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ОглавлениеDIENSTAG
Parallele Zeitlinien
Zukunft ist etwas, das meistens schon da ist,
bevor wir damit rechnen.
Anonym
Sie schlief lange und ging spät zum Frühstücken. Das Buffet war gut sortiert. Die moderne und farbenfrohe Ausstattung des Speisesaals tat ein Übriges, um ihre Laune zu verbessern, war sie doch ein Morgenmuffel. Die gut aufeinander abgestimmten Pastelltöne standen in angenehmem Kontrast zu der gezuckerten Winterwelt draußen vor dem Fenster. Alles lud zu einem längeren Verweilen ein. Sie freute sich auf ein gemütliches und ausgedehntes Frühstück. Gerade war ein Tisch am Fenster frei geworden. Sie nahm ihn sofort in Beschlag.
Vom Frühstücksraum hatte man einen grandiosen Blick über die Täler bis zu einer massiven Bergkette. Die Sonne schien und ließ sich auch von vereinzelten Wolken nicht davon abhalten. Fast wie in einem James-Bond-Film, der in den Bergen spielt, dachte sie, als sie auf die schneebedeckten Gipfel schaute, die in der Morgensonne glitzerten. Ihre Stimmung war angesichts des grandiosen Panoramas sogar ausgesprochen euphorisch, fühlte sie sich doch fast wie im Urlaub.
Das änderte sich schlagartig, als die Kellnerin sie informierte, dass zwei Carabinieri auf sie warteten. »Auf mich«, staunte sie ungläubig.
»Ja«, sagte die Kellnerin.
»Na klasse«, sagte sie, ließ das von ihr mit englischer Zitronenmarmelade liebevoll bestrichene Brötchen liegen und verließ den Raum, ohne einen Bissen zu sich genommen zu haben.
Die beiden Polizisten, die im Nebenraum saßen, waren höflich. Sie sprachen leidlich deutsch, stellten sich vor und befragten sie zum Unfallhergang. Sie schilderte, so gut es ging, die in ihrem Gedächtnis vorhandenen Fragmente des Unfallgeschehens, erzählte von dem starken Regen und von allem, was ihr noch in Erinnerung war. Sie beendete ihre Darstellung mit den Worten: »Das hinter mir befindliche Fahrzeug ist plötzlich und unerwartet auf mich aufgefahren und hat mich gegen die Leitplanke gedrückt. Ich hatte keine Chance, den Unfall zu verhindern, und bin auch nicht schuld daran.«
»Das sieht Ihr Unfallgegner anders«, sagte der eine Polizist. Er hatte eigentlich auf den ersten Blick den netteren Eindruck gemacht. Dieser Eindruck war jetzt verflogen. »Er meint, Sie hätten abrupt und unerwartet gebremst. Nur deswegen sei er auf Sie aufgefahren. Er habe selbst noch scharf gebremst, aber keine Chance gehabt.«
»Das stimmt nicht«, unterbrach sie ihn. »Ich bin gleichmäßig in einer Kolonne geradeaus gefahren. Etwas anderes war wegen des starken Regens auch gar nicht möglich.«
»Möglich wäre es schon gewesen«, sagte der andere Polizist. Auf einmal machten beide Carabinieri einen unfreundlichen Eindruck auf sie. »Das heißt nicht, dass es so war. Der Unfallgegner macht Ihnen allerdings die größten Vorwürfe, zumal er auch noch schwer verletzt ist.«
»Er ist schwer verletzt?« Sie war bestürzt. Sie hatte überhaupt nicht gedacht, dass jemand beim Unfall verletzt worden sein könnte. Ihre Stimmung ging gerade granatenmäßig in den Keller. »Ja, er ist am Brustkorb verletzt. Nach der ersten Diagnose möglicherweise eine Lungenquetschung oder sogar eine Wirbelsäulenverletzung«, führte der Polizist weiter aus. »Wir haben nur kurz mit ihm sprechen können. Die endgültige Diagnose stehen noch aus. Seine Aussage zum Unfallhergang ist allerdings eindeutig.«
Sie wurde blass. »Auch meine Aussage zum Unfallgeschehen ist eindeutig«, betonte sie. »Schließlich ist er auf mich aufgefahren. Nach deutschem Recht gilt: Wer auffährt, ist schuld an einem Unfall.«
»Der Unfall passierte aber nicht in Deutschland«, war die Antwort. »Näheres zur Schuldfrage werden wir erst beantworten können, wenn das Unfallgutachten vorliegt. Die Erstellung eines Gutachtens hat die Staatsanwaltschaft angeordnet«, sagte einer der Polizisten. »Der Fall hat hohe Priorität, weil Ihr Unfallgegner nicht nur möglicherweise schwer verletzt, sondern auch ein hochrangiger Politiker ist.«
Ihr blieb ja nichts erspart, dachte sie.
»Das Gutachten könnte schon im Laufe der Woche vorliegen. Wir schicken es Ihrer Versicherung, oder haben Sie bereits einen Rechtsanwalt konsultiert?«
»Nein, bei Gott, nein, warum sollte ich?«, antwortet sie. Die Beamten schwiegen.
Zum Glück hatte sie ihre Handtasche zum Frühstück mitgenommen, in der auch die Versicherungskarte war. Sie händigte die Karte einem der Beamten aus. Er notierte die Daten. Auf ihre Bitte wurde zugesagt, das Gutachten an ihre private E-Mail zu senden. Die Adresse wurde notiert.
»Kann ich auch die Daten meines Unfallgegners haben?«, bat sie. Sie erhielt einen Bogen mit den entsprechenden Informationen. Allerdings fehlte die Angabe seines derzeitigen Aufenthaltsortes. »Können Sie mir bitte noch sagen, in welches Krankenhaus man ihn gebracht hat?«, war daher ihre Anschlussfrage.
Die Beamten wurden misstrauisch. »Warum wollen Sie das wissen«, fragte der eine, »Ihr Unfallgegner ist ein wichtiger Politiker, der bestimmt nicht von Ihnen gestört werden möchte.«
»Ich möchte ihn besuchen, weil es mir leid tut, dass er verletzt wurde, auch wenn ich keine Schuld an dem Unfall trage. Das macht man in Deutschland so. Außerdem kann er vielleicht selbst entscheiden, ob er mich sehen möchte.«
Nach kurzer Diskussion der beiden Polizisten untereinander, erhielt sie eine Telefonnummer. »Das ist die Nummer der Krankenstation, auf der er liegt«, sagte einer der Beamten. »Wenn er mit Ihnen reden will, wird Sie die Stationsschwester bestimmt verbinden.«
»Waren noch Fahrzeuge an dem Unfall beteiligt, oder sind andere Personen verletzt?«, wollte sie weiter wissen.
»Nein«, war die Antwort. »Es gibt leider auch keine verwertbaren Zeugenaussagen.« Sie wurde abschließend um Mitteilung gebeten, ob sie Verletzungen erlitten habe. »Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, aber ich habe nur leichte Schmerzen in der Schulter«, antwortete sie.
»Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie für weitere Fragen zur Verfügung stehen könnten und uns informieren würden, wenn Sie abreisen wollen«, wurde ihr beschieden. Sie nickte stumm. Die Polizisten gingen wieder.
Was für ein beschissener Tag, dachte sie. Er hatte so hervorragend begonnen, und nun das. Möglicherweise war sie auch noch schuld daran, dass jemand anderes schwer verletzt war. Und der Verletzte war nicht nur ein »hohes Tier« in der Politik, das Ganze war auch noch in einem fremden Land passiert. Na, prost Mahlzeit. Der Appetit war ihr vergangen. Ein Kaffee wäre jetzt das Richtige. Sie ging zurück in den Frühstücksraum. Von der Sonne war nichts mehr zu sehen. Die Wolken hatten ihr den Weg versperrt. Passt, dachte sie. Auf einmal hatte sich das Universum gegen sie verschworen. Von dem Brötchen nahm sie nur einen kleinen Bissen. Den frischen Espresso, den ihr die aufmerksame Kellnerin gebracht hatte, trank sie. Er tat ihr gut.
Das gibt es doch gar nicht, dachte sie. Ich bin wirklich vom …, nein, sie war nicht vom Pech verfolgt. Sie musste sich eingestehen, dass es durchaus im Rahmen des Wahrscheinlichen gelegen hatte, dass jemand bei diesem Unfall verletzt worden sein konnte, möglicherweise sogar schwer. Sie hatte an diese Möglichkeit nur nicht gedacht. Christophers Weltbild stimmte immer noch, obwohl, musste es auch noch ein bekannter Politiker sein? Auch die fuhren gelegentlich Auto und hatten Unfälle. Hatten die nicht alle einen Fahrer? Dienstlich wohl, aber nicht auf der privaten Reise in den Urlaub. Irgendjemand musste ja ihr Unfallgegner sein. Zwar weniger wahrscheinlich, das alles, aber durchaus im Bereich des Möglichen.
Jetzt war sie wirklich auf dem Berg gefangen. Über den ärztlichen Rat hätte sie sich noch hinwegsetzen können, aber für die Polizei musste sie sich zur Verfügung halten. Schöne Sch…
Auf der anderen Seite stand nicht fest, dass der Unfallgegner wirklich schwer verletzt und, vor allen Dingen, sie schuld an dem Unfall gewesen war. In einem war sie sich sicher: Sie hatte nicht abrupt gebremst. Daran würde sie sich erinnern. Es war alles ganz normal gewesen, eine ganz gewöhnliche Fahrt, wenn man von dem starken Regen einmal absah, bis sie aufgrund des rückwärtigen Aufpralls ins Schleudern gekommen und ihr geliebtes Auto auf die Leitplanke gedonnert war. Sie war vorsichtig gefahren, wie alle anderen Fahrzeuge in der Kolonne, vermutlich auch ihr Unfallgegner bis zum Aufprall. Nicht zuletzt war ihr Vater mit dem Auto bei einem Wolkenbruch ins Schleudern geraten und … Sie wollte nicht auch noch daran denken.
Sie ging nach dem Frühstück auf ihr Zimmer und rief einen ihrer Freunde an, der gerade sein Jura-Examen bestanden und eine Anstellung als Anwalt in einer internationalen Anwaltssozietät angetreten hatte. Ihm erzählte sie alles. Er versprach ihr, zu helfen und, für den Fall der Fälle, auch einen ausländischen Rechtsanwalt zu besorgen. Seine Kanzlei hatte entsprechende Verbindungen. Er würde aber nichts veranlassen, bevor nicht die Ergebnisse des Unfallgutachters vorlägen, meinte er. Sie sollte nur ihrer Versicherung die Daten des Unfallgegners mitteilen, was sie unmittelbar nach dem Telefonat auch tat. Und sie solle sich überhaupt keine Sorgen machen. Wer auf ein anderes Auto auffahre, trage auch nach anderen Rechtsordnungen die Schuld am Unfall. Die Aussage stimmte zwar nicht so ganz, er wollte sie aber beruhigen, und genau das erreichte er auch.
Nachdenklich blieb sie doch. Sie überlegte nochmals hin und her, ob sie vielleicht unvermittelt gebremst haben könnte. Doch obwohl sie in den letzten Winkeln ihres Gedächtnisses kramte, konnte sie sich an einen Bremsvorgang nicht erinnern.
Sie musste ihre trüben Gedanken schnellstmöglich loswerden. Sie wollte doch sowieso nicht weg und hatte sich auf eine weitere Diskussion mit ihrer neuen Bekanntschaft gefreut. Jetzt, wo jemand verletzt worden war, hatte die Frage nach dem Zurückdrehen der Zeit auf einmal an Bedeutung gewonnen. Ach was, das war doch sowieso nicht möglich. Aber warum nicht, das interessierte sie dann doch brennend.
Er konnte es ihr bestimmt erklären, auch wenn er manchmal weit ausholte. Vielleicht musste das aber so sein.
Sie telefonierte lange mit ihrer besten Freundin und erzählte ihr alles. Das tat ihr gut. Dann ging sie in die Bibliothek. Sie wollte schauen, ob sie vielleicht doch ein Buch finden würde, vielleicht ein Buch in englischer Sprache. Da konnte sie auch gleich ihre Sprachkenntnisse vertiefen. Insgeheim hoffte sie, dass er vielleicht auch schon da sein würde, war er aber nicht. Sie hatten sich auch für später verabredet. Bei der freundlichen Bedienung bestellte sie sich ein Mineralwasser mit Eis und setzte sich in einen der bequemem Bibliothekssessel. Es war ein brauner Ledersessel, so richtig gemütlich, um darin zu versinken. Ihr Blick schweifte durch die Bibliothek, die ihr jetzt so vorkam, als wäre sie einem Kriminalroman von Agatha Christie oder Edgar Wallace entliehen. Massive Bibliotheksregale, umrahmt von edler Holzvertäfelung an der Wand. Die Einrichtung versprach allerdings mehr als die Auswahl der Bücher. Bei näherer Betrachtung war nichts Richtiges für sie dabei.
Sie dachte über ihre Situation nach.
Durch einen äußerst unglücklichen, nein, durch einen unwahrscheinlichen Umstand war sie in dieses luxuriöse Sanatorium oder in dieses exzellente Hotel der oberen Kategorie geraten. Doch offenbar war das nicht zu ihrem Nachteil geschehen. Zwar hätte sie jetzt eigentlich die Pisten unsicher machen müssen, aber irgendwie konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie die Zeit hier besser genutzt hatte, als sie sie im ganzen Skiurlaub hätte nutzen können. Das Gespräch mit ihm bescherte ihr eine neue Sicht der Dinge. Wie interessant ist das denn, über Energie und Zeit zu philosophieren, wenn man gerade von dem einen anscheinend zu wenig und dem anderen offensichtlich zu viel hatte?
Es war schon erstaunlich, wie ihr Gesprächspartner die Welt sah. Sie hatte noch niemanden kennengelernt, der so radikal Verknüpfungen herstellte, wo sie überhaupt keine erwartet hätte, und einem Gespräch so schlagartig eine neue Wendung gab.
Sie hatte durchaus einen großen Bekanntenkreis. Aufgewachsen in einem kleinen Dorf, war sie später zum Studieren in eine Großstadt gezogen. Sie hatte zwar ihr kleines Dorf über alles geliebt und fuhr dort regelmäßig hin, um alte Freunde zu besuchen, aber sie wollte auch die Welt kennenlernen, war begierig, neue Erfahrungen zu machen. Sie arbeitete inzwischen in einem großen Konzern und hatte sich gerade für eine Stelle in New York beworben.
Kollegen beschrieben sie als kommunikativ, was aber oft nur gespielt war. Sie würde sich eher als schüchtern einstufen, auch vorsichtig beim Eingehen von Beziehungen. Charakterlich war sie oft aufbrausend, nie aber wirklich böse, eher innerlich ein wenig unstet. Die richtige Balance war noch nicht gefunden, sie hatte aber angesichts ihres Alters von 27 Jahren noch jede Menge Zeit.
Doch was war er für ein Mann? Er war nicht nur eloquent, sondern auch sonst eine auffällige Erscheinung. Er vermittelte den Eindruck, einen einmal eingeschlagenen Weg zielgerichtet zu verfolgen. Als ob er auch im Berufsleben den Ton angeben würde. Privat schien er eher verschlossen zu sein. Jedenfalls hatten sie noch nicht über persönliche Dinge gesprochen. Sie wollte das baldmöglichst nachholen.
Sie lächelte insgeheim. Bislang hatte sie sich nicht näher mit physikalischen Themen befasst. Das sah sie nun komplett anders, weil er die schwierigsten Themen so einleuchtend erklärte, dass sie Freude daran hatte. Zwar waren seine Ausführungen manchmal ein wenig fordernd, aber durchgehend interessant, und er war immer für eine Überraschung gut.
Sie war durch die Diskussion richtig wissbegierig geworden und hoffte, dass er noch viel Zeit haben würde, sie mit grundlegenden Einsichten zu versorgen. Sie fühlte sich fit und hatte den Grund für ihren Aufenthalt, ihren Unfall, wieder gänzlich aus dem Gedächtnis verdrängt.
Das Thema Zeit schien wirklich komplex zu sein. Sie dachte über die Diskussion am Vorabend nach. Die in ihrem Gehirn produzierten Bilder drängten sich nach vorne. Teilchen in einem Ball rasten als Flugzeugstaffel auf den Boden zu, verwirbelten durch den Aufprall, um fortan ihr weiteres Dasein als entropische Wärmeenergie zu fristen, herabgestiegen von königlichen Höhen einer hochwertigen Energie in ein Aschenputtel-Dasein. Genial.
Weil überall Reibung stattfand, selbst in ihrem Körper, wenn sie etwas tat, um die Ordnung herzustellen, nahm die kosmische Unordnung trotzdem ständig zu. Die Entropie »schlug zu«, wie er das so schlagwortartig zusammengefasst hatte. Aber mit welcher Intensität tat sie das? Konnte man ihr nicht vielleicht doch ein Schnippchen schlagen?
Das Beispiel von Stephen Hawking war ja wirklich imposant gewesen. Von wieviel Millionen Millionen Einheiten war die Rede gewesen? Sie wusste es nicht mehr. Vielleicht hatte Christopher noch mehr Beispiele für derartig astronomische Dimensionen. Die Zahlen, mit denen er um sich geworfen hatte, waren wirklich atemberaubend.
Bei Zeiteinheiten war er nicht weniger zimperlich. Wie konnte er auf die Idee kommen, dass sich ein Zimmer irgendwann in ganz ferner Zukunft selbst gereinigt haben könnte? Extrem.
Die Zukunft konnte also von sich aus einen Vorgang rückgängig machen. Warum konnte man dann nicht in die Vergangenheit reisen? Weil sich da nichts mehr bewegte? Dafür wäre eine Reise rückwärts in die Geschichte nicht so unkoordiniert wie in die Zukunft, die wegen der ständig pulsierenden Teilchen allemal ungewiss war. In Richtung Vergangenheit war klar, wohin der Weg führte. Nämlich in einer rückwärts gerichteten Aufhebung der bisherigen kausalen Ereignisse. Er hatte vom Kausalprinzip gesprochen, dass Geschehnisse aufeinander aufbauen. Wie wenn die Mauern eines Hauses hochgezogen werden.
Sie dachte an die kleine Tochter ihrer Freundin, der man keine größere Freude bereiten konnte, als einen Turm aus Bauklötzchen zu bauen, den sie dann mit einer gekonnten Bewegung zum Einstürzen brachte. Aber es würde auch anders gehen. Man könnte den Turm genau in der Reihenfolge wieder abbauen, wie man ihn aufgebaut hatte. Bauklötzchen für Bauklötzchen, Stück um Stück zurück in der Zeit. Eigentlich ganz einfach, oder zu simpel? Und wenn das nicht von selbst funktionierte, könnte man ja mit entsprechendem Energieaufwand ein wenig nachhelfen. Energie gab es ja genug. Die Energie der Welt war konstant. Sie lächelte.
Besonders beeindruckt hatte sie die Darstellung der Exponentialfunktionen und die damit einhergehenden Beispiele. Wie unglaublich steil die Zahlen anwachsen, wenn die hochgestellte Zahl nur um eins erhöht wird.
Als die Bedienung kam und das Wasser mit Eis brachte, betrat auch er den Raum, lächelte sie an, sodass ihr Blutdruck einen kleinen Hüpfer machte, und bestellte bei der Bedienung einen Espresso.
»Wie geht es Ihnen heute?«, wollte er wissen.
»Ach, ich habe keine guten Nachrichten. Die Polizei war heute Morgen da. Mein Unfallgegner ist verletzt und gibt mir die Schuld am Unfall. Aber ich will nicht jammern. Dass jemand beim Unfall verletzt werden könnte, war sicherlich nicht unwahrscheinlich.«
»Das tut mir leid«, sagte er und meinte es ehrlich. »Mir macht die aufziehende Schlechtwetterfront Sorgen.« Er erklärte nicht, warum er Sorgen wegen des Wetters hatte, sie wagte auch nicht, zu fragen. Eine Anspielung auf seine medizinische Behandlung wäre zu privat gewesen. Soweit wollte sie nicht gleich gehen. Vermutlich war er wetterfühlig oder so etwas Ähnliches.
»Die Frage, ob vergangene Ereignisse für ewig so bleiben müssen, hat daher für mich an Aktualität gewonnen«, sagte sie und konfrontierte ihn gleich mit ihren zwischenzeitlichen Überlegungen und den sich daraus entwickelten Fragen: »Ich habe verstanden, dass die Wärmeenergie ständig zu Lasten der anderen Energien zunimmt und dadurch die Unordnung im Universum steigt, weil die kleinen Teilchen in der Wärmesuppe nur noch unkontrolliert hin und her wabern und keine Kraft mehr für eine geordnete Energieentwicklung haben. Doch ist das mehr als nur ein schönes Bild? Ist das wirklich die Realität? Ihre Beispiele schienen mir wirklich weit hergeholt zu sein.«
Jetzt schmunzelte er innerlich. Von wegen weit hergeholt. Er hatte noch ganz andere Beispiele parat.
Sie war aber noch nicht fertig mit ihren Fragen: »Sie haben die Zunahme der Unordnung in Beziehung dazu gesetzt, dass die Zeit ständig voranschreitet. Doch die Zeit soll auch umgekehrt wieder die Ordnung herstellen können, wenn man sie nur lange genug machen lässt? Ist die Zeit ein Alleskönner? Kann sie sich sogar erfolgreich gegen die Funktionsweise des Universums wehren?«
Sie holte tief Luft. »Wenn sich aber ein gegenwärtiger Zustand ohne unser Zutun in der Zukunft verändern kann und das auch noch gegen jedwedes kosmische Prinzip, warum, um alles in der Welt, soll uns dann der Gang in vergangene Zeiten verwehrt sein? Den Weg in die Vergangenheit kenne ich doch schon aufgrund des Kausalprinzips, wie Sie erklärt haben. Also muss ich die bekannten Ereignisse einfach nur analysieren und rückwärts aufdröseln. Wie wenn man einen Film rückwärtslaufen lässt. Das mag vielleicht Energie kosten, aber davon haben wir doch genug.
Ergo: Warum ist das alles so, wie Sie es beschrieben haben? Und was passiert bei den beschriebenen Prozessen? Oder noch anders gewendet und vielleicht viel globaler, grundlegender: Woher kommen die beschriebenen Phänomene, wo ist deren Ursprung, warum gibt es sie heute, und wohin führt das Ganze?«
»Sehr kluge Fragen«, begann er, »ich will Ihnen gerne erklären, wie das Universum funktioniert. Verfolgen wir einmal Ihren Ansatz und bestimmen die Ereignisse in dem Punkt in der Vergangenheit, den wir erreichen wollen.«
»Ja, und bitte nur bezogen auf meine Person und nicht gleich auf den ganzen Kosmos«, warf sie ein. »Dann müsste es doch nicht so kompliziert sein, in die Zeit vor meinen Unfall zu gelangen.«
»Im Prinzip ist das richtig«, sagte er und ließ sich auf diese Diskussion ein. »Wenn wir wirklich in die Zeit vor den Unfall gelangen wollen, sollten wir uns vielleicht einmal näher anschauen, was unmittelbar vor dem Unfall passiert ist, und zwar ausschließlich in der Region, in der Sie und Ihr Unfallgegner sich aufgehalten haben.
Was können wir da feststellen? Zunächst ist die eine, von Ihnen ausgelöste und beeinflusste Kausalkette zum Unfall zu berücksichtigen, indem Sie zu einer bestimmten Zeit aufgestanden, das Fahrzeug gestartet, etwas später auf die Autobahn eingebogen sind und schließlich den Unfallort zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht haben. Eine weitere Kausalreihe betrifft selbstredend Ihren Unfallgegner.
Es sind aber nicht nur diese ursächlichen Vorgänge zu beachten. Es hat ja auch geregnet, also muss der Regen irgendwie ausgelöst worden sein, der Straßenbelag hatte aufgrund der verwendeten Materialien und der Dauer seiner bisherigen Benutzung eine bestimmte Beschaffenheit, die durch das Regenwasser weiter verändert wurde. Nicht zuletzt waren Ihre Aufmerksamkeit und die des anderen Fahrers beeinflusst von irgendwelchen Gedanken in Ihren Gehirnen, davon, was Sie über den Tag getan, gegessen oder nicht gegessen hatten, kurzum von der biologischen Beschaffenheit aller ›Ihrer Teile‹.
Wenn Sie jetzt den Zeitpunkt unmittelbar vor dem Zusammenstoß genauer betrachten, werden Sie feststellen, dass für die Bestimmung des Zustandes in einem bestimmten Moment unheimlich viele Dinge gleichzeitig zu berücksichtigen sind, die alle eine selbständige Kausalreihe haben. Ganz viele Kausalketten laufen aufeinander zu, bevor ein bestimmtes Ereignis stattfindet.
Doch dürfen wir bei der Untersuchung der Geschehnisse nicht vergessen, dass in jedem Moment noch sehr viel mehr passiert, als wir wahrnehmen oder jemals werden wahrnehmen können. Ich meine damit nicht nur das Verhalten von anderen Lebewesen, die durchaus Einfluss auf das Geschehen in unserer Welt haben können, wie der berühmte Flügelschlag des Schmetterlings zeigt, der einen Hurrikan auslösen kann.
Eine Analyse des Zustandes in einem Moment wäre aber unvollständig, wenn sie nicht berücksichtigen würde, dass die Welt aus Molekülen, Atomen und aus deren subatomaren Bestandteilen, also aus ganz kleinen Teilchen besteht, deren Verhalten ebenso Einfluss auf unser Geschehen nimmt. Wir müssen tiefer in die Materie gehen, um unser Bild von einem Zustand der Welt zu einem Zeitpunkt zu vervollständigen.
Das ist aber noch nicht alles. Wir müssen auch den Mechanismus verstehen, wie die Gegenwart voranschreitet in die Zukunft, wie sich also ein – näher analysierter – Zustand in einem Zeitpunkt zu einem anderen Zustand im nächsten Zeitpunkt entwickelt. Wenn wir tatsächlich das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen, müssen wir das Rad in alle Elemente eines Zustandes exakt einrasten lassen, die Prinzipien entschlüsseln, wie sich das Rad vorwärtsbewegt, um uns anschließend der Frage zuzuwenden, ob das Ganze auch in umgekehrter Richtung geht.
Die Grundprinzipien hierzu haben wir schon besprochen. Die Zukunft ist offen, es gibt in jedem Moment verschiedene Möglichkeiten, also verschiedene andere Zustände, in die wir uns begeben können. So entwickelt sich unser Leben, so schreitet die Gegenwart voran. Von den vielen möglichen Zuständen, die sich für uns eröffnen, treten wir regelmäßig als Nächstes in den wahrscheinlichsten ein. Also ganz offen ist die Zukunft nicht, sie ist dem Wahrscheinlichkeitsdogma unterworfen.
Schauen wir uns also näher die dahinterstehenden Gesetzmäßigkeiten an, versuchen wir die Prinzipien der weiteren Gegenwartsentwicklung zu entschlüsseln, um auf dieser Basis zu prüfen, ob wir in der Zeit zurückgehen können, oder ob uns die Entropie oder andere kosmische Gesetze daran hindern. Wollen Sie das wirklich alles hören?«
»Ja«, antwortet sie kurz und bündig.
»Gut. Ich sehe, Sie trinken Wasser mit Eis. Das Eis ist schon fast ganz geschmolzen. Haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt, warum das Eis eigentlich schmilzt? Ihnen mag vielleicht diese Frage seltsam vorkommen, weil wir diesen Vorgang gleichsam verinnerlicht haben. Nie haben wir den umgekehrten Vorgang gesehen, und ich will Ihnen gleich sagen, dass er auch noch nie im Universum passiert ist.«
»Ich denke doch, dass es den umgekehrten Vorgang gibt«, sagte sie und legte eine bedeutungsvolle Pause ein. »Stellen Sie eine Schale warmes Wasser in den Gefrierschrank, dann wird das Wasser zu Eis gefrieren. Das ist die Umkehrung des Vorganges, in dem das Eis schmilzt.«
»Nein, es ist nicht die Umkehrung, es ist der gleiche Vorgang. Sie werden gleich verstehen, warum das so ist.«