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Kapitel 1

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So heiß die Tage in der ägyptischen Wüste waren, so eiskalt waren die Nächte. Obwohl Sarah nun schon seit mehr als zwei Wochen im Land war, überraschte sie der Temperatursturz, den sie so in den Städten und während der Nilreise nicht erlebt hatte, völlig. Und sie hatte András Esubam ausgelacht, als sie auf der Ausrüstungsliste, die er ihr in London gegeben hatte, unter anderem einen warmen Wollumhang gefunden hatte.

Nun trug sie exakt diesen Umhang, stand am Rand des Lagers und spähte nervös in die Dunkelheit. Im Lager selbst waren zahlreiche Fackeln zwischen den Zelten in den Boden gerammt worden und im Zentrum brannte ein Lagerfeuer, an dem die Männer sich versammelt hatten, aßen, scherzten und lachten. Sarah hatte nicht die Ruhe, dort still zu sitzen. Seit sie im Lager angekommen waren, fühlte sie sich beobachtet, aber natürlich war es aussichtslos, zu versuchen, außerhalb des Feuerscheins irgendetwas zu erkennen. Das Einzige, was sie sah, waren die Wachen, die als lautlose Schatten um die Zelte patrouillierten, dabei aber nicht sonderlich angespannt wirkten. Spürten sie es denn nicht? Bemerkten sie nicht, dass in den Bergen, die sich schwarz und bedrohlich gegen den samtigen Nachthimmel abzeichneten, irgendetwas auf sie lauerte?

Fröstelnd zog Sarah die Schultern zusammen, als irgendwo im Gebirge ein Schakal zu heulen begann.

»Stimmt etwas nicht, Sarah?«

Sarah machte einen Satz vor Schreck und konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. Professor Esubam, der lautlos an sie herangetreten war, wirkte ebenso erschreckt durch ihre Reaktion wie sie selbst, musste dann aber lachen, gab einer der Wachen, die sofort mit gezücktem Revolver neben der jungen Frau aufgetaucht war, ein Zeichen, dass alles in Ordnung war, und fasste Sarah am Arm.

»Meine Liebe, was ist nur los mit dir? So ängstlich wie hier habe ich dich selbst während des Sturms auf hoher See nicht erlebt. Ich weiß, du warst noch nie wirklich in der Wildnis, aber du musst keine Angst haben. Die Wachen kennen sich bestens aus und sind auf alles vorbereitet, was hier auf uns warten könnte.«

Er legte ihr den Arm um die Schulter und führte sie sanft, aber bestimmt, zum Feuer zurück. Aber auch dort, neben ihrem Vater sitzend, fühlte Sarah sich nicht besser. Horatio war wieder in ihren Gedanken und sie wusste nicht, warum. Warum jetzt? Hatte sie zu sehr versucht, nicht an ihn zu denken?

Seit András Esubam vor einem knappen Jahr, in Begleitung von Horatios Stiefvater Henry Gordon, am Haus der O’Learys aufgetaucht war und Sarah förmlich angebettelt hatte, es sich zu überlegen und doch eine Expedition nach Ägypten zu begleiten, hatte Sarah Horatio aus ihrem Kopf gestrichen. Es war auch kein Platz gewesen für andere Dinge als die Kultur und Gegebenheiten Ägyptens, sowohl die gegenwärtigen als auch die zur Zeit der Pharaonen. Sie hatte die Nase nur noch in entsprechende Bücher gesteckt, bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie endlich in Alexandria vom Schiff gegangen war.

Sie hatte sich fast wieder glücklich gefühlt, weit weg von zu Hause, wo alles an ihren Geliebten erinnerte. Und jetzt, ausgerechnet hier, mitten im Nirgendwo, war er alles, woran sie denken konnte.

Horatio dämmerte vor sich hin. Auch er hatte immer noch Probleme, sich an diese Temperaturunterschiede zu gewöhnen. Nkosi schnarchte leise, während Hanbal Wache hielt. Sie wollten sich abwechseln.

Die Nacht verging in quälender Langsamkeit. In seinem Dämmerzustand sah sich Horatio wieder mit Sarah zusammen in London, wie sie Professor Esubam kennengelernt hatten. Die Ausstellungsstücke, die Behälter, der Schädel. Er sah wieder, wie Sarah in den Bann dieses Mannes gezogen wurde, und wälzte sich im Halbschlaf.

»Wach auf. In einer Stunde geht die Sonne auf.«

Nkosi schüttelte ihn. Horatio verjagte die Reste des Traumes aus seinem Kopf und wickelte sich aus den Decken, kroch wieder an den Überhang. Im Lager erwachte ebenfalls das Leben. Hanbal nickte ihm zu.

»Diese Männer dort, die den Inglis helfen, sie verkaufen ihre Seele, ihr Land, ihre Heimat. Sie sind es nicht wert, unsere Brüder zu sein.«

Horatio schüttelte den Kopf. Er verstand, was Hanbal sagen wollte. Seitdem er in Ägypten angekommen war, verwirrte ihn das Land immer mehr. Der Sand, über den man ging, atmete die Vergangenheit aus. Sie war überall um ihn herum. Nach allem, was er bisher hier gelernt hatte, musste dieses Land früher ein großes Reich gewesen sein, reich und mächtig. Doch wie alle Weltreiche war auch Ägypten im Mahlstrom der Zeit zerrieben worden. Übrig geblieben waren nur die Erinnerungen, die Überlieferungen, Armut und Schmutz.

Die Krone sah Ägypten als ihre Kolonie an. Der neuerbaute Kanal, der das Mittelmeer mit dem Indischen Ozean verband, sorgte dafür, dass die Schiffe nicht mehr die lange und gefährliche Reise um das Kap der Guten Hoffnung machen mussten. Sie sparten Zeit und damit Geld. Mit diesem Kanal waren viele Glücksritter in Ägypten eingefallen auf der Suche nach Reichtum, nach Gold, nach Schätzen.

Und vieles, so hatte ihm Sefu erzählt, wurde gestohlen, weggebracht, verschwand spurlos. Hatten zuerst nur die Grabräuber die Ruhestätten der früheren Herrscher entweiht, so stand man jetzt einem Heer von angeblichen Forschern gegenüber. Und diese brachten ihre eigenen Soldaten mit.

»Du musst begreifen, dass nicht nur Gold und Edelsteine in den Gräbern sind. Dort werden Dinge aufbewahrt, die niemals mehr das Licht der Welt erblicken sollten!«, hatte ihm Sefu erklärt.

Horatio hatte noch immer nicht genau begriffen, was damit gemeint war. War es eine Waffe? Und falls ja, welcher Art? Er glaubte nicht, dass ein Blitz aus dem Behältnis hervorschießen würde, wenn man es öffnete. Horatio glaubte nicht an solche Geschichten, wie sie auch in der christlichen Bibel erwähnt wurden. Aber was konnte es sonst sein? Würde es Krankheiten hervorrufen, die man nicht heilen konnte? Eine giftige Substanz? Und, so gestand er sich ein, er war nicht sonderlich scharf darauf, es herauszufinden. Schnell verbannte Horatio diese Gedanken wieder, seine Sorge galt in erster Linie Sarah.

Er wandte sich an Hanbal.

»Nein, mein Bruder. Sie sind nicht böse. Sie sind arm. Arm und verzweifelt. Sie müssen Kinder ernähren, ihre Familien. Würdest du deine Kinder hungern lassen?«

Hanbal spie aus.

»Pah! Nie würde ich für ein paar Dinar meine Brüder verraten. Eher gehe ich stehlen!«

Horatio nickte. Das war der Punkt. Es gab in Ägypten unterschiedliche Auffassungen. Die eine war die, dass man unter keinen Umständen die Totenruhe stören durfte. Die andere, dass man die Schätze, die man dort fand, im Land lassen musste. Und die Engländer, aber auch Franzosen, Italiener und andere, wollten sich bereichern. Es gab überall versnobte Menschen, die viel Geld für ein Stück aus einem Pharaonengrab zahlten.

Und dann gab es noch eine Gruppe, die außerhalb stand. Die »Bruderschaft des Nophta«. Sie achteten nur darauf, dass bestimmte Dinge verborgen blieben. Es ging dabei um altägyptische Mystik, um Totenkult, um Magie.

»Hanbal, sei nicht so streng mit ihnen.«

»Ich werde so streng sein, wie Sefu es sagt.«

Horatio nickte. Sefus Wort war Gesetz. Auch er hatte sich ihm unterworfen. In langen Gesprächen war Horatio klar geworden, was in diesem Land vor sich ging. Die Krone hatte es fest im Griff. Und dieser Griff war eisenhart.

Wie bei jedem anderen Land, das die Helfershelfer der jeweilig regierenden Majestät umklammerte. Sie würden es auspressen, ausquetschen. Die Menschen dort, sie waren zweitrangig.

Er erinnerte sich an eine Diskussion, die er mit seinem Bruder Francis geführt hatte. Dieser war damals Kadett der Royal Navy gewesen.

»Es ist einfach, Horatio: Wer sich mit uns arrangiert, der wird belohnt. Alle anderen …«

Er hatte es nicht ausgesprochen, aber Horatio hatte verstanden.

Francis … Wie lange hatte er nicht mehr an seinen Bruder gedacht? An den Bruder, den er getötet hatte. Getötet, damit die Frau, die er selber liebte, die Verlobte seines Bruders, in Frieden leben konnte. Und jetzt war diese Frau hier und riss die alten Wunden wieder auf.

Er löste sich aus seinen Gedanken. Im Lager wurde es langsam hektisch. Esubam tauchte auf, an seiner Seite ein bulliger Mann.

»Nubier!«, zischte Hanbal.

Esubam diskutierte mit dem Kerl, dann rief dieser die Männer zu sich, schrie und gestikulierte. Daraufhin schnappten sie sich Schaufeln, Eimer und Körbe und begaben sich zu einem Punkt, an dem Esubam einen langen Stab eingeschlagen hatte. Eilig fingen die Männer an, zu graben. Nkosi, der sich mittlerweile auch zu ihnen gelegt hatte, fluchte leise.

»Das ist nicht gut!«

»Was meinst du?«, fragte Horatio.

»Sie graben. Aber dort dürfen sie nicht graben. Nophta wird sie zerschmettern!«

Nkosi und Hanbal unterhielten sich, Horatio verstand kein Wort. Dann tippte Hanbal Horatio an.

»Ich werde zu Sefu reiten. Er muss entscheiden.«

Lautlos verschwand er. Doch Horatio war abgelenkt. Aus einem Zelt war eine Frau getreten. Nein, verbesserte er sich, nicht eine Frau. Sarah! Die Frau, die er immer noch liebte. Er beobachtete sie. Sie war noch schöner geworden, reifer. Das lange, kupferfarbene Haar leuchtete in der Morgensonne. Sie beschattete die Augen mit der linken Hand und blickte genau in seine Richtung. Horatio zuckte dieses Mal nicht zurück. Er starrte sie an, sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Und eine einsame Träne grub eine Furche in den Staub auf seiner Wange.

Als Sarah an diesem Morgen aus dem Zelt trat, nahm ihr für einen Moment die Schönheit der Berge den Atem. Sie glühten rot in der aufgehenden Sonne und ließen sie sogar die unruhige Nacht mit ihren wirren Träumen vergessen. Leider hielt der Augenblick des Friedens nicht lange an. Schon wieder hatte Sarah das untrügliche Gefühl, beobachtet zu werden. Sie beschattete ihre Augen mit einer Hand und ließ den Blick mit zusammengekniffenen Lidern die Berge entlangwandern.

Sie sah nichts. Nur Geröll. Nicht einmal ein Tier, es gab nicht die kleinste Bewegung in den Bergen, kein ungewöhnlicher Schatten, nichts, was auf einen Hinterhalt gedeutet hätte. Und trotzdem war sie davon überzeugt, dass etwas da war. Dass JEMAND da war.

Ich werde verrückt, dachte Sarah und bemühte sich, die Erinnerung an den Traum der letzten Nacht abzuschütteln. Sie hatte von ihm geträumt, Horatio. Das war ihr schon seit Wochen nicht mehr passiert. Nicht mehr, seit sie London verlassen hatte. Aber es waren andere Träume gewesen als die, die sie in London gehabt hatte.

In London hatte sie ihn immer gesehen, blutbesudelt, wie er die Leichen zerlegte und wegschaffte, die auf ihr Konto gingen. Die Menschen, die sie ermordet hatte. Vier Prostituierte und ihren Verlobten Francis, Horatios Bruder. Nun, bei Francis konnte man nicht von Mord sprechen – er hatte versucht, sie zu vergewaltigen, und da hatte sie ihm mit einem metallenen Kerzenleuchter den Schädel eingeschlagen. Aber trotzdem – sie hatte seinen Tod zu verantworten, sie hatte ihn erschlagen.

Und Horatio hatte alles getan, um ihre Morde zu vertuschen, weil er sie liebte. Er hatte die Worte nie ausgesprochen, Sarah hatte die Gewissheit erst in seinem Abschiedsbrief erhalten, den er zusammen mit der Leiche seines Bruders zurückgelassen hatte.

Einfach spurlos verschwunden war er. Obwohl man tagelang die Themse nach Horatios Leiche abgesucht hatte, weil jeder annahm, er habe sich in die Fluten gestürzt, hatte man nichts gefunden. Dennoch hatte Sarah an seinem Tod nie gezweifelt und war beinahe darüber zerbrochen. Seit sie in diesen Bergen angekommen war, war das anders. In ihrem Traum von letzter Nacht war kein blutüberströmter Horatio vorgekommen, der sie noch einmal geküsst hatte und dann in Richtung der Themse im Nebel verschwunden war. Diesmal stand er oberhalb des Lagers, auf dem nächsthöheren Hügel, und sah mit strengem Blick auf sie hinunter. Seine Stimme hatte in ihren Ohren gedröhnt.

»Du darfst nicht hier sein! Du bist in Gefahr! Du musst gehen!«

Sie hatte ihn gerufen, hatte begonnen, den Berg hinaufzuklettern, aber das Geröll hatte unter ihren Füßen nachgegeben, sie war immer wieder abgerutscht und einfach nicht näher an ihren Geliebten herangekommen.

»Sarah, du musst gehen! Ich kann dich hier nicht beschützen!«

Sie hörte die Worte, seine Stimme immer noch so eindringlich, als ob es sich nicht nur um einen Traum gehandelt hätte. Dann hatte er sich umgedreht und war im Gebirge verschwunden, und Sarah selbst war hochgeschreckt.

Und jetzt schimpfte sie sich selbst eine Närrin, weil sie draußen stand und wie besessen die Berge nach einer Traumgestalt absuchte.

»Sarah, stimmt etwas nicht?«

Sie zuckte heftig zusammen und drehte sich um, fühlte sich ertappt. Andrew war aus dem Zelt getreten, wischte sich gerade den restlichen Schaum seiner morgendlichen Rasur aus dem Gesicht.

»Ich habe wieder von ihm geträumt, Papa.«

Andrews Gesicht verdunkelte sich. Er hatte sie nicht vergessen, die Nächte, in denen seine Tochter, von Weinkrämpfen geschüttelt, aus Albträumen erwacht war, die endlosen Tage, an denen sie nur aus dem Fenster gestarrt hatte, abgemagert war, niemanden hatte sehen wollen. Es war so weit gewesen, dass er und seine Schwägerin Margret sich abgewechselt hatten, um bei ihr zu sein, weil sie fürchteten, dass sie sonst denselben Weg wie Horatio wählte und sich das Leben nahm.

Andrew O’Leary war unendlich erleichtert gewesen, dass sie endlich wieder an etwas Interesse zeigte, als András Esubam und Henry Gordon aufgetaucht waren und sie dazu ermuntert hatten, die Expedition nach Ägypten zu begleiten.

Sarah war förmlich aufgeblüht, hatte begonnen, über Ägypten zu lesen und zu lernen, und die Albträume waren vergangen. Sie hatte wieder gegessen, sogar gelacht, und endlich wieder einen Plan für die Zukunft gehabt.

»Von Horatio?«, fragte er, vorsichtig und überflüssigerweise.

»Ja, natürlich, von wem denn sonst?«

Endlich löste sie ihre Blicke von der Bergkette ihnen gegenüber und verbot es sich, stattdessen zu den Felsen oberhalb des Lagers hinaufzublicken. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit der Gruppe um Professor Esubam zu, die begonnen hatte, sich mit verbissener Energie in den Hang neben ihrem Lager zu graben.

»Aber es waren andere Träume als zu Hause. Er war hier … und hat mich gewarnt.« Abrupt drehte Sarah sich zu ihrem Vater um. »Papa, glaubst du, es ist möglich, dass er hier ist?«

Verblüfft sah Andrew seine Tochter an.

»Sarah, hör doch auf mit solchen Hirngespinsten! Wie sollte er hierher kommen? Er hat sich umgebracht, das weißt du doch!«

Auf gar keinen Fall wollte er, dass Sarah sich unbegründete Hoffnungen machte und dann erneut in ein tiefes Loch der Schwermut fiel.

»Nein, das weiß ich eben nicht!«

Ohne dass sie es selbst bemerkte, wanderten Sarahs Blicke wieder zu den Bergen hinauf, suchten systematisch die Kanten und Grate ab.

»Man hat nie seine Leiche gefunden. Was, wenn er auf dem nächsten Schiff angeheuert hat und einfach aus England verschwunden ist?«

Einmal hatte er den Vorschlag gemacht, dass sie zusammen nach Amerika gehen sollten, aber zu diesem Zeitpunkt war Sarah noch zu sehr in seinen Bruder verliebt gewesen, um sehen zu können, dass Horatio der richtige Mann für sie war.

»Selbst wenn es so wäre … wie kommst du auf den Gedanken, dass er ausgerechnet HIER ist?«

Andrew betrachtete seine schöne Tochter mit deutlicher Sorge im Blick.

Sie hob die Schultern.

»Ich weiß es nicht. Ich habe einfach so ein komisches Gefühl. Als ob ich seine Nähe spüren könnte.«

»Ich glaube, dir tut einfach nur die Sonne nicht gut!«

Freundlich, aber bestimmt, nahm Andrew Sarah am Arm und führte sie in ihr Zelt.

»Komm … lass uns mal sehen, ob wir etwas halbwegs Essbares zum Frühstück finden können!«

Die O´Leary Saga: Todesatem

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