Читать книгу Ein Quantum Zeit - Volkmar Jesch - Страница 23

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Zahlen über Zahlen

Mathematik ist das Alphabet,

mit dessen Hilfe Gott das Universum beschrieben hat.

Galileo Galilei,

Physiker und Astronom

»Sie sprachen gestern davon, dass mein Körper aus 1029 Atomen besteht«, sagte sie. »Die Dimension der Zahl wollten Sie mir erklären.«

Im Prinzip war ihr natürlich aus der Schule das Rechnen mit Exponenten geläufig. Aber erstens wollte sie ihren Fauxpas wiedergutmachen, und zweitens hatte sie das Gefühl, dass er ihr auch zu diesem Thema Grundlegendes vermitteln konnte. Sie sollte sich allerdings täuschen. Er vermittelte ihr nicht nur Grundlegendes, sondern Revolutionäres.

»Gut, dass Sie das Thema ansprechen. Wir können zu einem tieferen Verständnis der Zeit und des mit ihr verknüpften Entropie-Begriffs nur gelangen, wenn wir grundlegender über Zahlen, ihre Dimensionen und die Exponentialfunktion an sich gesprochen haben. Wenn es um große Zahlen geht, haben die Menschen immer grundlegende Probleme.«

Dem wollte sie nicht widersprechen. »Warum ist das so?«

»Das liegt zunächst daran, dass uns eigentlich nicht klar ist, wie viel eine Million oder eine Milliarde wirklich ist, auch wenn wir von diesen Zahlen angesichts immer modernerer Computer mit mehr Leistung oder immer höherer Staatsverschuldung ständig hören und deshalb meinen, uns diese Größenordnung unproblematisch vorstellen zu können.

Eine Million ist eine gängige Größe. Es gibt Millionen von Arbeitslosen in jedem Land, und immer mehr Menschen sind Millionäre. Aber wissen Sie, wie lange ein Mensch braucht, um von eins bis zu einer Million zu zählen?«

Er beantwortete die Frage gleich selbst. »Es sind ungefähr drei Wochen, wenn man Tag und Nacht zählt. Wenn man acht Stunden für Schlaf und Essen abzieht, dann vier Wochen. Man sollte vielleicht manchen Managern das Gehalt in Ein-Dollar-Noten auszahlen und ihnen nur so viel Gehalt zahlen, wie sie in ihrer Freizeit zählen können.«

Sie musste laut lachen.

»Und wissen Sie, wie lange es dann dauert, um bis zu einer Milliarde zu zählen?«

»1.000 mal so viel«, sagte sie.

»Ja, aber wissen Sie, wie lang das 1.000-fache von vier Wochen wirklich ist? Es ist ein ganzes Menschenleben, etwa 76 Jahre. Wenn man mit zehn Jahren anfängt, muss man schon 86 Jahre alt werden, um bis zu einer Milliarde zu zählen.«

Es ging um Zahlen, und da war er in seinem Element. »Man kann die Dimension der großen Zahlen nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich erfassen«, sagte er und freute sich insgeheim über die geschickte Verbindung zur Grundstruktur allen Seins. »Legt man 100 US-Dollar-Noten so lange übereinander, bis eine Million Dollar zusammenkommen, macht dies einen Stapel von etwa zwei Metern aus.

Wenn wir eine Milliarde Dollar stapeln wollten, wäre dieser Stapel bereits fünfmal so hoch wie das Empire State Building. Und für die Darstellung der amerikanischen Staatsverschuldung müsste man mit 100 US-Dollar-Noten einen Turm mit einer Höhe von mehr als 30.000 Kilometern bauen. Dieser Turm würde bis weit in den Weltraum reichen.«

»Erschreckend!« Sie war mehr als beeindruckt, lehnte sich zurück und lauschte fasziniert seinen Worten.

»Da die Menschen immer häufiger mit großen Zahlen zu tun hatten, sind die Mathematiker unter ihnen irgendwann auf die Idee gekommen, die Exponentialfunktion zu entwickeln, also durch eine hochgestellte Zahl die Darstellung großer Zahlen zu vereinfachen. So lernen wir in der Schule, dass 22 gleich 4 ist und 33 gleich 27. In dieser eleganten mathematischen Darstellungsform steckt aber ein Riesenproblem, weil die Exponentialfunktion ganz schnell das menschliche Vorstellungsvermögen übersteigt.

Der Physiker Albert A. Bartlett hat sogar die Exponentialfunktion zum größten Manko des menschlichen Denkens erklärt. Er sagte: ›Die größte Schwäche von uns Menschen ist unsere Unfähigkeit, die Exponentialfunktion wirklich zu verstehen.‹17«

Und er fügte die etwas überraschende Frage hinzu: »Spielen Sie Schach?«

»Ja, natürlich.« Aber was hatte das mit der Exponentialfunktion zu tun? Er half ihr auf die Sprünge.

»Rufen wir uns die alte indische Legende in Erinnerung, von einem Weisen, der das Schachspiel zur Zerstreuung und Belehrung seines Königs erfunden haben soll. Als Dank wollte ihm der König einen Wunsch erfüllen. Der Wunsch des Weisen schien bescheiden: Er bat um nichts mehr, als dass er allen Weizen bekommen sollte, der sich daraus ergeben würde, wenn man auf das erste Feld ein Weizenkorn legt, auf das zweite Feld doppelt so viel, also zwei Körner, und auf das nächste Feld wieder doppelt so viel wie auf das vorherige Feld, mithin vier Körner, und so weiter. Der König verspottete den Weisen, weil er nur so wenig forderte. Am nächsten Morgen verging dem König das Lachen, als der Hofmathematiker, der die ganze Nacht gerechnet hatte, ihm erklärte, was der König dem Weisen schuldete. Die versprochene Menge Weizen sei weder in der Weizenkammer des Königs, noch in allen Weizenkammern von Indien noch in allen Weizenkammern der ganzen Welt vorhanden, erklärte der Hofmathematiker dem König. 264 minus ein Korn Weizen schuldete der König dem Weisen.«

»Wie viele Körner sind das?«

»Das sind etwa 18 Trillionen Körner Weizen.«

Sie musste ihn unterbrechen: »Wie kann man sich diese Menge vorstellen?«

»Betrachten wir die Weizenmenge einmal aus dem Blickwinkel der Technik der modernen Zeit. Würde man 18 Trillionen Körner Weizen in einen Güterzug verfrachten, dann bräuchte der Güterzug, wenn in jeden Waggon 20 Tonnen passen würden und wenn er mit 80 km/h an einem vorbeiführe, 730 Jahre, um zu passieren!18 Meistens fahren Güterzüge aber wesentlich langsamer, sodass eine Passierzeit von etwa 1.000 Jahren durchaus realistisch ist.«

Das Beispiel imponierte ihr. »Den Exponenten hätte ich auch unterschätzt. Allerdings ist 64 auch ein ziemlich hoher Exponent, oder?«

»Ja, aber bedenken Sie, das Beispiel mit dem Schachbrett bezieht sich auf 2er-Potenzen. Wir reden hier nur über die Kraft der Verdoppelung.

In unserem dezimalen Rechensystem sprechen wir dagegen von Zehnerpotenzen. Da ist alles noch viel schlimmer. Da geht es nicht um die Verdoppelung, sondern um die Verzehnfachung. Die Erhöhung des Exponenten um eine Stelle bedeutet eine weitere Null am Ende einer Zahl. Das dürfte jedem klar sein, und doch unterschätzen wir diese Null gewaltig. Wir neigen dazu, die Nullen am Ende gedanklich so zu behandeln, als wäre es eine Null in den uns bekannten Größenordnungen von 10er-Potenzen. Ein wahrhaft fataler Irrtum.

Je größer der Exponent wird, desto sprunghafter steigt auch die Ausgangszahl an. Denn jede weitere Zahl im Exponent, also jede weitere Null am Ende, bedeutet nicht nur die Verzehnfachung irgendeiner Zahl, sondern der vorherigen Zahl, mag diese auch noch so groß sein.«

Das war ihr doch alles klar, dachte sie. Weit gefehlt.

»Zur Verdeutlichung ein Beispiel«, fuhr er fort. »Die kürzeste Sprintstrecke bei den olympischen Spielen hat eine Länge von 102 m, also 100 Meter, das längste Laufduell, der Marathonlauf, umfasst eine Strecke von circa 4,2 mal 104 Meter, mithin 42 Kilometer. Von Hamburg nach Wien sind es fast 1.000 Kilometer, nämlich 106 Meter. Fährt man 107 Meter weiter ist man am Kap der Guten Hoffnung in Südafrika und in einer Entfernung von 108 Meter hat man ein Viertel des Weges zum Mond hinter sich. Nach einem Flug von 109 Meter könnte man auf dem Mars sein, und die Sonne ist von der Erde 1,5 mal 1010 Meter entfernt.

Obwohl der Exponent von der Sprintstrecke von 102 Meter nur verfünffacht wurde, ist man schon auf der Sonne. Und die Vergrößerung der Zahlen nimmt explosionsartig weiter zu. Zwischen 102 Kilometer und 103 Kilometer liegen 900 Kilometer, zwischen 1012 Kilometer und 1013 Kilometer aber bereits 9.000.000.000.000 Kilometer. Und die Zahlen steigen immer sprunghafter an. Wenn es im Universum insgesamt 1080 Atome gibt, dann sind 1083 Atome bereits so viel Atome, wie in 1.000 Universen passen würden.«

Puh. Jetzt hatte er es ihr aber gegeben. Das war jedenfalls der Gedanke, der durch die Milliarden von neuronalen Netzwerkverbindungen in ihrem Gehirn schoss. Imponierend, diese Zahlenspielereien. Na gut, es war mehr als Spielereien. Die Beispiele waren beeindruckend und lösten bei ihr eine noch größere Ehrfurcht für die Dimension großer Zahlen aus.

»Gleiches gilt natürlich auch für die Betrachtung der ganz kleinen Dinge«, fuhr er fort. »Hier setzten wir vor den Exponenten ein Minuszeichen. 10-3 Meter sind daher 0,001 Meter oder ein Millimeter. Aber auch hier bedeutet jede Vergrößerung des Exponenten um eins die Verringerung der vorherigen Zahl um das Zehnfache, mag diese auch noch so klein sein.

Man muss sich daher bei der Verwendung von Exponentialfunktionen immer den allergrößten Respekt vor großen Zahlen bewahren. Oftmals kann man sich die Dimension der Zahl mit einem Vergleich klarmachen, der sich an den uns einigermaßen gebräuchlichen Größenordnungen orientiert. Aber das ist nur ein Hilfsmittel.

Man kann es nicht oft genug wiederholen: Wir gehen bei großen Zahlen nicht in Millionen, Milliarden oder sonstigen Schritten voran, sondern jede weitere Null am Ende einer Zahl verzehnfacht nicht die Ausgangszahl oder irgendeine Zahl, sondern die vorherige Zahl.

Wenn Sie morgen Zeit haben und Interesse verspüren, diese für mich sehr unterhaltsame Diskussion fortzuführen, dann können wir uns dem grundlegenden Phänomen der Zeit intensiver widmen und der Frage zuwenden, warum geschichtliche Ereignisse einmalig und unwiderruflich sind.«

Er resümierte nachdenklich: »Es ist und bleibt ein seltsames Phänomen. Ständig nimmt die Unordnung in der Welt zu. Also hatte die Welt früher einen höheren Ordnungszustand. Doch der Ablauf der Dinge bis zum heutigen Zustand selbst ist nicht zwingend ein ungeordneter Vorgang. Blickt man von heute zurück in die Vergangenheit ist der Ablauf der Dinge vielmehr ein höchst geordneter. Als ob die Zeit der Faktor wäre, der die Kausalität ordnet. Das gilt selbst dann, wenn wir bestimmte Ereignisse als eher zufällig, vielleicht sogar chaotisch erlebt haben, sodass auch wir den subjektiven Eindruck einer Zunahme der Unordnung haben.

Im Nachhinein ist alles logisch. Es ist klar, warum das alles passiert ist und wir uns hier und jetzt befinden. Schauen wir zurück in vergangene Zeiten, können wir Schritt für Schritt analysieren, wie die Geschichte bis heute abgelaufen ist, welche Kausalkette uns bis zum momentanen Zeitpunkt gebracht hat. Und doch hilft uns diese auf dem Kausalprinzip beruhende Erkenntnis bei der Frage nach einem Weg zurück in der Zeit nur bedingt weiter, weil sich die Natur nicht so einfach umdrehen lässt.«

Natürlich hatte sie großes Interesse und Zeit – Zeit hatte sie sowieso.

»Jetzt sollten wir aber wirklich Schluss machen für heute. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.« Er stand auf und ließ eine faszinierte, aber auch sprachlose Person zurück.

Als er gegangen war, fiel ihr ein, dass sie eigentlich mehr von ihm hatte erfahren wollen. Scheibenkleister, dachte sie, ich habe immer noch nichts über ihn persönlich herausbekommen. Vielleicht ist er Statistiker, wahrscheinlich ist er es sogar. Aber sicher war sie sich nicht. Er war auch so unvermittelt aufgestanden, als ob er das Gespräch schnell beenden und gar nicht mehr auf persönliche Dinge zu sprechen kommen wollte.

Achselzuckend ging sie allein zum Abendessen.

***

In diesem Moment schauten die Techniker Freddy Steinberger und Jean Maraux sowie weitere Mitarbeiter und eine Assistentin gebannt auf einen großen Bildschirm, der verbunden war mit einem Netz von Computern und anderen technischen Geräten.

Die Computer werteten die letzten Experimente aus.

Die Visualisierung des Ablaufs eines Experiments lief immer nach einem ähnlichen Schema ab, als ob auf einer Bühne immer das gleiche Stück gespielt würde. An der linken unteren Ecke des Computerscreens startete ein grüner Punkt aus einer kleinen schwarzen Box, bildete eine gestrichelte Linie diagonal über den Bildschirm in Richtung einer weiteren Box an der oberen rechten Ecke des Bildschirms, kam aber nicht so weit. In der Mitte des Weges, irgendwo im Raum zwischen den Boxen, verlor sich der Punkt. Genauer: Der grüne Punkt erlosch, und an der gleichen Stelle öffnete sich ein rotes Feld, in dem eine Reihe von Daten ausgeworfen wurden, darunter die genaue Zeitangabe über die Dauer des Versuchs, die Angabe von bestimmter Koordinaten und dergleichen mehr. Die rote Farbe signalisierte, dass der Versuch fehlgeschlagen war.

Das ging alles sehr schnell vonstatten, obwohl die grafische Darstellung den eigentlichen experimentellen Vorgang stark verlangsamte. Tatsächlich wurden blitzschnell ablaufende Vorgänge analysiert und visualisiert.

Über einen weiteren Bildschirm konnten die Daten der gescheiterten Versuche im Einzelnen betrachtet und verschiedenen weiteren Analysetools unterworfen werden. »Verflucht«, sagte einer der Techniker, »jetzt haben wir schon wieder alle Objekte verloren. Das ist ja zum Verrücktwerden.«

Obwohl hier eines der spektakulärsten, aber wohl auch kuriosesten Experimente, das jemals auf diesem Planeten stattfand, ausgewertet wurde, gehörte der Raum, in dem sich alle befanden, eher zu einer Wohnung, denn zu einem Büro oder zu einem Versuchslabor. Eingerichtet war der Raum wie ein großzügiges Wohnzimmer, mit einladender Couchgarnitur und separater Essecke. Von hier aus hatte man einen hervorragenden Blick auf die umliegende Landschaft. An einem weiteren Tisch, waren die verschiedenen technischen Geräte, Computer und Bildschirme aufgebaut. Neben diesem Raum gab es noch drei weitere Zimmer, in denen Betten standen. In einer Küche konnte man Speisen zubereiten.

Doch zum Essen hatten die Techniker keine Zeit. Vielmehr lief die Espressomaschine im Dauereinsatz. Das Koffein half den Anwesenden, neben seiner belebenden Wirkung, einen kühlen Kopf zu bewahren. Den brauchten sie auch, denn ihre Experimente scheiterten mit einer beständigen Gleichmäßigkeit.

Ein Quantum Zeit

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