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Kapitel 8

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Als sie sich zum zweiten Mal auf den Weg in den Wadi machten, kam Sarah die Reise weit weniger unerträglich vor. Zum einen war es nicht so heiß – hohe Schleierwolken hatten sich vor die Sonne gelegt und sorgten dafür, dass sie nicht wie Nadelstiche auf der Haut zu spüren war. Zum anderen wusste die Engländerin jetzt, wie weit es war und wo ihr Ziel lag und sie erkannte auch einzelne Punkte am Weg wieder. So konnte sie ungefähr sagen, wie viel der Strecke sie schon hinter sich gebracht hatten. Da sie bereits vor Sonnenaufgang aufgebrochen waren, würden sie ihr Ziel vor der größten Mittagshitze erreichen.

Was allerdings mehr als nur irritierend war, waren ihre neuen Begleiter. Der größte Teil der Gruppe war schon gestern losgezogen, um die Vorräte ins Lager zu bringen und die zerstörten Zelte zu ersetzen. Es reisten lediglich drei Männer mit ihnen, um ihre Sicherheit zu garantieren. Adil hatte Sarahs Blicke bemerkt, als sie die Wachen zum ersten Mal gesehen hatte, und sich beeilt zu versichern, dass es sich bei den Männern um absolut zuverlässige Söldner handelte, die im Notfall vor nichts zurückschreckten. Nun, Letzteres glaubte Sarah sofort. Sie zweifelte allerdings an dem »zuverlässig«. Vorgestellt hatten die Männer sich nicht selbst, das hatte Adil übernommen, und sie Walid, Serhat und Nermin genannt. Sarah hatte sich noch nicht ganz entscheiden können, wen sie am unheimlichsten fand.

Serhat war der größte Mann, den sie je in ihrem Leben gesehen hatte, beinahe sieben Fuß groß und so breit, dass er sich nicht nur bücken musste, um durch eine Tür zu kommen, sondern wahrscheinlich auch nur seitlich hindurchpasste. Er schien Nubier zu sein und war der erste und einzige Mann, den sie bisher mit freiem Oberkörper herumlaufen sah. Dieser Umstand trug zu seinem respekteinflößenden Äußeren noch bei, da er nur aus Muskeln, überzogen von einem Aderngeflecht, zu bestehen schien. Außerdem schaute er niemanden direkt an, sein Blick ging stets ausdruckslos auf Augenhöhe geradeaus in die Ferne.

Nermin hatte sicherlich nicht weniger Körpermaße als Serhat, wuchs jedoch eher in die Breite als in die Höhe. Der komplette Mann wirkte weich und schwammig, sein Gesicht war so aufgedunsen, dass man fast keine Augen darin sehen konnte. Eigentlich rechnete Sarah damit, dass er schon nach hundert Yards in der Wüste tot umfallen musste, aber er verblüffte sie, indem er, wie die beiden anderen auch ein Lastkamel führend und nicht reitend, in strammem Tempo neben ihr herzog und, obwohl der Schweiß in Strömen über sein Gesicht floss, nicht einmal außer Atem kam.

Walid schließlich war rein äußerlich wenig erschreckend. Sarah hätte kaum ein zweites Mal hingeschaut, wenn er ihr auf dem Markt begegnet wäre. Vorausgesetzt natürlich, er hätte sich anders verhalten, als er es tat! Sein Blick, der etwas Verschlagenes hatte, huschte pausenlos hin und her wie eine Ratte in der Falle, und sein Mund stand nie still. Beständig sang der Mann vor sich hin, um dann unvermittelt mit sich selbst zu sprechen oder in halblautes Gelächter auszubrechen. Ziemlich sicher war er nicht ganz richtig im Kopf!

Als András Esubam sein Kamel ein wenig zurückfallen ließ, bis es neben Sarahs ging, wandte sie sich ganz offen an ihn.

»Bist du sicher, dass uns Adil da nicht Begleiter angeheuert hat, die uns bei der erstbesten Gelegenheit den Hals durchschneiden?«

Er lachte, und Sarah spürte fast widerwillig, dass das sorglose Blitzen in seinen Augen ihre Sorgen wegzuschmelzen begann.

»Keine Angst, meine Schöne!«

Er zwinkerte ihr keck zu, und Sarah spürte, wie sie rot wurde.

»Adil kennt Gott und die Welt in Luxor. Er würde uns nie einer Gefahr aussetzen. Außerdem haben die Männer zu Beginn unserer Reise nur sehr wenig Geld bekommen. Sie würden wenig davon haben, uns umzubringen, denn den Rest erhalten sie erst, wenn sie uns wohlbehalten wieder zurückgebracht haben.«

Sarah nickte halbwegs beruhigt und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Umgebung zu. Wieder hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Als lauerte ein Schatten in den Augenwinkeln auf sie, der verschwand, sobald sie ihren Blick in die entsprechende Richtung wandte.

Horatio ritt abseits der bekannten Wege. Immer wieder näherte er sich der seltsamen Karawane, beobachtete, überlegte. Diese Männer, die mit Sarah unterwegs waren, gefielen ihm gar nicht. Nach einer Stunde holte ihn Hanbal ein.

»Inglis, du hattest Recht. Diese Männer dort«, er zeigte zum Horizont in Richtung der Reisegruppe, »sind die übelsten Burschen, die man nur finden kann. Und die anderen, die bereits im Lager sind, die sind nicht einen Deut besser. Diebe, Mörder, Halsabschneider, Vergewaltiger.«

Er machte eine Pause.

»Und Grabräuber. Dieses Schwarzauge weiß nicht, in welche Gefahr er sich begibt. Sobald sie wirklich etwas finden sollten, das den Wert ihres Lohnes übersteigt, werden sie dem Schwarzauge die Kehle durchschneiden. Und was mit dem Feuerhaar geschieht … sie werden sie alle nehmen, nacheinander. Und was von ihr übrig bleibt, werden sie an ein Bordell verkaufen. Wenn sie es überlebt.«

Horatio wurde bleich. Es war noch schlimmer, als er angenommen hatte. Sefus Plan, nur Männer in das Lager zu schicken, welche auf Seiten der Bruderschaft standen, war völlig daneben gegangen. Stattdessen hatte der Professor die übelsten Burschen angeheuert, die man in Ägypten finden konnte.

»Hanbal, reite zu Sefu. Wir müssen uns überlegen, was wir tun sollen. Sie dürfen nichts finden. Wir müssen es verhindern!«

Hanbal verstand. Es ging Horatio nicht darum, dass keine Schätze gefunden werden sollten. Er hatte Angst um die Frau. Er legte dem Engländer die Hand auf den Arm.

»Inglis, als du zu uns kamst, da warst du tot. Ich hätte keinen Dinar mehr auf dich gesetzt. Doch du bist stark. Und du bist schlau.«

Er sah ihm in die Augen.

»Ich weiß, dass Aset dir schöne Augen macht. Jeder weiß es. Auch Sefu. Töchter sind die Strafe Allahs dafür, dass wir Männer sind.«

Er seufzte.

»Ich wünsche mir auch Kinder. Aber die Frau, die ich liebe, hat keinen Blick mehr für mich übrig.«

Horatio nickte.

»Du liebst Aset, mein Freund.«

»Ja. Du bist mein Freund. Du bist jetzt einer von uns. Ich sehe, wie schwer es für dich ist, alleine zu sein. Weil ich es auch bin. Du liebst dieses Feuerhaar?«

»Mehr als mein Leben.«

Hanbal nickte.

»Wenn das so ist, dann werde ich diese Frau ebenfalls mit meinem Leben verteidigen.«

Horatio wusste, warum Hanbal das sagte. Für den Ägypter war klar, dass Aset niemals an der Seite des »Inglis« sein würde, solange Sarah lebte.

»Wir kommen aus verschiedenen Kulturen«, murmelte Horatio. »Und doch sind wir Brüder. Lass uns das immer in Erinnerung behalten. Und ich schwöre bei meinem Leben, dass ich Aset niemals anrühren werde.«

Hanbal nickte noch einmal, dann stieg er auf sein Kamel und machte sich auf den Weg zu Sefu. Es musste überlegt werden, wie dieser Gefahr, die sich unaufhaltsam näherte, begegnet werden konnte.

Horatio pirschte sich wieder näher an die Gruppe. Mit seinem Fernrohr konnte er erkennen, dass der Größte von ihnen Sarah nicht aus den Augen ließ, sobald sie nicht auf ihn achtete. Sein Gesicht zeigte deutlich, was er wollte.

»Rühr sie an und du bist tot«, flüsterte Horatio.

Er schlich sich zurück und eilte zu seinem nächsten Beobachtungspunkt.

Das Lager sah aus, als wäre nichts geschehen. Als ob eine exakte Kopie des vorherigen errichtet worden wäre. Einzig die zugeschüttete Grabstelle von der letzten Expedition sah immer noch so aus, wie sie diese verlassen hatten. Allerdings war die Gesellschaft jetzt deutlich unangenehmer. Wenn Sarah gehofft hatte, dass der Rest der neuen Truppe vertrauenerweckender sein würde als Walid, Serhat und Nermin, wurde sie gleich bei ihrer Ankunft eines Besseren belehrt.

Als Erstes fiel ihr auf, dass die Männer für die Arbeit, die sie ausführten, zu teuer gekleidet waren, was darauf schließen ließ, dass sie ihre Kleidung oder zumindest das Geld dafür zusammengeklaut hatten. Und je mehr Sarah ihnen ins Gesicht und auf die Hände und Arme sah, desto mehr Narben bemerkte sie, die eindeutig auf Kämpfe, nicht selten mit einem Messer, hindeuteten.

Sie wagte kaum daran zu denken, hatte aber immer mehr den Eindruck, dass Adil die neuen Helfer direkt aus dem Zuchthaus geholt hatte! Sarah versuchte, sich möglichst unauffällig im Lager zu bewegen, aber als einzige Frau wirkte sie, selbst verschleiert, wie ein Signalfeuer. Die Situation besserte sich erst, als Adil und Esubam endlich Befehle brüllten und die ganze Gruppe zu der verschütteten Grabungsstelle scheuchten, um sie wieder freizulegen.

Es fühlte sich an, als fiele Sarah eine Zentnerlast von den Schultern. Aufatmend setzte sie sich vor ihrem Zelt in den Schatten und vertiefte sich in ihre Bücher, die sich mit der Mythologie Ägyptens beschäftigten. Aber obwohl sich niemand mehr im Lager befand, hatte sie ständig das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie konnte sich kaum konzentrieren, sah immer wieder von den Seiten auf, spähte argwöhnisch in die Berge. War da nicht eine schnelle Bewegung auszumachen? Sarah war sich nicht sicher. Es hätte ein Tier sein können, eine optische Täuschung, weil ihre Augen sich nicht schnell genug auf die Entfernung einstellen konnten – oder aber die Banditen, die sie überfallen hatten, waren immer noch da und würden sie diesmal nicht so glimpflich davonkommen lassen.

Ein Schauer überlief die junge Frau, und sie stand abrupt auf und ging in ihr Zelt. Hier konnte sie wenigstens niemand beobachten!

Bis es dunkel wurde, kam Sarah nicht mehr heraus, hob erst den Kopf, als András Esubam sich am Zelteingang räusperte. Er lächelte sie an, hatte offensichtlich nach der Grabungsarbeit gebadet, denn es war kein Staubkorn an ihm zu sehen.

»Darf ich dich zum Abendessen in mein Zelt bitten, liebste Sarah? Ich dachte, du möchtest auf die Anwesenheit unserer neuen Helfer vielleicht lieber verzichten.«

»Wie gut du mich kennst, András.«

Grinsend schlug Sarah ihr Buch zu und erhob sich, folgte dem Professor in sein Zelt, wo ein flacher Tisch zwischen zwei Korbstühlen stand, auf dem bereits das Abendessen duftete. Mit Heißhunger langte Sarah zu. Ägypten hatte sich ihr bisher nicht von seiner besten Seite gezeigt, aber für die exotische Küche war sie schon jetzt bereit zu töten!

Esubam sah ihr belustigt zu.

»Wie ich sehe, hat die Hitze deinem Appetit nicht geschadet! Wie kommst du mit deinen Studien voran?«

»Sehr gut. Es ist faszinierend, wie die alten Dynastien dachten und was sie Großes erreicht haben!«

Sarahs grüne Augen glänzten.

»Ich kann es kaum erwarten, etwas davon zu sehen.«

András lächelte.

»Ich werde hoffentlich bald etwas Zeit erübrigen können, um dir die alten Wunder, die bereits entdeckt wurden, zu zeigen. Falls wir vorher nicht unser eigenes Wunder zu Tage fördern.«

Die Unterhaltung plätscherte munter und ungezwungen dahin, bis der letzte Krümel verzehrt und der letzte Schluck getrunken war. Dann, als Sarah sich erhob und für die Nacht verabschieden wollte, hielt Esubam ihre Hand fest und zog sie zu sich hin.

»Sarah … würdest du dich nicht sicherer fühlen, wenn du das Zelt mit mir teilst?«

Die Rothaarige wusste nicht, ob sie empört oder amüsiert sein sollte. Schon seit geraumer Zeit war ihr klar, dass der Expeditionsleiter sich nicht nur für ihre medizinischen Kenntnisse interessierte. Sanft, aber bestimmt entzog sie ihm die Hand.

»Oh, ich bin mir sicher, dass Adils zuverlässige Helfer mich auch in meinem eigenen Zelt hervorragend schützen werden. Oder sollte ich da etwa Grund zur Sorge haben?«

Sie hob leicht spöttisch die Augenbrauen, legte besondere Betonung auf die »zuverlässigen Helfer« und brachte András damit in Verlegenheit. Er räusperte sich und straffte seine Gestalt.

»Natürlich. Du hast absolut keinen Grund, dich zu fürchten. Träum süß, Sarah.«

»Gute Nacht, András.«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, küsste ihn flüchtig auf die Wange und kehrte dann in ihr Zelt zurück.

Horatio lag wieder auf seinem Beobachtungsposten. Mittlerweile waren aus der Oase einige Männer eingetroffen, die in der Nähe eine Höhle so weit hergerichtet hatten, dass man es einige Tage gut darin aushalten konnte.

Diese Höhle war vom Wadi aus weder zu sehen noch ohne weiteres zu erreichen. Aber man konnte in einer Minute auf dem Posten sein, um das Camp zu beobachten.

Neben Horatio lag ein Gewehr. Es war eine moderne Waffe, bereits mit Repetiertechnik und gut in Schuss. Er hatte nicht gefragt, woher es stammte. Aber er war froh, nicht mehr unbewaffnet zu sein. Hier kam auch seine Militärausbildung wieder zum Tragen, er kannte sich mit Waffen bestens aus und fühlte sich in der Lage, von seiner Position aus einen Mann im Lager durchaus von den Beinen holen zu können, wenn es erforderlich sein würde. Doch er hoffte, dass dies nicht nötig werden würde. Sarah sah immer wieder in seine Richtung. Sie schien seine Nähe zu spüren, eine andere Erklärung gab es nicht. Irgendwann verschwand sie in ihrem Zelt.

Im Lager wurden Fackeln angezündet und einige Männer bezogen Wachpositionen. Es schien, als ob sie sich darauf gefasst machten, dass in der Nacht vielleicht die Besucher erneut auftauchen könnten. Aber das würde nicht geschehen, es war zu riskant.

Esubam kam aus dem Zelt, in dem er zu wohnen schien, und ging zu dem von Sarah. Gemeinsam kehrten sie dann zu Esubams Wohnstatt zurück. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie wieder erschien. Horatio knirschte mit den Zähnen. Hatte sie etwa mit diesem Ekel …? Das konnte, das wollte er sich nicht vorstellen.

Als die Nacht vollständig hereingebrochen war, kamen zwei der Männer der Bruderschaft zu ihm.

»Inglis, wir werden ins Lager gehen.«

Horatio sah sie an.

»Ist das nicht zu riskant? Was, wenn man euch erwischt? Und was wollt ihr da?«

Die Männer grinsten.

»Wir sind Wüstenschlangen. Niemand wird uns bemerken. Und wir wollen einen der Männer dort.«

Horatio fiel die Kinnlade herunter.

»Was wollt ihr?«

»Einer der Männer dort, wir haben ihn sofort erkannt.«

Horatio schluckte. Was kam jetzt? Er überlegte, wie die beiden hießen. Umblai und Msara, zwei Brüder, fiel ihm ein. Sie kamen beide aus einem Dorf, etwa zwei Stunden nilaufwärts. Es war vor etwa einem Jahr überfallen worden, hatte Sefu ihm erzählt. Viele Mädchen waren vergewaltigt worden, einige Männer getötet, das Vieh geraubt.

»Sind das Männer, die euer Dorf überfallen haben?«

Msara nickte.

»Dort unten, der Fette«, er zeigte auf einen Punkt im Wadi, »er hat unsere Schwester zu Tode vergewaltigt. Unsere Mutter hat ihn uns beschrieben, bevor sie unserer Schwester folgte. Die Narbe in seinem Gesicht. Er steht dort hinten Wache.«

Horatio erinnerte sich. Er hatte den Mann beobachtet. Auf seiner rechten Wange war eine Narbe zu sehen, die aussah wie der Verlauf des Nils.

»Und … was sagt Sefu dazu?«

»Wir haben seinen Segen.«

Damit verschwanden die Brüder in der Nacht. Horatio lauschte und beobachtete, aber er konnte sie weder hören noch sehen. Nur einmal, ganz kurz, war eine Bewegung im Lager zu vernehmen. Aber es konnte auch der Wind sein.

Nach etwa der Hälfte der Nacht spürte Horatio, wie sich ihm jemand näherte. Es war Umblai, der ihn angrinste.

»Inglis, wir haben ihn. Er schläft in der Höhle, gut verschnürt. Nach Tagesanbruch bringen wir ihn zur Oase. Sefu wird Gericht über ihn halten.«

Horatio nickte. Ein weiterer Mann, Yaefeu, kam und bedeutete Horatio, dass er nun die Wache übernehmen würde.

In der Höhle sah sich Horatio den Gefangenen an. Er wusste, Sefu würde wenig Gnade haben. In einer Ecke rollte er sich in eine Decke und war innerhalb weniger Minuten eingeschlafen.

Am nächsten Morgen erwachte Sarah von lauten Rufen. Benommen richtete sie sich auf, versuchte, ihre roten Locken, die nach allen Seiten abstanden, notdürftig zu bändigen. Was gesagt wurde, verstand sie nicht, aber es klang sehr aufgeregt. Eilig erhob sie sich, hüllte sich in einen Morgenmantel und öffnete die Zeltplane, die den Eingang verschloss. Die gesamten Arbeiter hatten sich vor Professor Esubams Zelt versammelt, standen in kleinen Gruppen zusammen und redeten mehr oder weniger laut und heftig gestikulierend miteinander.

Natürlich war auch Esubam durch den Radau erwacht und stand, nur mit einer leichten Leinenhose bekleidet, im Eingang seines Zeltes. Er hatte die Hände auf die Hüften gestützt, und selbst aus der Entfernung konnte Sarah erkennen, dass in seinen Augen ein gefährliches Funkeln tanzte. Wie eine Schlange, die im Begriff war, gleich zuzustoßen, fixierte er Walid und Serhat, die direkt vor ihm standen und offenkundig miteinander stritten.

»RUHE!«, brüllte er schließlich ohne jede Vorwarnung und warf gebieterisch beide Hände in die Luft. Die Gruppe verstummte augenblicklich. Auch Walid und Serhat unterbrachen ihren Streit und sahen ihren Auftraggeber verblüfft an.

»WAS faseln die beiden da?«, fuhr der Professor Adil, der etwas hilflos und verloren neben ihm gestanden hatte, grob an. »Ich verstehe nur ›Chaths ist fort‹. Spuck’s schon aus, Adil! Was ist wieder schiefgelaufen?«

Der Ägypter wurde, wie so oft, wenn er direkt mit Esubams Zorn konfrontiert wurde, ganz grau im Gesicht.

»Chaths hat heute Nacht am westlichsten Punkt des Lagers Wache gehalten. Jetzt ist er nicht mehr da.« Serhat spie verächtlich auf den Boden. »Ist abgehauen, der Sohn einer Hyäne. Hat Schatten gesehen, ist zu Mama gelaufen.«

Verhaltenes Gelächter erhob sich aus der Gruppe, erstarb aber gleich wieder, als Walid, fast hysterisch, in hastig hervorgestoßenen Worten, zu sprechen begann. Als er endete, sah Esubam mit fragend hochgezogenen Augenbrauen zu Adil.

Seine graue Gesichtsfarbe war inzwischen fast grün geworden.

»Walid sagt, dass Chaths kein Feigling ist und niemals eine Aufgabe abbricht. Er sagt, dass die Götter ihn geholt hätten, weil er ihren Willen missachtet und diese Expedition begleitet hat.«

Mittlerweile war das Murmeln unter den Arbeitern zu einem stetigen Summen wie in einem Bienenschwarm angeschwollen. Sarah konnte an den Gesichtern der Männer ablesen, dass nicht wenige der Version Walids Glauben schenkten. Sie waren deutlich beunruhigt.

»UNSINN!«

Esubams Gebrüll brachte erneut alle zum Schweigen. Er packte Adil am Kragen und schüttelte ihn.

»Du wirst sofort dafür sorgen, dass diese blödsinnigen Gerüchte ein Ende haben! Von den Göttern geholt! Wenn Walid nicht mit seinem närrischen Gequatsche aufhört, schneide ich ihm die Zunge heraus, verstanden?«

Adil nickte eifrig und gab das Gesagte an Walid weiter, der heftig schluckte und sich dann in die Gruppe zurückzog. Esubam ließ seinen Führer wieder los und Adil richtete verstimmt seine Kleidung.

»Soll ich die Umgebung nach Chaths absuchen lassen?«

»Wozu?«

Esubam bellte wie ein gereizter Hund.

»Er wird Sehnsucht nach Luxor gehabt haben und hat sich verzogen! Ich werde sicherlich keine wertvolle Zeit mit der Suche nach diesem überflüssigen Subjekt vertun! Und jetzt geht zurück an die Arbeit!«

Erst jetzt bemerkte der Professor, dass Sarah Zeugin der Vorkommnisse geworden war. Sofort verzog sein Gesicht sich zu einem Lächeln, und er trat zu ihr hin.

»Sarah. Es tut mir leid, dass du das anhören musstest. Ich hoffe, du hörst nicht auf dieses abergläubische Geschwätz.«

Sarah lachte, bemühte sich, das unbehagliche Gefühl im Magen zu überspielen.

»Sicher nicht. In meinen Büchern steht einiges über erzürnte Götter und uralte Flüche, aber ich halte das für Schauergeschichten.«

András atmete auf. Insgeheim hatte er befürchtet, dass sie naiv genug sein könnte, den Reden Walids Glauben zu schenken. Er legte einen Arm um ihre Schultern.

»Ich wusste es. Du bist klüger als alle Kerle hier zusammengenommen.«

Die Rothaarige ließ kurz den Blick über die Anwesenden schweifen, die sich zum Frühstück zusammengesetzt hatten, und verkniff sich den Kommentar, dass wohl auch ein halbwegs gut abgerichteter Hund mehr Intelligenz besaß als die versammelte Gesellschaft. Dann lächelte sie den Professor an.

»Wenn du mich bitte entschuldigst … ich möchte mich für den Tag zurechtmachen.«

Als Esubam sich mit einem Nicken abwandte, wanderten Sarahs Blicke unwillkürlich in die umliegenden Berge. Es gab noch eine dritte Möglichkeit außer den beiden, die bereits gefallen waren. Jemand hatte Chaths geholt. Jemand, der viel gefährlicher war als erfundene ägyptische Götter.

Horatio war wieder auf seinem Posten. Er beobachtete, was sich unten abspielte und musste lächeln. Die Situation war zu komisch. Esubam sah zunächst verwirrt aus, dann wütend. Die Männer schienen sich uneins, was geschehen war.

Horatio konnte nicht hören, was gesprochen wurde, aber er sah, wie die Männer sich missmutig wieder an ihre Arbeit machten und anfingen, zu graben. Es ging aber gemächlicher zu als am Vortag. Das würde Esubam nicht schmecken.

Er beobachtete Sarah, die im Morgenmantel wieder zu ihrem Zelt ging. Aber er sah auch die gierigen Blicke der Männer, die sie verfolgten. Das würde über kurz oder lang Ärger geben. Er seufzte. Ihm wurde klar, dass er recht bald eine Entscheidung würde treffen müssen. Und er wusste, sollte Sarah in Gefahr geraten, würde er nicht zögern, sie zu retten.

Doch vorerst würde er weiter beobachten.

In der Oase waren mittlerweile Umblai und Msara mit ihrem Gefangenen eingetroffen. Er lag, gefesselt, geknebelt und mit verbundenen Augen, gut bewacht in einem Zelt. Sefu hörte den beiden Männern zu.

»Ihr wollt Rache?«, fragte er sie.

Umblai schüttelte den Kopf.

»Nein. Wir wollen Gerechtigkeit. Und wir wissen alle, dass wir diese von den Behörden nicht erwarten können.«

Sefu nickte.

»Das ist richtig. Wir haben jetzt folgende Situation: Dieser Mann dort hat eure Familie entehrt, sie getötet. Und er ist im Begriff, das zu stehlen, was zu beschützen wir uns verpflichtet haben.«

Er sah die beiden nacheinander an.

»Doch was hat Vorrang? Eure Familie oder unser Schwur?«

Msara sah seinen Bruder an.

»Sefu. Diese Frage zu stellen ist schon fast eine Beleidigung. Unser Schwur hat immer Vorrang. Und du weißt, wir würden niemals die Bruderschaft verraten. Doch gib uns nur eine Stunde mit ihm.«

Sefu wiegte den Kopf.

»Das ist keine Frage, was wichtiger ist, wenn ich es recht bedenke. Es ist mehr die Frage, wie wir vorgehen. Welche Strafe für welches Vergehen?«

Umblai beugte sich vor und redete in leiser Stimme. Sefu hörte aufmerksam zu und nickte.

»Du hast weise gesprochen. So soll es geschehen. Ihr beide seid verantwortlich dafür. Und das, was am Ende übrig bleibt, schenkt ihr dem Schwarzauge.«

Die Brüder erhoben sich und gingen zu dem Zelt, in dem Chaths noch immer lag. Er ahnte, dass er den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben würde.

Sie packten und hievten ihn auf ein Kamel, bestiegen die ihren und ritten in die Wüste hinein, an eine Stelle, die sie für geeignet hielten.

Am Nachmittag entstand auf einmal Hektik im Lager. Die Männer, die gruben, hatten sich trotz ihrer recht sparsamen Arbeitsweise mittlerweile recht tief vorgearbeitet. Einer kam plötzlich aus der Grube, winkte und gestikulierte. Horatio richtete sein Fernrohr auf die Grabung.

Esubam kam angelaufen, gefolgt von Sarah. Er sprang in das Loch hinein, folgte der ausgestreckten Hand des Mannes, der gerufen hatte und beugte sich vor. Als er wieder aus dem Loch stieg, konnte Horatio erkennen, dass man etwas gefunden hatte, was interessant zu sein schien. Es handelte sich um eine Steintafel, etwas größer als ein Buchrücken. Horatio hatte keine Ahnung, was darauf zu sehen war. Doch an der Haltung Esubams war zu erkennen, dass es etwas Wichtiges sein musste. Er nahm die Tafel und verschwand mit ihr in seinem Zelt. Sarah wollte mit ihm hinein, aber er wies sie ab. Sie stand vor dem Eingang, sah sich um. Und wieder hatte sie das Gefühl, als würden ihr unsichtbare Augen folgen.

Die O´Leary Saga: Todesatem

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