mal. So viel stand fest.
Wie sollte es hier im Krankenhaus mit ihr weitergehen? Sie dachte nochmals über seine Worte nach.
In jedem Moment ereignet sich das wahrscheinlichste Ereignis der Zukunft.
Irgendwie klang das überzeugend. Was war das wahrscheinlichste Ereignis ihrer unmittelbaren Zukunft? Sie überlegte.
Die Wahrscheinlichkeit, was mit mir in den nächsten fünf Minuten passiert, ist zunächst durch den Raum beeinflusst, in dem ich mich aufhalte. Darüber hinaus durch meinen Zustand, denn ich bin müde. Wahrscheinlich ist also, dass ich in den nächsten Minuten in diesem Raum einschlafe. Wie einfach und naheliegend! Was wäre unwahrscheinlich?
Es ist ausgeschlossen, dass ich in der nächsten Minute über den Time Square in New York spazieren werde. Schade eigentlich, denn da wäre ich hellwach. Es ist sogar ausgeschlossen, dass ich in der nächsten Minute auch nur zehn Kilometer von hier entfernt sein werde. Innerhalb des Zimmers, in dem ich mich befinde, kann aber in dieser Minute alles Mögliche passieren. Ich kann einfach diesen Gedanken weiterentwickeln, ich kann einen Schluck Wasser trinken, endlich einschlafen, ich kann aber auch aus dem Bett fallen, einen Herzinfarkt erleiden oder von einem Meteoriten getroffen werden.
Die ersten drei Möglichkeiten sind die wahrscheinlichsten, die letzte ist die unwahrscheinlichste Variante, wenn auch nicht unmöglich.
Und sie dachte weiter. Sie befand sich in einem Raum, im tatsächlichen, aber auch im physikalischen Sinne. Demnach war die Wahrscheinlichkeit auch von den physikalischen Bedingungen beeinflusst, die sie umgaben. Also würde sie nicht an die Decke schweben oder sich in Luft auflösen.
Je weiter ich in die Zukunft schaue, überlegte sie, desto mehr kann passieren. Die Möglichkeiten nehmen zu. Morgen könnte ich nach Hause zurückkehren oder noch mal in den Urlaub fahren. Beides ist unwahrscheinlich, weil ich wahrscheinlich im Krankenhaus bleiben muss. Schade. In der nächsten Woche könnte ich in New York sein, was ich ungeachtet meines momentanen Aufenthalts im Krankenhaus gar nicht vorhatte, also noch unwahrscheinlicher – immer noch schade. Ich könnte in einem Monat in der Luft schweben, etwa wenn ich in einem Flugzeug sitze, oder aber, wenn ich aus dem zehnten Stock falle. Letzteres möge Gott verhüten.
Aber wie war das mit der Vergangenheit?
In demselben Moment ist das Ereignis Vergangenheit, für die Ewigkeit in Stein gemeißelt.
So hatte er es gesagt. Die Vergangenheit könne nicht mehr geändert werden, eine derartige Änderung sei unmöglich. Warum eigentlich? Das schien nicht zwingend zu sein. Dieser Punkt harrte einer weiteren Erklärung.
Wie hatte er noch so treffend gesagt: Alles dreht sich, fliegt durch den Weltraum. Ja, in der Tat: Ich fliege gerade rückwärts durch das All, kopfüber (!). Ein etwas beunruhigender Gedanke. Und dabei folge ich dem Zeitstrahl? Seltsam, diese Zeit … Darüber schlief sie ein.
Sie träumte, wie sie in die Vergangenheit reiste, ließ die Diskussion mit ihm Revue passieren, nahm die ersten ärztlichen Untersuchungen nach dem Unfall in umgekehrter Reihenfolge wahr, konnte aber trotz aller Kraftanstrengungen zeitlich nicht vor den Unfall gelangen. Zu gern wäre sie dem Unfall ausgewichen, hätte vor dem Unfall die Spur gewechselt oder sonst etwas getan, nur um nicht in die Nähe ihres Unfallgegners zu gelangen.
***
An einem anderen Ort, aber zur selben Zeit, als Lea gerade einschlief, fasste ein Techniker die Ergebnisse der letzten Woche zusammen. »Es ist wahrlich nicht gut gelaufen«, sagte Freddy Steinberger zu seinem Kollegen Jean Maraux, »irgendwie steht unsere Versuchsreihe unter einem schlechten Stern.« Er nahm einen tiefen Schluck und stellte das leere Bierglas auf die Theke. »Bitte noch einmal die Luft rauslassen«, sagte er zu dem deutschen Barkeeper.
Lichtreflexe spiegelten sich in dem sprudelten Bier und in den polierten Armaturen aus Chrom, als der Mann hinter dem Tresen den Zapfhahn betätigte. Die unzähligen Lichtpunkte hatten ihren Ursprung tief im Zentrum der Lampen, die an der Holzdecke über dem Tresen angebracht waren. Doch für dieses Naturschauspiel hatte der Barkeeper keine Sensoren, er konzentrierte sich auf die perfekte Verteilung von Bier und Schaum im Glas.
»Wahrscheinlich wird es die nächsten Tage besser«, antwortete Jean Maraux und nippte an seinem Rotweinglas. »Aber ist es nicht wirklich verrückt? Wir versuchen eines der letzten Geheimnisse der Natur zu entschlüsseln, haben hierfür enorm leistungsfähige Computer mit optimal programmierter Software zur Verfügung, kurzum wir arbeiten mit modernster Technik an einem der spannendsten Experimenten auf unserem Planeten, und dann kommt uns dieser Planet ständig in die Quere.«
»Es sind einfach zu viele Komponenten, die Einfluss auf unser Experiment haben«, warf Steinberg ein.
»Also müssten wir nur die Einflussfaktoren reduzieren«, sagte sein Gegenüber.
»So einfach ist das aber nicht«, war die Antwort. »Man muss auch Demut vor der Natur haben.«
So philosophierten und fachsimpelten sie noch eine Weile, bevor auch sie ins Bett gingen.