Читать книгу Ein Quantum Zeit - Volkmar Jesch - Страница 14
ОглавлениеSeltsam, diese Zeit
Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft,
denn in ihr gedenke ich, zu leben.
Albert Einstein,
Physiker
Ihr Gegenüber war von der fantastischen Idee eines Zeitsprungs offensichtlich unbeeindruckt. Ruhig und klar antwortete er, wobei sie aus seiner Antwort ein kleines Lob heraushörte.
«Interessante Idee, wie alle Überlegungen, die sich mit dem Phänomen der Zeit beschäftigen.«
Doch gleich folgte die Einschränkung. »Leider ist eine Reise in die Vergangenheit völlig unmöglich. Eine Zeitumkehr missachtet den Raum und die sich darin abspielenden Vorgänge. Obwohl … nein.« Er schien kurz wankelmütig geworden zu sein, zweifelnd. Doch schnell hatte er sich wieder gefangen. Sein Blick schien in die Ferne zu schweifen, als er fortfuhr: »Wie stellte schon der Philosoph Heraklit im fünften Jahrhundert vor der Zeitenwende so überaus treffend fest? Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Denn es fließe schließlich Wasser, sodass der Fluss sich ständig verändere.5 Mit dieser an sich trivialen Feststellung war Heraklit seiner Zeit weit, sehr weit voraus. Der Lauf der Welt kann nicht rückgängig gemacht werden. Dazu sind zu viele Vorgänge beteiligt.«
Dann wechselte er scheinbar das Thema, tatsächlich holte er nur für das nächste Argument aus, wie sie im Nachhinein feststellte. »Betrachten wir die Situation kurz vor Ihrem Unfall etwas näher und zur besseren Übersichtlichkeit von oben, etwa aus einem Hubschrauber, von dem wir annehmen, dass ihm die schlechten Witterungsbedingungen nichts anhaben können.
Wir sehen eine Straße, auf der sich Autos bewegen. In jeder Sekunde, in jedem Bruchteil einer Sekunde, verändert sich die Position der Automobile, die zum Teil mit hoher Geschwindigkeit über die Schnellstraße fahren. Stellen wir uns weiter vor, dass wir auch die Nebenstraßen beobachten. Darauf bewegen sich andere Fahrzeuge, die permanent, wenn auch etwas langsamer, ihren Aufenthaltsort verändern. Tagsüber würden noch Schmetterlinge neben und Vögel über den Autos fliegen. Jetzt in der Nacht tun die vielen Tropfen aufgrund des Regenfalls zum Unfallzeitpunkt ein Übriges. In jedem Moment sehen wir ein anderes Bild, weil viele Teile, die es ausmachen, ihre Position verändern.«
Sie entgegnete: »Worauf wollen Sie hinaus? Das passiert doch überall auf der Erde, in jedem Moment.«
»In der Tat! Nicht nur auf der Erde, sondern auch in unserem Sonnensystem, wo sich die Planeten um die Sonne drehen, in der Milchstraße, die um ihr Zentrum kreist, und in den anderen Galaxien. Die Erde ist in jedem Bruchteil einer Sekunde an einem anderen Ort im Kosmos, zusammen mit allen Gegenständen, die ihr aufgrund der Gravitation anhaften, und so die Erde auf ihrer Reise durch das Weltall begleiten.«
Eindringlich erhob er seine Stimme: »Das alles wollen Sie stoppen und mit Ihrer Zeitreise wieder rückgängig machen? Sie wollen das Universum anhalten?«
Sie wollte ihn unterbrechen, er ließ es aber nicht zu: »Die Erde rotiert mit einer mittleren Geschwindigkeit von 29,78 Kilometern pro Sekunde um die Sonne, ist also in einer Stunde 107.218 Kilometern weitergekommen. Unser Sonnensystem dreht sich mit circa 275 Kilometern pro Sekunde um das Zentrum unserer Galaxie, was in einer Stunde nochmals knapp eine Million Kilometer ausmacht. Wo also würde sich ein Zeitreisender befinden, wenn er nur eine Stunde zurück in der Zeit ginge?«, fragte er, wobei er die Wanderung der Milchstraße durch das Weltall noch gar nicht erwähnt hatte. »Und was würde mit den am Zielort befindlichen Molekülen, Atomen und subatomaren Teilchen geschehen, wenn der Zeitreisende ankäme? Wenn er aus dem Nichts irgendwo auftauchen wollte, hätte er der Tatsache Rechnung zu tragen, dass der Ort seiner Materialisation bereits von Materie besetzt wäre. Und …«
»Moment!«, fuhr sie dazwischen. Einerseits war sie von der Radikalität seiner Ausführungen hingerissen. Andererseits ging ihr die Konsequenz seiner Überlegungen doch entschieden zu weit. War ihr Gesprächspartner nicht in der Lage, zu abstrahieren und die Vorgänge in den letzten 24 Stunden begrenzt auf eine Region von vielleicht 100 Kilometern Umkreis isoliert zu betrachten?
Wenn die Gegenstände aufgrund der Gravitation der Erde anhaften, wie er so schön gestelzt gesagt hatte, war es doch egal, wo die Erde gerade im Weltraum herumschwirrte. Warum den Vorgang überhaupt auf eine bestimmte Region der Erde eingrenzen? Eigentlich ging es doch nur um sie, um einen einzigen Menschen. Hätte sie zum Zeitpunkt des Unfalls nicht ihr Fahrzeug gesteuert, sondern es vielleicht betankt, sich in der unmittelbaren Zeit vor dem Unfall nur etwas anders verhalten, oder wäre sie morgens gar nicht aufgestanden, wäre das zur Unfallverhinderung doch schon ausreichend gewesen.
Etwas trotzig entgegnete sie: »Sehen Sie die Dinge nicht vielleicht zu global? Streng genommen geht es doch nur um meine Person. Ich war zu einem Zeitpunkt am falschen Ort. Fast jeder andere Ort wäre besser gewesen. Es hätte doch gereicht, wenn nur ich von der Zeitveränderung betroffen gewesen wäre. Wenn ich am Zielort meiner Zeitreise ankomme, muss halt das bisschen Materie weichen. Luft ist doch beweglich. In jedem guten Science-Fiction-Film ist von Zeitreisen, Zeitanomalien und vergleichbaren Phänomenen die Rede. Ich gebe zu, das ist Science-Fiction, und viele Filme habe ich von diesem Genre noch nicht gesehen, aber die dort gezeigten Zeiteffekte sollen doch einen realen physikalischen Hintergrund haben. So gesehen würde ich mich durch die Zeit bewegen.«
»Science-Fiction?« Er schmunzelte. »Sie können sich nicht abkoppeln vom Rest des Universums. Auch Ihr Unfall war ein kosmisches Ereignis, und die Folgen des Unfalls werden das Universum noch über Jahre hinaus beschäftigen.«
»Das Universum beschäftigt sich mit mir? Ich kenne doch das Universum überhaupt nicht. Wir sind uns noch nicht vorgestellt worden«, sagte sie mit spöttischem Unterton.
»Da wird es Zeit«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Das Universum kennt Sie aber. Sie können es mir glauben, die Kunde von Ihrer Geburt und der Verlauf Ihres Daseins sind längst um die Welt gegangen.«
Ich bin berühmt, dachte sie. Nein, Scherz beiseite. Das Gespräch nahm offensichtlich eine spirituelle Wendung, die ihr gar nicht behagte. Doch da hatte sie ihn gewaltig unterschätzt. Er meinte seine Aussage ernst und konnte sie auch belegen.
»Was hat mein simpler Unfall mit dem Universum zu tun?«, wandte sie noch schnippisch ein.
»Jede Menge.« Er lächelte vielsagend. »Schauen Sie, wir stehen in ständigem Kontakt mit dem Universum und das Universum mit uns. Ich will Ihnen das an einem kleinen Beispiel illustrieren, eine Berechnung, die der Mathematiker Emile Borel bereits Anfang des vorigen Jahrhunderts durchgeführt hat.
Borel nahm an, dass auf dem Stern Sirius, der ungefähr doppelt so groß wie die Sonne und circa 8,6 Lichtjahre von uns entfernt ist, Atome von nur einem Gramm Materie um ein paar Zentimeter verschoben werden. Allein diese minimale Veränderung – vor entsprechend langer Zeit – würde auch alle Molekülbahnen einer Flüssigkeit hier auf der Erde um einen sehr, wirklich sehr kleinen Winkel ablenken, den man zwar nicht messen, wohl aber berechnen kann.
Welche Kraft ist in der Lage, diese Ablenkung herbeizuführen? Es ist die Schwerkraft, auch Gravitationskraft genannt. Diese ist zwar nicht stark, sogar eher schwach, aber ihre Wirkung ist unendlich. Sie lässt sich von nichts abschirmen, man kann sie nicht stoppen.
Die hier auf der Erde abgelenkten Flüssigkeits-Moleküle werden beim nächsten Stoß das benachbarte Molekül nur ein wenig anders treffen. Bereits nach zehn bis fünfzehn Streuvorgängen haben sich die Bahnen aller Atome und Moleküle so drastisch verändert, dass der Zustand unseres Versuchsobjektes auf der Erde ein ganz anderer ist, als ohne die Materieverschiebung auf dem Sirius.6«
Seine Worte hallten durch den Kosmos, so jedenfalls nahm sie es wahr.
Er fand, dass es jetzt an der Zeit für eine grundlegende Aussage zur Zeit war. »Wir erleben deswegen einen Vorgang als unwiederbringlich, weil sich das Universum, weil sich die Atome im Kosmos mit dem Vorgang verändern. Und wenn wir Zeit wahrnehmen, erleben wir, wie sich das Universum weiterentwickelt.7«
Sie fühlte sich schwerelos im Weltall schwebend und fürchtete, gleich wieder herunterzufallen.
»Was habe ich damit zu tun, dass sich die Atome im Universum ändern?«
»Auch Sie bestehen aus ungefähr 1029 Atomen, die nicht nur in einer einzigartigen und noch nie ausprobierten Kombination angeordnet, sondern auch in ständiger Bewegung sind, um Ihnen den so angenehmen Zustand zu ermöglichen, den man Leben nennt. Es wäre wirklich schade, wenn diese einmalige Anordnung durch ein Stillstehen oder sogar ein Zurückdrehen der Bestandteile in eine frühere Position zerstört werden würde.«
»Wie viel Atome?«, fragte sie und fügte scherzhaft hinzu: »Sie vergessen, dass die Friseuse mir vorgestern die Haare geschnitten und ich anlässlich des Unfalls auch Hautabschürfungen erlitten habe. Es dürften daher ein paar weniger sein.«
Er lachte laut auf. Es war das erste Mal, und ihr tat es gut. »Ja, und aufgrund der heutigen Nahrungsaufnahme sind noch ein paar Trilliarden Atome hinzugekommen. Doch lassen Sie uns jetzt nicht über ihre Anzahl reden. Unterstellen wir einfach, dass es ganz viele sind.
Auch Ihre Atome sind integraler Bestandteil des Universums. Ihr Dasein verändert die Welt. Stellen Sie sich das Universum als riesiges Räderwerk vor, dessen Zahnräder ineinandergreifen. Dann haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, was ständig passiert.«
»Alles wenig überzeugend. Was hat das mit der Zeit zu tun?«, fragte sie und fügte mit fester Stimme hinzu: »Auch eine Maschine mit vielen Zahnrädern kann man rückwärts laufen lassen.«
»Eine Maschine kann man rückwärtslaufen lassen, die Zeit prinzipiell nicht«, entgegnete er und wurde grundlegender. »Einer Zeitumkehr steht der Grundsatz der Entropie entgegen. Bei jeder Bewegung des kosmischen Räderwerkes, um in diesem schönen Bild zu bleiben, passiert gleichzeitig etwas, das einer Zeitumkehr im Wege steht. Und das schon seit Anbeginn der Welt. Der Grundsatz der Entropie ist ein ehernes Prinzip, das niemals verletzt werden kann.« Und apodiktisch fügte er hinzu: »Dies ist so, war so und wird ewig so bleiben.«