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ОглавлениеVon Ordnung und Unordnung
Unkraut wächst in zwei Monaten.
Eine rote Rose braucht dafür ein Jahr.
Mevlana Celaleddini Rumi,
persischer Dichter
Sie fand seine Erklärungen immer noch unzureichend. Irgendwie redete er um den heißen Brei herum. Energie wird von einer Energiestufe in eine andere umgewandelt, der Vorgang kann nicht mehr rückgängig gemacht werden, Energie wird entwertet, und das alles hat eine Parallele zur Zeit.
Seine Erklärungen waren zwar sehr eingängig, letztlich wurden hier aber nur Vorgänge miteinander verglichen. Das reichte ihr nicht. Sie wollte die Vorgänge verstehen, im Einzelnen nachvollziehen können. Sie dachte daran, wie man ihr ursprünglich die Entropie erklärt hatte.
»Aber Entropie hat doch was mit Unordnung zu tun«, warf sie ein. »Ich gebe ja zu, mit dem Unfall ist mein Auto entwertet. Aber ist es damit auch unordentlicher geworden? Und selbst wenn dem so wäre. Ich kann mein Auto wieder reparieren lassen und so die Ordnung wiederherstellen.«
»In der Tat könnte man annehmen, dass die (An-)Ordnung der einzelnen Teile Ihres Autos durch den Unfall zerstört worden ist, sich in Unordnung verwandelt hat und die Ordnung durch eine Reparatur wiederhergestellt werden kann. Das meint man aber nicht, wenn man davon spricht, dass die Unordnung immer zunimmt. Selbst wenn Sie das Auto reparieren ließen, würde damit der Grad der Unordnung insgesamt um ein Vielfaches zunehmen.«
Er sprach in Rätseln. Bei der Wiederherstellung der Ordnung nahm die Unordnung zu? Sie musste Klarheit über die verwendeten Begriffen schaffen. »Was ist eigentlich Ordnung, und warum nimmt die Unordnung ständig zu?«, kam es von ihr.
»Ja, warum neigt alles dazu, von einem mehr geordneten in einen weniger geordneten Zustand überzugehen«, präzisierte er die Frage, um sie gleich zu beantworten, wobei er eine Verknüpfung zum Beginn ihrer Diskussion herstellte.
»Weil es wahrscheinlich ist. Es gibt einfach viel, viel mehr ungeordnete Zustände als geordnete. Das ist das Problem. Ordnung heißt, jedes Ding ist an seinem Platz, und es gibt nur einen Platz für jedes Ding. Aber wenn alle Gegenstände in Bewegung versetzt werden, etwa durch ein spielendes Kind in einem Kinderzimmer, verlassen diese augenblicklich ihren geordneten Zustand.
Sind Gegenstände beweglich, ist es wahrscheinlich, dass sie mehr oder weniger schnell in einen ungeordneten Zustand übergehen. Und da die ›mehr ungeordneten‹ Zustände häufiger sind, als die ›weniger ungeordneten‹, ist es auch wahrscheinlich, dass die Zustände zunehmend ungeordneter werden, die Unordnung also zunimmt.«
»Klingt irgendwie einleuchtend, scheint mir aber zu simpel zu sein. Kann man das nicht näher spezifizieren?«
Sie wollte es wirklich genau wissen, dachte er. Ihm sollte es recht sein.
»Ich verdeutliche Ihnen das am besten anhand eines Beispiels«, sagte er und zeigte nach kurzer Überlegung auf die Regalwand der Bibliothek. »Schauen wir uns einmal eine Bücherreihe näher an.14 Ich hatte das gestern schon als Beispiel genannt. Aber Wiederholung stärkt die Synapsen. Wenn alle Bücher nach Sachgebieten sortiert sind, ist die Ordnung hergestellt. Wir nehmen an, dass es für die Anordnung der Bücher nur einen Zustand der perfekten Ordnung gibt. Nimmt jetzt die Putzfrau ein Buch heraus, um es abzustauben, und stellt es irgendwo wieder zurück in die Regalreihe, wird es problematisch, denn die schöne Ordnung ist dahin.
Passiert das mit weiteren Büchern, ist plausibel, dass mit jedem Vorgang die Unordnung im Bücherreal zunimmt. Wie schnell und in welchem Umfang der Grad der Unordnung aber zunimmt, ist immer wieder erstaunlich.«
Er machte eine kurze Pause, bevor er zum Kern des Problems vorstieß: »Wenn wir die möglichen Zustände der Bücher etwas detaillierter betrachten, sollte es uns gelingen, den Grad der Unordnung zu spezifizieren. Wird durch das segensreiche Wirken der Reinemachfrau das erste Buch aus dem Regal genommen, gibt es, so unsere Annahme, zwölf Möglichkeiten, wohin es nach dem Abstauben wieder gestellt werden kann, denn das Buch muss ja nicht an die gleiche Stelle zurückgeschoben werden. Das sind die möglichen Zustände, die das eine Buch im Regal einnehmen kann. Wir können damit den Grad der möglichen Unordnung für das eine Buch mit der Zahl zwölf genau beziffern. Soweit ganz einfach und übersichtlich.
Das Problem ist nur, dass es bei weiteren Vorgängen mit der Übersichtlichkeit schnell dahin ist. Werden zwei Bücher herausgenommen und irgendwo wieder zurückgestellt, sind es schon 132 Möglichkeiten einer unterschiedlichen Anordnung, nämlich zwölf Möglichkeiten für das erste Buch, multipliziert mit den elf Möglichkeiten für das zweite Buch. So geht das in Riesenschritten weiter. Bei drei Büchern sind es 1.320 Möglichkeiten und bei der doppelten Anzahl von sechs Büchern bereits die sagenhafte Zahl von 665.280 Möglichkeiten.
Wollen wir den Grad der maximalen Unordnung für diese kleine Bücherreihe mit zwölf Büchern bestimmen, sind wir bei 479 Millionen Möglichkeiten. Maximale Unordnung kann also in der Anzahl aller möglichen Zustände, die eingenommen werden können, ausgedrückt werden.«
»Puh«, sagte sie. Auch in ihrem Kopf wirbelten irgendwelche Teilchen wie wild hin und her. Sie musste von diesen hohen Zahlen wieder runterkommen. Obwohl sie beeindruckt war, konnte sie es sich nicht verkneifen, das Beispiel als irreal abzutun: »Von wegen segensreiche Tätigkeit. So eine schusselige Putzfrau gibt es doch gar nicht. Und selbst wenn, macht sie diesen Job nicht lange. Ich würde dem Hotel empfehlen, sie hochkantig rauszuwerfen. Dann bleiben die Bücher so, wie sie sind. Nix mit Unordnung. Ganz im Gegenteil. Dann lagert sich eben Staub auf den Büchern ab, schön gleichmäßig und ordentlich.«
»Sie können die zunehmende Unordnung nicht durch Nichtstun aufhalten«, warf er ein. »Der Schein trügt, wenn sie eine ordentliche Verteilung des Staubes annehmen. Sie müssen das globaler sehen. Durch das Absetzen des Staubes auf den Büchern hat dessen Unordnung in der Welt insgesamt zugenommen.«
Sie wollte einhaken, er ließ es aber nicht zu.
»Wir können putzen, so oft wir wollen, immer wieder wird sich Staub ablagern, selbst wenn wir ein Zimmer nicht betreten. Denn die Unordnung nimmt immer zu. Es ist zwar nicht unmöglich, dass sämtliche Staubpartikel in einem Zimmer durch das Schlüsselloch verschwinden, doch statistisch gesehen ist das extrem unwahrscheinlich. Schade eigentlich. Bis dieser Zustand der Ordnung hergestellt ist, muss man viel länger warten, als das beobachtbare Universum existiert.«
Beeindruckend, welche Überlegungen er anstellt, dachte sie. Wie konnte man überhaupt auf die Idee kommen, dass sich alle Staubpartikel durch das Schlüsselloch wieder verkrümeln? Sie hätte das für unmöglich gehalten. Er hielt das nur für unwahrscheinlich, allerdings für extrem unwahrscheinlich.
Wieder der Begriff der Wahrscheinlichkeit, mit dem er sie konfrontierte, dieser … dieser Wahrscheinlichkeitsjunkie. Sie lächelte. Diese Charakterisierung gefiel ihr. Offensichtlich war er Statistiker oder hatte einen ähnlich langweiligen Beruf.
Sie wusste gar nichts über ihn. Ein unmöglicher Zustand. Aber wahrscheinlich ergab sich bald die Möglichkeit, ihn etwas auszufragen. Sie lächelte. Vielleicht bekam sie auch ohne direkte Frage mehr über ihn heraus. Und listig, wie sie meinte, fragte sie ihn: »Und wie kann man die Wahrscheinlichkeit berechnen?«
»Zunächst ganz einfach, bei komplexen Vorgängen helfen dann statistische Betrachtungen«, antwortete er. Sie triumphierte. Im Berufe raten war sie immer gut gewesen.
Er bekam von ihrem Gefühlsausbruch nichts mit. Mit ihrem Einwurf verband er eine ganz andere Wahrnehmung: »Sie werden gleich sehen, dass uns die Frage nach der Berechnung der Wahrscheinlichkeit enorm weiterbringt, weil wir genauer verstehen werden, wie sich die Welt in Richtung Zukunft entwickelt. Ein vertieftes Verständnis dafür hilft uns, zu begreifen, was es bedeutet, wenn wir diesen Vorgang wieder rückgängig machen wollen, um in die Vergangenheit zu gelangen.
Also, worum geht es? Es geht darum, dass das Fortschreiten der Gegenwart durch die Grundsätze der Wahrscheinlichkeit bestimmt wird, wenn es aus dem Bereich der möglichen Geschehensabläufe einer Möglichkeit gelingt, den Sprung in die Realität zu vollführen, wie wir besprochen haben. Und die Wahrscheinlichkeit kann man berechnen, wenn man sie in Beziehung zur maximalen Unordnung setzt.«
Er machte eine kurze Pause, um den letzten Satz wirken zu lassen. Sie schaute zunächst etwas verdutzt, aber nicht lange.
»Wie sind Wahrscheinlichkeit und Unordnung verknüpft?«, fuhr er fort. »Eigentlich ist die Beziehung ganz banal, und sie ist uns bewusster, als wir gemeinhin annehmen. Denn je größer die Unordnung ist, umso unwahrscheinlicher wird es, dass wir einen bestimmten Gegenstand finden. Oder anders gesagt: Wenn die Anzahl der Möglichkeiten steigt, die als Nächstes passieren können, dann nimmt die Wahrscheinlichkeit ab, dass genau eine bestimmte Möglichkeit als Nächstes realisiert wird.«
Das kam überraschend, war aber irgendwie simpel. Wer Ordnung liebt, ist nur zu faul zum Suchen, dachte sie. Und unwahrscheinliche Dinge passieren eben selten. Aber bestimmt war das noch nicht alles an Erklärung, wenn er so bedeutungsvoll schaute. Die Sätze schienen eine fundamentale Bedeutung zu haben, was ihr bislang entgangen war. Das wirklich Fundamentale kam auch gleich.
»Man muss etwas näher hinschauen, damit die Beziehung zwischen Wahrscheinlichkeit und Unordnung Konturen gewinnt«, sagte er. »Bleiben wir bei unserem Beispiel mit den Büchern. Wenn bei 12 Büchern eines herausgenommen wird, kann der maximale Grad der Unordnung durch die Zahl 12 charakterisiert werden. Das ist die Anzahl aller zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, denn es gibt 12 Möglichkeiten, das Buch wieder in die Reihe einzusortieren.
Der Kehrwert dieser Zahl, nämlich 1/12, beschreibt nun die Wahrscheinlichkeit dafür, dass beim Zurückstellen des Buches eine dieser möglichen 12 Möglichkeiten ausgewählt wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass die unachtsame Reinemachfrau das erste Buch an einer ganz bestimmten, beliebig ausgewählten Stelle wieder einsortiert, beträgt demnach 1/12.«
Sie war verblüfft. Wahrscheinlichkeit war die Umkehrung der Unordnung und umgekehrt? Dass höchstmögliche Unordnung und Wahrscheinlichkeit dergestalt verbunden waren, hätte sie nicht gedacht. Sie grübelte.
Er hatte recht, natürlich. Wenn man einen Würfel warf, war die Wahrscheinlichkeit die 6 oder irgendeine bestimmte andere Zahl zwischen 1 und 6 zu würfeln, genau 1/6. Denn es standen maximal 6 Möglichkeiten zur Verfügung.
»Wenn die Putzfrau zwei Bücher herausnimmt und irgendwo wieder einsortiert«, fuhr er fort, »gibt es 132 Möglichkeiten, wie wir wissen, also ist die Chance, dass beide Bücher irgendwo an einer bestimmten Stelle wieder einsortiert werden 1/132. Bei drei Büchern ist die Chance bereits 1/1.320, und so geht das durch die rasant zunehmende Anzahl von Möglichkeiten in Riesenschritten weiter in Richtung zunehmende Möglichkeiten oder anders gewendet in Richtung ansteigende Unordnung.
Bei dieser Betrachtung müssen wir unterstellen, dass die Putzfrau die Bücher wirklich irgendwo einsortiert und sich nicht an irgendeine Vorgabe hält. Aber das wollen wir für unsere Überlegung einmal tun, ihr dafür danken und sie nicht gleich entlassen.«
Sie lächelte und sagte: »Jetzt verstehe ich auch, dass es so unwahrscheinlich ist, dass 32 Spielkarten allein durch Mischen wieder ihre Ausgangsordnung erreichen.«
»Weil nahezu alle Gegenstände in der Welt in Bewegung sind«, fuhr er fort, »ist es kein Wunder, dass ihre Ordnung abnimmt und dass es immer mehr Möglichkeiten gibt, wie sich die Gegenstände anordnen können. Immer mehr Vorgänge produzieren immer mehr Unordnung. Wie sagte Clausius bereits im 19. Jahrhundert so pointiert: ›Die Unordnung im Universum strebt einem Maximum zu.‹
Wir wundern uns, dass immer wieder etwas Unvorhergesehenes passiert, aber angesichts der ständigen Abnahme der Ordnung ist das nur allzu wahrscheinlich. Unser Dasein hängt von unheimlich vielen Vorgängen in unserer Welt ab, deren Kausalketten wir nicht kontrollieren können. Wir quittieren ein unvorhergesehenes Ereignis in unserem Leben mit der Aussage ›Irgendwas ist immer‹. Doch hinter diesem flapsigen Satz steckt in Wahrheit ein tief in unserem Universum verankertes Naturprinzip.«
Das klang unheimlich logisch. Aber es passte irgendwie nicht. Es mochte ja sein, dass man sein persönliches Schicksal nur bedingt beeinflussen konnte. Er sprach aber auch von der ständigen Zunahme jedweder Unordnung, doch auf der Erde sah man davon wenig.
»Aber unsere Umwelt ist doch von Ordnung geprägt«, warf sie ein. »Wir haben Städte, Häuser, Gesetze, geordnete Strukturen.«
»Ja, natürlich, die Herstellung der Ordnung ist möglich. Deswegen ist es vorteilhaft für die Menschen, die Dinge aktiv anzupacken, anstatt einen Zustand mit der Aussage zu quittieren: ›Es ist, wie es ist.‹ Denn dieser Zustand gilt ausschließlich für die Vergangenheit. Die Zukunft können wir noch beeinflussen, die Vergangenheit schon nicht mehr. Es lohnt sich allemal, eine Veränderung in der Zukunft herbeizuführen, auch wenn es einem in der Vergangenheit nicht gelungen ist.«
»Und wie wird die Ordnung wiederhergestellt, die wir überall wahrnehmen können? Durch Aufräumen und Putzen?«
Er lachte laut los. Es gefiel ihr, wenn er lachte. Es war selten genug. »Natürlich«, sagte er. »Mein Mitbewohner zu Studentenzeiten hat sich immer geweigert, zu putzen. Sein Argument: Er wolle nicht gegen das Grundprinzip des Universums verstoßen.« Jetzt musste sie schmunzeln. »Aber Spaß beiseite. Durch Putzen, Waschen, Aufräumen, Reparieren, aber eben auch durch Häuser und Städte bauen und dergleichen mehr schaffen wir Ordnung, und das ständig. Was benötigen wir dafür? Energie! Diese Vorgänge sind nur mit dem Einsatz von Energie, nämlich aufgrund der von unseren Muskeln erzeugten Kraft, möglich. So weit, so gut.«
Er machte eine kleine Pause.
»Leider ist diese Betrachtungsweise höchst unvollständig«, sagte er und kam jetzt zum wirklichen, zum kosmischen Problem. »Auch wenn wir partiell die Ordnung wieder herstellen, vergrößern wir nur die Unordnung an einer anderen Stelle in ungleich höherem Maße. Mit der Tätigkeit unserer Muskeln und der Steuerung unseres Bewegungsapparates ist gleichzeitig die Produktion von Schweiß oder die Abnutzung der Knochen durch Reibung verbunden, beides Vorgänge, die Wärme produzieren, für diesen Vorgang äußerst minimal, aber gleichwohl vorhanden. Genau das ist das Dilemma.«
»Können Sie das näher spezifizieren?«, fragte sie sorglos, wurde allerdings von seiner Antwort fast umgehauen.
»Ich möchte mich an dieser Stelle auf ein Beispiel von Stephen Hawking beziehen. Wenn Sie sich nach dem Lesen seines Buches ›Eine kurze Geschichte der Zeit‹ an jedes Wort erinnern könnten, so schreibt er, sind in Ihrem Gehirn etwa zwei Millionen Informationseinheiten gespeichert, also die Ordnung in Ihrem Gehirn um zwei Millionen Einheiten angewachsen.
Während des Lesens des Buches sind allerdings mindestens tausend Kalorien geordneter Energie im Rahmen des Stoffwechsels Ihres Körpers in ungeordnete Energie, also in Wärme umgewandelt worden, die Sie durch Wärmeleitung und Schweiß an die Luft abgegeben haben.
Dies wird die Unordnung des Universums um ungefähr zwanzig Millionen Millionen Millionen Millionen Einheiten erhöhen – also ungefähr um das Zehnmillionenmillionenmillionenfache der Ordnungszunahme in Ihrem Gehirn. Und das gilt nur für den Fall, dass Sie sich an alles erinnern, was in diesem Buch steht.15«
Sie schwieg. Was sollte sie dazu noch sagen.
»Jedwede Herstellung von Ordnung entwertet Energie, weil ein Teil der Energie in Wärmeenergie umgewandelt wird, die irgendwo verpufft. Und die Zunahme von Entropie durch die Reibung und die dadurch herbeigeführte Produktion von Wärmeenergie bedeutet die Zunahme von Unordnung in der Welt. Deswegen können Sie zwar scheinbar die Ordnung Ihres Autos wiederherstellen, indem Sie es reparieren lassen, aber insgesamt hat die Unordnung in der Welt in einem viel größeren Maße zugenommen.
Nirgendwo gibt es einen optimalen Energieeinsatz, weil es keinen wirklich reibungsfreien Vorgang gibt. Selbst die Bewegungen eines Gummiballes, den Sie in Richtung Boden haben fallen lassen und der wieder zurückspringt, ist mit Reibung verbunden. Wenn der Gummiball abprallt, wird er nie mehr ihre Hand erreichen, nie mehr.«
Auch in ihrem Kopf schien sich gerade wieder Unordnung auszubreiten. Sie wurde ein wenig ungeduldig: »Und wieso, um alles in der Welt, bewirkt die Reibung und die damit einhergehende Wärmeenergie ein Ansteigen der kosmischen Unordnung?«
»Ganz einfach«, antwortete er mit einem entwaffnenden Lächeln. »Materie besteht aus Teilchen. Wenn die Teilchen aufgrund von Reibung verwirbeln, wechseln sie von einem geordneten in einen ungeordneten Energiezustand, den man als Wärme bezeichnet. Wenn ein Ball zu Boden fällt, streben die Teilchen in seinem Innern gravitationsbedingt mehr oder weniger einheitlich in Richtung Erdmittelpunkt. Vereinfacht gesagt fliegen die Teilchen in Reih und Glied, wie bei einem Formationsflug einer Flugzeugstaffel.16
Schlägt der Ball nun auf dem Boden auf, wird ein Teil der Teilchen durcheinandergewirbelt. Die Teilchen im Ball, die man sich quasi durch Federn verbunden vorstellen kann, fangen durch den Aufprall am Boden an, zu schwingen, um einen Teil der Energie aufzunehmen.
Verwirbelte beziehungsweise schwingende Teilchen sind weniger gut in der Lage, sich einheitlich in eine Richtung zu bewegen, sodass nach dem Aufprall des Balles auf dem Boden nur ein Teil der Teilchen dem Ball einen Aufwärtstrieb geben kann. Es findet eine ›Zerstreuung‹ der Energie statt. Die Energie wird dadurch entwertet, dass die Ordnung der Teilchen abnimmt. Deswegen erreicht ein fallender Ball nie mehr seine Ausgangsposition.
Das ist das, was wirklich passiert, wenn wir, die Details negierend, so unspezifisch davon sprechen, dass Bewegungsenergie in Wärmeenergie umgewandelt wird. Verwirbelung ist Unordnung. Sie steigt im Kosmos ständig an. Die Entropie schlägt zu.«
Sie war fasziniert von dieser Sichtweise. Durch die Einbeziehung von Teilchen eröffnete sich ihr ein völlig neuer Blickwinkel. Die Bilder in ihrem Gehirn gewannen Konturen.
Er vervollständigte ihr neues Bild von der Welt weiter: »Wer sein Zimmer aufräumt, muss Nahrung zu sich nehmen, zum Beispiel Gemüse essen, das wiederum seine Energie von den Kernverschmelzungsprozessen der Sonne bezieht. Jedweder Energieeinsatz führt zur Zunahme an Wärmeenergie und damit zur Steigerung der Unordnung im Universum. Kosmisch gesehen ist also die Lage prekär. Die lokale Ordnung kann zwar wachsen, aber mit ihr das kosmische Chaos ebenfalls.
Aber es ist schon spät. Lassen Sie uns zum Abendessen gehen. Wenn Sie mögen, werde ich morgen versuchen, Ihnen das ganze Mysterium der Entropie zu entschlüsseln, und erklären, was uns daran hindert, in die Vergangenheit zu reisen. Das Wetter scheint sich zu verschlechtern und da ich habe ich viel Zeit«, sagte er und war im Begriff, aufzustehen. Warum seine Zeit wetterabhängig war, sagte er nicht.
»Moment«, warf sie ein, »es tut mir leid, dass ich Sie so brüsk angegangen bin.« Sie war auch wirklich manchmal zu ungeduldig. Er hatte ihr so tiefgreifende neue Erkenntnisse verschafft. So gut hatte ihr noch niemand grundlegende Fragen erklärt, und sie konnte es kaum erwarten, die Unterredung mit ihm fortzuführen. Sie war manches Mal undankbar gewesen, hatte ihn schroff angefahren und an seinen Beispielen herumgemäkelt. Und sie wollte das Gespräch mit ihm noch nicht beenden. Er hatte eine angenehme, weiche Stimme, und es war schön, seinen interessanten Ausführungen zu folgen.