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Energie ohne Ende

Die Energie kann als Ursache

für alle Veränderungen

in der Welt angesehen werden.

Werner Heisenberg,

Physiker

»Ja, was ist Energie?«, sagte er und machte eine kurze Pause. »In allem ist Energie. Energie ist nicht nur in jedem Körper, in jedem Feld, in jedem System, auch dort, wo augenscheinlich nichts ist, ist immer noch Energie. Energie ist aber nicht gleich Energie. Sie tritt in verschiedenen Erscheinungsformen auf, als ob sie sich in unterschiedlichen Gewändern präsentieren wolle.

Man braucht auch für alles Energie. Energie ist eine zentrale Größe in der Welt, ja die zentrale Größe im Universum überhaupt. Energie ist eine Art ›universaler Treibstoff‹ für alle kosmischen Vorgänge, für alle physikalischen, biologischen und chemischen Veränderungen, nein, eigentlich noch mehr«, sagte er und wirkte dabei ein wenig gedankenverloren, »alles ist Energie. Wenn ein Ereignis in diesem Universum passiert, ist immer die Energie beteiligt. Das ist schon seit Ewigkeiten so.«

»An allen Ereignissen? Schon immer und ewig? Kann das wirklich sein?«, dachte sie laut.

Er lächelte. »Warum sind Sie hier?« So banal die Frage war, so tiefschürfend war seine Antwort. »Sie sind hier, weil Sie einen Unfall hatten. Dieser geschah, weil das Ihnen nachfolgende Fahrzeug Bewegungsenergie hatte, allenthalben auch kinetische Energie genannt. Woher kommt die Energie, die ein Auto vorwärtsbewegt? Aus der Verbrennung von Benzin, das aus Öl gemacht wird. In Öl steckt chemische Energie, die, wenn sie entfesselt wird, ein Fahrzeug antreiben oder durch seine Wärmeenergie diese Bibliothek schön warm halten kann.

Öl ist ein fossiler Treibstoff, dessen Energie wiederum aus Pflanzen herrührt, die vor Millionen von Jahren existierten. Damals wie heute beziehen die Pflanzen ihre Energie aus der Sonne, in deren Zentrum die Strahlungsenergie entsteht, die das Leben auf unserem Planeten ermöglicht. Im Sonneninnern fusionieren die Elemente, die aus der Energie beim Urknall vor Milliarden Jahren entstanden sind.«

Sie war beeindruckt von der Energiekette, die er vor ihr ausbreitete.

Der Saft mit Eis und das Bier wurden gebracht. Das Bier hatte eine kleine Krone, natürlich oben, auf dem Bier. Er sagte dazu nichts.

Das Glas Orangensaft leerte sie mit kräftigen Schlucken etwa zur Hälfte und stellte es auf den Bibliothekstisch. Sie hatte wirklich Durst gehabt. Er rührte das Bier nicht an, auch später nicht.

»Wir können die Entropie am besten mithilfe eines praktischen Beispiels verstehen«, sagte er.

Wieder der mysteriöse Begriff der Entropie, dachte sie. Würde sich jetzt der Rest des Orangensaftes von Ordnung in Unordnung verwandeln?

»Versuchen wir, uns der Frage zu nähern, was Energie wirklich sein könnte«, fuhr er fort. »Der Begriff leitet sich aus dem Griechischen ab, nämlich aus ›εν‹, im Sinne von in, innen, und aus ›εργoσ‹, was Arbeit, Werk oder Wirken bedeutet. Energie ist die einem Objekt innewohnende Wirksamkeit, quasi ›gespeicherte Arbeit‹. Um zu arbeiten, braucht man Kraft. Tatsächlich sprach man früher zunächst von Kraft, bis dann der Energiebegriff aufkam. Der Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts lebende Philosoph Gottfried Wilhelm Leibnitz und später auch der Philosoph Immanuel Kant formulierten noch das Prinzip von der Erhaltung der Kraft. Später definierte man Energie als ›Kraft mal Weg‹, was vereinfacht gesagt bedeutet, dass ein Objekt, auf das Kraft ausgeübt wird, im Raum bewegt werden kann.

Energie hat also etwas Bewegendes. So gesehen, scheint die Bewegungsenergie am ehesten dieser Definition zu entsprechen. Aber auch die im Sonnenlicht enthaltene Strahlungsenergie bewegt sich durch den Weltraum bis zur Erde. Beim Zünden der chemischen Energie in einer Bombe bewegt sich alle in der Nähe befindliche Materie explosionsartig durch den Raum. Und elektrische Energie setzt Elektronen in Bewegung, wenn Strom fließt.«

Draußen schneite es. Sie wurde sich auf einmal bewusst, dass sich das wie eine Vorlesung anhörte, und das mitten in einem Sanatorium, na ja, mitten in einer gut geheizten Bibliothek eines Hotels. Abartig? Nein, eigentlich nicht. Ein wenig merkwürdig schon, gerade weil sie Physik in der Schule nie besonders interessiert hatte.

Er erklärte grundlegende Vorgänge aber so einleuchtend, dass das Gespräch mit ihm viel Spaß machte, und so traf sie intuitiv den entscheidenden Punkt, den sie früher vor lauter Desinteresse nie erfasst hätte: »So gesehen, fällt eigentlich nur die Wärmeenergie aus dem Rahmen«, wandte sie ein. »Oder meinen Sie, dass die Wärmeenergie schon deshalb in das ›Bewegungs-Schema‹ passt, weil Wärme fließt?«

»Ein durchaus zutreffender Einwand, aber ich werde Ihnen zeigen, dass die Wärme aus ganz anderen Gründen eine eher unrühmliche Sonderstellung einnimmt. Nein«, sagte er und wurde wieder nachdenklich, »eigentlich ist die Wärme absolut dominant. Und auch sie hat etwas Bewegendes. So oder so, in jedem Fall nimmt die Wärme eine herausragende Position im Universum ein.«

»Das verstehe ich nicht. Ich denke, es ist im Weltall überall bitterkalt?«, wandte sie sein. »Und überdies: Wenn Energie nicht verloren gehen kann, warum kann dann Energie knapp werden? Ich habe das noch nie verstanden, dass Energie niemals verbraucht werden oder verloren gehen kann. Wir verbrauchen doch ständig zu viel Energie und sind zum Sparen der knappen Energiereserven aufgerufen.«

»Ja«, sagte er, »und ›Mars‹ bringt verbrauchte Energie zurück.« Sie musste lachen. Er fuhr fort: »Umgangssprachlich ist das alles richtig. Wenn wir davon sprechen, dass wir Energie verbrauchen, dann verbrauchen wir nur eine Energieform, wie zum Beispiel Benzin, das verbrennt. Das zu seiner Herstellung erforderliche Öl ist auf der Erde nur in begrenztem Umfang vorhanden; insofern wird diese Energieform knapp. Soweit schon richtig. Ich sprach aber davon, dass es mehrere Arten von Energie gibt. Energie ist nicht gleich Energie.«

»Wieso? Ich denke, die Gesamtenergie bleibt immer gleich?«

»Die Gesamtmenge der Energie in unserem Universum bleibt immer gleich. Das heißt nicht, dass die Energie immer gleich bleibt. Partiell, also bezogen auf einen bestimmten Bereich im Kosmos, kann eine Energieform durchaus knapp werden. Das ist hinsichtlich des Öls der Fall und für die Menschheit ein riesiges Problem. Betrachtet man die Dinge universeller, spielt die Erde eine wahrhaft untergeordnete Rolle. Mehr noch: Sie hat überhaupt keine Bedeutung, nicht irgendeine klitzekleine. Das eigentliche Energieproblem im Kosmos liegt ganz woanders.«

Er kratzte sich am Kopf, als wollte er damit zum Ausdruck bringen, dass es sich um ein vertracktes Thema handelte, über das er schon länger nachgedacht hatte: »Das eigentliche Problem besteht seit Urzeiten darin, dass die Umwandlung von einer Energieform in andere Energieformen zwar möglich ist. Das ist das, was ständig passiert in dieser Welt und was den wahren Energieverbrauch darstellt. Nie findet aber eine vollständige Umwandlung der Energie in die Energie der nächsten Energiestufe statt. Die Einsicht ist nicht wirklich neu, doch auch noch nie widerlegt worden.«

»Sie sprechen in Rätseln.«

»Da Energie niemals verloren gehen kann, müsste man eigentlich davon ausgehen, dass eine vollständige Energieumwandlung möglich ist. Genau das passiert aber nicht, wie der französische Ingenieur Carnot bereits 1824 in einer Untersuchung mit dem schönen Titel ›Betrachtungen über die bewegende Kraft des Feuers und die zur Entwicklung dieser Kraft geeigneten Maschinen‹12 feststellte, wobei er mit den durch Feuer angetriebenen Maschinen die Dampfmaschinen meinte. Irgendwie konnte man nicht alle Energie nutzen. Es war wie verhext, ein Teil ging immer verloren.«

»Warum ist das so?«, wollte sie wissen.

»Weil jeder Einsatz von Energie einen bedauerlichen Nebeneffekt hat. Schauen wir uns den Vorgang des Energieeinsatzes näher an, der dem Auto Ihres Unfallgegners zu dem Überschuss an kinetischer Energie verholfen hat, den es brauchte, um Sie in einen Unfall zu verwickeln. Im Motor wird die im Benzin enthaltene chemische Energie durch eine gesteuerte Explosion in Bewegungsenergie umgewandelt, die den Kolben antreibt. Da der Kolben nicht reibungsfrei läuft, geht ein Teil der Bewegungsenergie schon an dieser Stelle durch Reibung ›verloren‹, wie man so schön sagt. Verloren gehen kann die Energie aber nicht, wie wir wissen.

Über die Nockenwelle, wieder Reibung, werden letztendlich die Räder angetrieben, die auf dem Teer auch nicht reibungsfrei laufen. Die durch die Explosion im Verbrennungsraum erzeugte Bewegungsenergie treibt zwar letztlich das Auto an, aber ein Teil der Energie ist auf dem Weg bis an die Räder und darüber hinaus verloren gegangen. Wo ist also die ›verlorene‹ Bewegungsenergie hin?«

»Durch Reibung verloren«, dachte sie laut.

»Fassen Sie einmal einen Reifen nach einer Autobahnfahrt an, er ist sehr warm.«

Kunststück, ohne Auto, dachte sie.

»Sie fühlen die im Reifen enthaltene Wärmeenergie. Durch Reibung wird Bewegungsenergie in Wärmeenergie umgewandelt. Dies ist bei jedem technischen Prozess so. Diese Wärmeenergie ist zwar nicht verloren, sie kann aber grundsätzlich nicht mehr in andere Energieformen umgewandelt werden, ist allenfalls in sehr eingeschränktem Maße nutzbar. Wärmeenergie ist das Aschenputtel der Energie. Global gesehen hat die Nutzbarkeit aller zur Verfügung stehenden Energieformen abgenommen, weil die durch den Reibungsvorgang entstehende Wärmeenergie zugenommen hat.«

Sie unterbrach ihn, etwas zu forsch, wie sie im Nachhinein meinte: »Können Sie nicht langsam« – sie lächelte innerlich über diese Wortwahl, weil man doch über die Zeit sinnierte – »zur Sache kommen? Sie wollten mir die Entropie erklären, weil sie so wesentlich für das Verständnis der Zeit sei. Stattdessen halten Sie mir einen Vortrag über Energie. Zugegebenermaßen hoch interessant und lehrreich. Aber können Sie mir nicht einfach sagen, was nun die Entropie ist?«, fragte sie mit leicht angehobener Stimme. Beinahe hätte sie noch hinzugefügt, dass sie nun wirklich nicht die Zeit mit dem Thema Energie totschlagen wolle, konnte sich aber gerade noch zurückhalten. Das wäre zwar wortwitzig, aber auch eindeutig zu frech gewesen.

Wenn es so einfach wäre, dachte er, sagte aber nur: »Die Abnahme der Nutzbarkeit der Energie wird als Zunahme der Entropie bezeichnet.13 Die Entropie ist, vereinfacht gesagt, das Maß für die Nicht-mehr-Nutzbarkeit von Energie.«

Sie war verblüfft, sagte nichts.

»Energie und Entropie sind auf feinsinnige Weise verbunden. Auch die Ähnlichkeit der Begriffe ist beabsichtigt. ›Entropie‹ ist ein Kunstwort und dem griechischen Wort ›εντρεπειν‹ nachempfunden, was so viel bedeutet wie umdrehen, verwandeln.«

Er schaute kurz aus dem Fenster, wo der Schneefall wieder zugenommen hatte. »Umdrehen kann man allerdings einen durch Entropie ausgelösten Vorgang nicht. Denn mit der Abnahme der Nutzbarkeit ist die Energie entwertet und, das ist wichtig, sie bleibt es grundsätzlich. Der Vorgang ist nicht umkehrbar.«

»Was ist daran so besonders?«, fragte sie.

»Auch die Zeit ist unumkehrbar«, sagte er. »Ständig wird im Universum Energie entwertet, und Zeit vergeht.«

»Zeit hat etwas Entwertendes …?«, wiederholte sie.

»… wobei wirklich erstaunlich ist«, ergänzte er, »dass diese Erkenntnis bereits über 2.000 Jahre alt ist. ›Zeit entwertet die Welt‹, ein Satz der mal Ovid und mal Horaz zugeschrieben wird. Beide waren römische Dichter, die zur Zeit der Herrschaft von Kaiser Augustus lebten. Das Zitat entstammt also einer Zeit noch vor Christi Geburt.

Immer und überall wird durch Reibung Energie entwertet, ein Vorgang, der nicht mehr umkehrbar, nicht reversibel ist«, fasste er die Ausführungen zusammen. »In der Technik spricht man von dem Prinzip der Irreversibilität von Prozessen. Es bleiben immer Änderungen zurück.«

Das war ihr nicht nur zu viel Technik, das war auch unlogisch.

»Nur weil es in der Technik keinen Prozess gibt, der vollständig umkehrbar ist, heißt das doch nicht, dass die Zeit immer voranschreiten muss«, sagte sie. »Gehen wir doch einmal in die Zeit zurück, als es noch keine Technik gab, vor 100.000 Jahren oder, noch besser, vor Millionen von Jahren. Da gab es doch auch schon die Zeit.«

»Völlig richtig. Zeit gibt es schon immer.« Er hielt kurz inne und fügte dann einschränkend hinzu, ohne dies (noch nicht) zu erklären: »Fast immer. Auch das Stampfen eines Dinosauriers über die Steppe oder das Einschlagen eines Meteoriten auf einem Planeten ist mit Reibung verbunden. Selbst wenn in der Sonne Wasserstoff zu Helium umgewandelt wird, wird Wärmeenergie produziert. Der Verweis auf die Technik war also nur beispielhaft gemeint. Es gibt im Universum ständig etwas, was sich verändert und dann nicht mehr zu ändern ist. Nichts bleibt gleich. Das ist eine gewisse Parallele zur Zeit, die ständig voranschreitet.«

Ein Quantum Zeit

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