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Kosmische Größenordnungen

Anschaulich ist, woran man sich gewöhnt hat.

Ludwig Boltzmann,

Physiker

Hatte sie richtig gehört? Er sprach von 100 Billionen Universitäts-Bibliotheken?25 Die Größe der Zahl verblüffte sie.

»Wobei helfen so viele Mikrozustände?«, wollte sie wissen.

»Unter dem Blickwinkel der unglaublich vielen Mikrozustände haben wir die Möglichkeit, einen Zustand in unserer Welt sehr viel genauer zu beschreiben«, antwortete er. »Wenn wir jetzt die detaillierte Beschreibung von einem Zustand mit der eines anderen Zustandes vergleichen, können wir die Wahrscheinlichkeit des Wechsels von einem Zustand in einen anderen bestimmen. Die Tiefenanalyse der verschiedenen Zustände und ein Vergleich der Zustände untereinander gibt uns den Schlüssel für die wahrscheinliche Entwicklung der Welt.«

Sie war fasziniert, wie er von den verschiedenen Mikrozuständen die mögliche Zukunftsentwicklung ableiten wollte, und bat ihn: »Können Sie das mit einem Beispiel verdeutlichen?«

»Ja, gerne. Sie werden so den Vorgang des Eisschmelzens besser verstehen.

Nehmen wir an, Sie haben zwei Gefäße jeweils mit einem Liter Wasser gefüllt. In dem einen Gefäß beträgt die Wassertemperatur 10,5 Grad Celsius und in dem anderen 9,5 Grad Celsius.26 Wenn Sie jetzt die beiden in Verbindung bringen, was passiert dann?«

»Ich nehme an, das Wasser in den beiden Gefäßen wird nach einiger Zeit eine Temperatur von zehn Grad Celsius haben. Unterschiedliche Temperaturen gleichen sich an. Eigentlich ist nicht viel passiert, aber …« Sie war vorsichtig geworden. Ihr Gefühl täuschte sie nicht.

»Absolut richtig. Aus unserer Sicht ist nicht viel passiert. Die Temperatur des Wassers in dem einen Gefäß ist um ein halbes Grad gesunken, in dem anderen um ein halbes Grad gestiegen. In der Summe bleibt das gleich, sollte man meinen. Weit gefehlt«, sagte er und machte eine bedeutungsvolle Pause.

»Im Mikrozustand sind immense Änderungen passiert, in geradezu astronomischen Ausmaßen. Denn die Anzahl der Mikrozustände nach der Angleichung der Temperatur auf zehn Grad Celsius in beiden Gefäßen ist um eine Zahl, die etwa 420 Stellen vor dem Komma hat, größer als die Anzahl der Zustände in beiden Gefäßen am Anfang.« Er machte eine Pause und fügte dann hinzu: »Das ist eine unglaublich große Zahl.«

»Dessen bin ich mir angesichts der Diskussion gestern Abend wohl bewusst«, sagte sie, wobei sie ihr Erstaunen erst gar nicht verbergen wollte.

»Das glaube ich nicht« – sie wollte gerade protestieren, da hatte er schon weitergeredet –, »aber ich will Ihnen die Größe der Zahl verdeutlichen. Nehmen wir einmal an, Sie wollten die Ziffer mit den 420 Stellen einfach nur auf einen Zettel schreiben. Eine Ziffer neben der anderen. Wie lange wäre der Papierstreifen, wenn Sie die Ziffer ausgeschrieben hätten?«

»…« Sie schwieg.

»Um die Zahl auszuschreiben, würden Sie einen Papierstreifen benötigen, der circa 70.000 Mal von der Erde bis zur Sonne und wieder zurück reicht.«

Er hatte recht gehabt. Dieser Vergleich übertraf bei Weitem ihre Vorstellungen, die sie von dieser Zahl gehabt hatte.

»Der Vorgang, den wir beobachtet haben, war kaum der Rede wert«, fuhr er fort, »die Vorgänge auf der Ebene der kleinen Teilchen schon. Die Anzahl der Mikrozustände ist ungeheuer angestiegen, obwohl wir nur die Temperatur von je einem Liter Wasser um ein halbes Grad Celsius verändert haben. Selbst minimale Veränderungen in unserer Welt führen zu einer enormen Zunahme der Anzahl der verfügbaren Zustände in der Mikrowelt, die wir zwar nicht zählen, aber statistisch bestimmen können.«

»Statistisch deshalb, weil es so viele Teilchen sind«, dachte sie laut und gewann langsam ihre Fassung wieder.

»Ja, die Statistische Physik stellt Begriffe und Methoden zur Verfügung, mit denen aus bekannten physikalischen Naturgesetzen über Teilsysteme Aussagen über das System im Ganzen getroffen werden können. Um das Fließen von einem Liter Wasser zu beschreiben, ist es mehr als impraktikabel, die Wege aller 3,3 mal 1025 Wassermoleküle einzeln auf atomarer Ebene verfolgen zu wollen.«

Sie war fasziniert. Und doch zweifelte sie an seinen Ausführungen, nicht nur wegen der großen Zahlen.

Während sie darüber nachdachte, spürte sie ein Streicheln an ihrem rechten Bein, erschrak ein wenig und schaute nach unten. Eine Katze. Schwarz-weiß getigert schaute sie zu ihr auf. Sie liebte Katzen über alles. Als Kind hatte sie immer eine Katze gehabt, jetzt aber nicht mehr. Hier eine Katze, dachte sie unwillkürlich, und dazu auch noch in der Bibliothek?

Die Katze umkreiste ihr rechtes Bein, nahm sich dann das linke vor und fing an, zu schnurren. Sie nahm die Katze auf den Arm, was diese offensichtlich herausgefordert hatte, und streichelte sie, was den Grad des Schnurrens deutlich erhöhte. In diesem Zustand des Streichelns und Genießens verharrten beide für einen längeren Moment, als ob sie schon immer zusammen gewesen wären. Zuneigung auf den ersten Blick. So etwas gab es zwischen Mensch und Katze.

Später stellte sich heraus: Die Katze war dem Hotel vor Kurzem zugelaufen, vielleicht war sie als blinder Passagier in einem Lieferwagen auf den Berg gekommen. Die Angestellten liebten und fütterten sie. Sie durfte eigentlich nicht in das Haupthaus. Sie schaffte es aber doch ab und zu, unbemerkt hierherzukommen. Jetzt war sie durch die leicht geöffnete Tür hineingeschlichen.

Ohne das Streicheln der schnurrenden Katze zu unterbrechen, griff sie die Diskussion wieder auf: »Wirklich phänomenal, was sich da unten bei den kleinen Teilchen abspielt«, sagte sie. »Aber welche Konsequenzen kann ich daraus für unsere Welt ableiten? Hat die Berücksichtigung der Anzahl der vielen Mikrozustände wirklich Auswirkungen für das Verständnis der Entwicklung unserer Welt? Und gibt uns diese Einsicht den Zugang zur Entropie?«

»Ja, die Veränderung des Blickwinkels in Richtung Mikrokosmos gibt uns den Schlüssel zum tieferen Verständnis der Entropie und damit zur Erklärung der Geschehnisse in der von uns wahrnehmbaren Welt.

In die Entropieberechnung fließt die Anzahl der Möglichkeiten der Teilchenanordnung auf der Mikroebene ein, die einen gleichen Makrozustand erzeugen.27 Habe ich diese Zahl ermittelt, kann man die Teilchen innerhalb dieser Möglichkeiten mikroskopisch beliebig umsortieren, ohne dass sich an dem für uns wahrnehmbaren (Makro-)Zustand, also an Temperatur oder Druck etc. etwas ändert. So wird die Entropie als eine Abzählung von Zuständen verstanden, oder vielleicht etwas präziser, eine Suche nach der Anzahl der Möglichkeiten der Teilchenanordnung, die denselben Gesamteindruck in unserer Welt hervorbringen.

Zentrale Annahme von Boltzmann war nun, dass kein Mikrozustand bevorzug ist, alle Mikrozustände mit gleicher Gesamtenergie gleich wahrscheinlich sind. Am wahrscheinlichsten ist dann der Zustand, zu dem die meisten Mikrozustände gehören28, die größtmögliche Anzahl der Möglichkeiten der Teilchenanordnung erreicht ist, vereinfacht gesagt, alle verfügbaren Plätze belegt sind. Der wahrscheinlichste Makrozustand besitzt also die meisten ihn realisierenden Mikrozustände.29 Dies ist der (thermodynamische) Gleichgewichtszustand, in dem die Teilchen ihre Energien durch Stöße angepasst und somit eine Gleichgeschwindigkeitsverteilung erreicht haben.

Durch die Einbeziehung der Mikrozustände kann die Wahrscheinlichkeit der Veränderung eines Makrozustandes viel genauer bestimmt werden. Vergleiche ich die Entropiegröße eines Zustandes mit der eines anderen Zustandes, weiß ich sofort, ob es wahrscheinlich ist, dass die Teilchen in den anderen Zustand wechseln oder nicht. Und wenn das unwahrscheinlich ist, weil der Zustand mit einer größeren Entropiegröße niemals in einen mit einer geringeren Entropiegröße wechseln wird, können wir auf einmal verstehen, warum noch nie jemand beobachtet hat, dass sich Whiskey nicht der für ihn unwürdigen Vermischung in einem ›Whiskey-Cola‹ spontan dadurch entledigt, dass sich der Whiskey zum sofortigen Verzehr oben im Glas ansammelt, während die Cola sich auf den Boden des Glases verdrückt. Diesen Weg von der Vermischung zurück in einen höheren Grad der Ordnung werden die Teilchen nicht gehen. Diese Umordnung ist absolut unwahrscheinlich, obwohl sie wünschenswert wäre, nicht zuletzt, weil Whiskey-Cola wirklich unordentlicher ist, als Whiskey.«

Sie schmunzelte.

»Wie fein dieses Maß der Zustände in der atomaren Welt ist, zeigt sich, wenn wir uns die absolute Zahl der Mikrozustände vergegenwärtigen, mit der wir es da unten zu tun haben«, fuhr er fort. »Es sind astronomische Zahlen, die sich da ergeben. In einem Gasbehälter, wie wir ihn vorhin behandelt haben, befinden sich ungefähr 1023 Teilchen, sodass die Zahl der möglichen Zustände, die diese Teilchen einnehmen können, eine Zahl mit 1025 Nullen ist. Also nicht die Zahl 1025, das wäre eine Zahl mit 25 Nullen, sondern eine Zahl mit 1025 Nullen.30

In einem Gasbehälter gibt es mehr Teilchen, als Menschen bisher auf der Erde gelebt haben oder vermutlich dort jemals leben werden. Aber die Zahl der dort möglichen Mikrozustände ist ungleich unbegreiflicher. Selbst ein unsterblicher Mensch hätte die Zahl der möglichen Mikrozustände bislang nicht aufschreiben können, denn dafür würde man länger brauchen, als das Universum existiert.«

Sie war tief ergriffen von den Größenordnungen und Zeitskalen, mit denen er sie immer wieder konfrontierte.

»Oh, schauen Sie, das ganze Eis in Ihrem Wasser ist geschmolzen«, sagte er vermeintlich überrascht. »Die Entropie hat zugeschlagen. Ein klassisches Beispiel für einen selbstablaufenden Prozess. Auch bei diesen automatischen Vorgängen steigt die Entropie an. Die schöne Ordnung der Eiskristalle im Eiswürfel ist dahin.

Die Unordnung nimmt zu, die Informationen nehmen ab.«

»Moment«, hakte sie ein. »Informationen wovon? Was hat die Entropie mit Informationen zu tun?«

»Ganz einfach«, antworte er und lächelte vielsagend. »Je größer die Entropie ist, desto unbestimmter ist der mikroskopische Zustand, und je unbestimmter ein Zustand ist, desto weniger Informationen sind über das System bekannt. In Eis kann man eine Botschaft schnitzen, in geschmolzenes Eis nicht.

So vergeht mit der Zeit auch das Zeugnis einer großen Liebe, wenn das Holz des Baumes irgendwann langsam verfault, obwohl die Liebeserklärung seinerzeit doch für die Ewigkeit eingeritzt worden war.«

Mitten in ihrer tiefgreifenden Diskussion wurden sie plötzlich gestört. Eine junge, hübsche Frau betrat die Bibliothek. Die Katze sprang von Leas Schoß und lief hinaus. Die Frau sagte: »Herr Dietrich, da sind Sie ja, kann ich Sie kurz sprechen.« Und zu Lea gewandt: »Entschuldigen Sie bitte die Störung.«

Lea war etwas perplex. Damit hatte sie nun wahrlich nicht gerechnet. Na ja, vielleicht war es irgendeine Therapeutin.

»Es ist Mittagszeit. Ich gehe zum Essen. Wir waren ja ohnehin zu Ende mit unserer interessanten Diskussion«, sagte sie mit vermeintlich fester Stimme, konnte ihren bedrückten Zustand aber nicht ganz verheimlichen.

»Wir sind noch lange nicht zu Ende«, sagte er mit einem entwaffnenden Lächeln. »Treffen wir uns hier um drei?«

Sie nickte.

»Und nicht weglaufen«, fügte er hinzu.

»Wo soll ich denn hinlaufen bei diesen Wetterverhältnissen«, antwortet sie und spielte damit auf das wachsende Schneetreiben vor dem Fenster an. Sie wäre aber auch bei schönem Wetter nicht weggelaufen, da war sie sich sicher.

Sie ging in den Speisesaal und entschied sich für einen der köstlichen Salate, dazu geräucherten Lachs. Der Salat war mit roten Paprika, gelben Mango und vielen grünen Blättern verschiedener Herkunft angerichtet. Alles frisch und mit einer Soße sehr schmackhaft abgerundet. Um die Mittagszeit war der Saal gut gefüllt.

Sie ließ den Blick umherschweifen. Überall waren typische Urlauber zu sehen. Irgendwelche kranken oder gebrechlichen Leute konnte sie nicht ausmachen. Sie schaute nach draußen, versuchte es zumindest. Sie kam nicht weit. Durch das Fenster sah man wie auf eine Wand mit grauweißer Tapete, wobei das Bild der Tapete ein wenig aufgelockert wurde von einem Gewusel wirbelnder Schneeflocken. Sie versuchte, ihren Bewegungen zu folgen, was ihr nur unvollkommen gelang.

Ein netter junger Mann fragte, ob er sich zu ihr setzen könne, obgleich noch Tische frei waren. Sie ließ es zu, war aber nicht auf eine Unterhaltung oder gar einen Flirt aus, obwohl er nicht nur gut aussah, wie sie fand, sondern auch eine durchtrainierte Figur hatte. Jedes Gespräch hätte nur ein müder Abklatsch der vorangegangenen Diskussion sein können. Sie ging lieber auf ihr Zimmer.

Als Erstes »googelte« sie ihn. Ohne Erfolg. Unter »Christopher Dietrich« gab es zwar Eintragungen. Sie standen aber offensichtlich in keiner Verbindung zu ihm.

Sie hörte ihre Anrufe ab und las die inzwischen eingegangenen Kurznachrichten auf ihrem Smartphone. Nichts wirklich Weltbewegendes war dabei.

Sie legte sich aufs Bett, um sich ein wenig auszuruhen, stellte aber vorsorglich den Wecker.

Ihr war zwar schon immer bewusst, dass die Welt aus vielen kleinen Teilchen, den Atomen, besteht, aber über die weiteren Konsequenzen hatte sie sich keine Gedanken gemacht. Irgendwie beunruhigend war, dass die ganze Materie offensichtlich immer in Bewegung war, mit der Folge einer ständigen weiteren Durchmischung der vielen Teilchen hin in Richtung Unordnung. Wo sollte das hinführen?

Zuletzt sprach er von der Anzahl der Möglichkeiten, wie sich Teilchen in einem Zustand in unserer Welt anordnen können, und von der Wahrscheinlichkeit der Erreichung dieses Zustandes. Das Phänomen »Zeit« schien immer komplexer zu werden. Über die Zeit hatte er zuletzt gar nicht gesprochen, doch war sie sich im Klaren darüber, dass die Beschreibung der Natur im ganz Kleinen auch für das Zeitverständnis grundlegend sein könnte. Sonst hätte er nicht so weit ausgeholt, bevor sie gestört wurden.

Über diesen Gedanken musste sie eingeschlafen sein, wachte aber nach einer knappen Stunde gut erholt wieder auf. Sie hatte genügend Zeit, sich etwas anderes anzuziehen, und ging rechtzeitig zum vereinbarten Termin in die Bibliothek, wo er sie schon erwartete.

Ein Quantum Zeit

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