Читать книгу Ein Quantum Zeit - Volkmar Jesch - Страница 19
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Ortswechsel
Die Wartezeit, die man bei Ärzten verbringt,
würde in den meisten Fällen ausreichen,
um selbst Medizin zu studieren.
Dieter Hallervorden, Kabarettist
Sie wachte auf. Es war Morgen oder das, was die Schwester als Morgen bezeichnete, wenn sie um 6:00 Uhr durch die Zimmer ging, einen »Guten Morgen« schmetterte und die Vorhänge zurückzog. Lea war sofort hellwach. Allerdings fiel ihr gleich wieder die trostlose Lage ein, in der sie sich befand. Eigentlich sollte sie sich jetzt in ihrem Chalet-Bett am gebuchten Urlaubsort räkeln und die herrlichen Pulverschnee-Abfahrten des Vortages Revue passieren lassen. Sie hatte Urlaub! Und jetzt lag sie schon den zweiten Tag in einem Krankenbett. Zu allem Überfluss schmerzte ihre rechte Schulter.
Nach dem Frühstück, das sie im Bett einnahm, musste sie sich diversen Untersuchungen unterziehen. Sie wurde von einer Sektion in die nächste geschickt. Zunächst wurde ihr wieder Blut abgenommen. Danach wurde sie geröntgt. Später wurde eine MRT-Untersuchung des Halswirbelbereichs und, weil sie dort Schmerzen hatte, auch der rechten Schulter einschließlich des Oberarms durchgeführt.
Das Personal war zuvorkommend, aber sie musste in mehrere Abteilungen und zwischendurch immer wieder warten. Schrecklich. Irgendwie mochte sie Krankenhäuser nicht, na gut, wer mag schon Krankenhäuser. Dazu nervte diese Warterei, die man nicht abkürzen konnte. Dieses sinnlose Herumsitzen in der Erwartung der nächsten Untersuchung. Langweilig, als ob man seine Zeit nicht hätte besser nutzen können.
Zeit? Das war das Stichwort. Wenn man wenigstens die Zeit manipulieren könnte, sodass der Aufenthalt im Wartezimmer schnell vorbeiging. Wie anders hatte sie doch gestern Nachmittag die Zeit empfunden. Komisch, diese unterschiedliche Zeitwahrnehmung. War das die Relativität der Zeit? Sie dachte an den vorherigen Abend, als ihr Besucher erzählt hatte, wie Einstein das Thema erklärte. Sie fand es jetzt eher lustig. Einstein musste Humor gehabt haben.
Nachdem sie gründlich durchgecheckt worden war, erklärte ihr der Chefarzt, der seinen schweizerischen Akzent nicht verleugnen konnte, dass man bislang keine ernsthaften Verletzungen habe feststellen können, auch nicht an der Wirbelsäule oder am Nacken, die beide häufig bei Auffahrunfällen in Mitleidenschaft gezogen würden. Eine Gehirnerschütterung habe sie nicht. Allerdings habe er noch nicht alle Daten der Untersuchungen erhalten. Die Schulter müsse noch untersucht werden. Der Orthopäde komme morgen aus dem Urlaub zurück. Sie müsse aber nicht im Bett bleiben, dürfe aufstehen oder spazieren gehen. Sie könne sich auch hier erholen.
Der Orthopäde macht Urlaub, und ich liege hier herum, schoss es ihr durch den Kopf. Sie sträubte sich. Sie wollte sich ihrem Schicksal nicht fügen. So etwas gibt es doch gar nicht, dachte sie und stellte fest, wie sehr sie das gestrige Gespräch bereits verinnerlicht hatte.
»Ich möchte jetzt nicht Tage im Krankenhaus verbringen«, sagte sie. »Diese ganze Atmosphäre hier ist mir zuwider. Weiße Betten, weiß gestrichene Zimmer, alles riecht so steril, überall nur Patienten, das macht einen doch erst richtig krank.«
Der Chefarzt, der höchstens einen Meter sechzig groß war, lächelte. Sie machte es ihm einfacher, als er gedacht hatte. »Sie sind nach diesem Unfall nur eingeschränkt reisetauglich. Sie müssen sich wirklich erholen. Wenn Sie diese ›Krankenhaus-Atmosphäre‹ nicht mögen, was ich nachvollziehen kann, mache ich Ihnen einen Vorschlag.
Sie müssen nicht unbedingt in der Klinik bleiben, damit wir Sie weiter untersuchen können. Der Klinik ist ein Sanatorium angeschlossen, eigentlich ist es mehr ein Hotel, das über eine größere medizinische Abteilung verfügt. Dorthin könnten wir Sie verlegen. Ich halte diesen Schritt für medizinisch zweckmäßig, da Sie Ruhe brauchen und wir eine möglicherweise notwendige ärztliche Behandlung auch so sicherstellen können. Ich halte dort auch Sprechstunden ab. Da eine Zulassung als Sanatorium vorliegt, übernimmt die Krankenkasse die Kosten, jedenfalls zu einem großen Teil.
Das Ganze ist nur einige Kilometer von hier entfernt, aber weiter oben auf dem Berg. Wir haben mehrere Aufenthaltsräume und natürlich eine große Sonnenterrasse mit Blick auf die Berge. Dort können Sie sich auch die Urlaubsbräune holen, wenn Sie wollen. Die überwiegende Anzahl der Gäste sind Hotelgäste, die ihren Urlaub nutzen, um sich einmal gründlich medizinisch durchchecken zu lassen.«
Endlich. Ein Lichtblick. Noch vor ein paar Minuten sah die Welt grau in grau aus, und nun machte man ihr einen wirklich akzeptablen Vorschlag. Sie überlegte kurz und sagte zu, vorbehaltlich der Frage, ob ihr das angebotene Zimmer auch wirklich gefallen würde.
Sie wurde auf den Berg gefahren. Schnell waren alle Formalitäten geklärt, und sie konnte ihr wirklich schönes, neues Zimmer, eigentlich ein kleines Appartement, beziehen. Im Eingangsflur standen ein großer Wandschrank und ein Ganzkörperspiegel. Nach links ging es zu einem komfortablen Bad mit separater, ebenerdig eingebauter Dusche sowie einem breiten Waschbecken, und geradeaus ging es zu ihrem Wohn-/ Schlafzimmer. Die Wände waren in zartem Ockergelb gestrichen, es hingen mehrere Bilder an der Wand, vornehmlich Motive aus den Bergen. Es war eine bunte Gardine aufgezogen. Neben einem Bett mit akzeptabler Matratze stand ein großer Wohnzimmertisch mit zwei Sesseln. Auf dem Tisch blühte ein Strauß Blumen. Sie hatte sogar einen kleinen Balkon mit einem wunderbaren Blick auf die umliegenden Gipfel. Das Chalet in den Bergen hätte vermutlich eine schlechtere Ausstattung gehabt.
Sie ließ sich eine Kartoffelsuppe mit Würstchen auf ihr Zimmer bringen. Nach dieser erneuten Veränderung brauchte sie etwas Deftiges. Sie wollte auch ein wenig allein sein. Die Suppe schmeckte ausgesprochen gut.
Sie stellte ihr Smartphone wieder an. Zahlreiche Freunde hatten versucht, sie telefonisch zu erreichen. Natürlich wollten sie etwas mehr über ihren Zustand erfahren, als sie mit einer kurzen SMS hatte übermitteln können.
Doch zunächst rief sie die Kraftfahrzeugversicherung an und unterrichtete sie über den Unfall. Die Sachbearbeiterin notierte die Daten und kündigte einen Unfallbogen an, den sie auszufüllen hatte. Ob man ihr den Bogen per E-Mail zusenden könnte? Sie lehnte brüsk ab und verwies darauf, dass sie in einem Sanatorium liege und sich sowieso nicht mehr an die Einzelheiten des Unfalls erinnern könne.
Von der schriftlichen Darstellung des Unfallhergangs könne man sie nicht entbinden, sagte die Sachbearbeiterin leicht pikiert und kündigte an, das Formular an ihre Heimatadresse zu schicken. Sie würde einen Vermerk in die Akte machen, dass die Antwort dauern könne.
Leicht entnervt legte sie auf. Immer diese Versicherungen mit ihrer Bürokratie. Kaum tritt ein Schadensfall ein, wird es kompliziert und die Abwicklung dauert eine Ewigkeit. Ganz im Gegensatz zu den Werbeaufrufen der Versicherungen, die auf einen sofortigen Abschluss drängen.
Sie rief auch die Krankenversicherung an. Der Mitarbeiter nahm die Daten ziemlich emotionslos auf.
Gute Besserung hatte ihr keiner der Versicherungsmitarbeiter gewünscht. Frechheit.
Ihre beste Freundin erreichte sie nicht, aber sie erwischte einen der Freunde auf der Skihütte und erklärte ihm alles. Er war sichtlich erleichtert, was ihr guttat. »Du brauchst dir keine Gedanken zu machen über das Finanzielle, wir übernehmen deine anteiligen Kosten für das Chalet«, sagte er. Das war eigentlich ihre geringste Sorge, denn sie war in gewissem Maße finanziell unabhängig, nachdem ihre Eltern ihr ein kleines Erbe hinterlassen hatten. Aber nett war es trotzdem. Sie bestellte Grüße für alle und wünschte einen schönen Skiurlaub.
Ein wenig traurig war sie schon nach diesem Telefonat, hatte sie doch im Hintergrund die laute Musik und die offensichtlich gute Stimmung in der Hütte mitbekommen. Wehmut stieg in ihr auf. Warum musste ihr nur dieser dämliche Unfall passieren!
Bevor sie weiter ins Grübeln kam, beschloss sie, ihre neue Umgebung näher zu erkunden. Alles machte einen sehr gepflegten Eindruck. Der Chefarzt hatte nicht zu viel versprochen. Es schien ein wirklich gut geführtes Hotel zu sein. Dass es gleichzeitig als Sanatorium fungierte, war nicht zu bemerken. Nur an einem Gang war ein Hinweisschild zu einer »Medizinischen Abteilung« zu sehen. Sie ging an einem Restaurant und an einer geräumigen Sonnenterrasse mit Blick auf die Berge vorbei. Sie lief weiter und kam zu einer kleinen Bibliothek, offensichtlich einer der Aufenthaltsräume, von denen der Arzt gesprochen hatte. Die Bibliothek war durch und durch holzvertäfelt, und schwere Ledersessel luden zum Hineinsinken ein. Auf kleinen, lederbepolsterten Hockern konnte man die Füße hochlegen.
Sie war ganz allein und ließ den Blick umherschweifen. Die Bibliothek schien gut sortiert, allerdings waren viele Titel in italienischer Sprache. Sie blickte zum Fenster hinaus. Es schneite stark, der Himmel war dunkel, kein Wetter zum Rausgehen. Wieder wurde sie nachdenklich. Womit sollte sie sich die Zeit vertreiben? Fernsehen? Kein wirklich berauschender Gedanke. Sie vermisste ihre Freunde.
Ihr fiel das Gespräch vom Vorabend ein. Was hatte sie an der Unterredung mit ihrem kompetenten Gesprächspartner so fasziniert? Die Radikalität der Ansichten, sein profundes Wissen, seine Belesenheit? Vermutlich alles. Ach ja, und man hatte zuletzt über ein wirklich interessantes Thema gesprochen: die Zeit. Sie konnte doch über die Zeit ein wenig nachdenken, wo sie jetzt so viel Zeit hatte. Konnte man nicht vielleicht doch die Zeit zurückdrehen, eine Zeitreise unternehmen?
Einige seiner Äußerungen schienen darauf hinzudeuten, obwohl er es ursprünglich kategorisch abgelehnt hatte. Was spricht eigentlich dagegen? Er hatte gesagt, dass eine Zeitreise den Raum und die sich darin abspielenden Vorgänge missachten würde. Sie überlegte. Wie war das mit dem Raum? Länge mal Breite mal Höhe. Das waren die Raumdimensionen. Und die Zeit war neben diesen drei Dimensionen die vierte Dimension, soviel war klar. Einen Raum konnte man in allen Richtungen durchschreiten. Eine Strecke konnte man auf- und abgehen, sich also vorwärtswie rückwärtsbewegen, sowohl in der Länge, wie auch in der Breite des Raumes.
Sie schaute auf die kleine Bibliotheksleiter.
Auch in der dritten Dimension konnte man sich auf- und abbewegen, indem man eine Leiter hoch- und wieder runterstieg. Banalitäten.
Ihr Blick schweifte nach draußen.
Und einen Berg konnte man besteigen und wieder mit Skiern hinabfahren. Sie seufzte.
Wie war es aber, wenn ein Gegenstand in irgendeiner Richtung durch den Raum flog, konnte er dann auch in die Gegenrichtung wieder zurückfliegen? Natürlich. Jeder Tischtennisball machte das ständig, wenn er von den Spielern hin- und hergeschlagen wurde. Sie kam zu dem Schluss, dass jeder Weg, der in einem Raum eingeschlagen werden konnte, auch in der Gegenrichtung stattfinden konnte.
Was nun in den ersten drei Dimensionen möglich war, sollte in der vierten Dimension unmöglich sein? Die Zeit kann nur vorwärts- und niemals rückwärtsgehen, hatte er gesagt. Eigentlich nicht einzusehen. Bestimmt gab es im Hotel einen Computer mit Internetanschluss, wo man sich der Frage tiefer gehend widmen konnte. Sie wusste jetzt wieder, wie sie die Zeit sinnvoll verbringen konnte, um die aufkommende Langweile zu bekämpfen.
Sie wusste aber nicht, dass es eine der spannendsten und die mit Abstand interessanteste Woche ihres bisherigen Lebens werden würde.