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ОглавлениеWenigstens der Unterleib ist unpolitisch, dachte der US-Captain Felix Lessing, als er in dem Aachener Vorort auf ein zerschossenes Haus zuging, in dem die Frau auf ihn wartete. Er war dreißig, groß und schlank. Er trug ein Gewehr über der Schulter, dessen Lauf auf den Boden zeigte, und er ging, als schwanke er.
Über leere zerstörte Straßen fegte ein kalter Wind. Die Zivilbevölkerung mußte nachts in ihren Ruinen bleiben. Die alliierten Truppen hatten den Atlantikwall überrannt, Frankreich befreit und Hitlers verzweifelte Ardennenoffensive ins Leere laufen lassen; heute, am 7. März 1945, stießen ihre Voraustruppen gegen den Rhein vor.
Der Captain blieb stehen und suchte den Eingang. Er holte die Flasche aus der Tasche, nahm tiefe Schlucke, als müsse er sich Mut antrinken. Eigentlich wollte er umkehren, aber er sehnte sich nach einer langen Nacht mit einem weißen Körper in einem weichen Bett. Verdammt, dachte Felix Lessing, schließlich bin ich Soldat – ich brauche eine Frau, und wenn es keine andere gibt …
Er fand den Eingang und klingelte.
Die junge Frau öffnete sofort; sie mußte hinter der Tür auf ihn gewartet haben.
»Da bin ich«, sagte der Captain.
Sie legte den Finger auf den Mund, ihre Blicke glitten zu den Nachbarwohnungen hin, als sie den Besucher in die Diele zog. Unschlüssig stand er da und sah sich um. Sie nahm ihm den Trenchcoat ab. Sie hatte sich für ihn zurechtgemacht, aber Lessing übersah es. Er wollte ihr Schlafzimmer so kurz wie nötig und so sachlich wie möglich hinter sich bringen.
»Hier«, sagte die junge Frau und wies auf die Tür zu ihrem Zimmer.
»Hübsch«, erwiderte er, ohne sich umzuschauen.
»Die Nachbarn?« fragte er.
»Nein – das Kind.«
»Ach so …« Er holte die Flasche aus der Tasche. Während er sie der Frau anbot, die ablehnte, sah er das Bild des Feldgrauen an der Wand.
»Ihr Mann?«
Sie nickte.
»Gefallen?«
»Nein«, antwortete sie, »im Osten …« Ihre Stimme schien zu besagen, daß das keinen Unterschied mache.
»Ach so«, erwiderte Felix und trank wieder aus der Flasche.
»Ich hole Ihnen ein Glas«, sagte die junge Frau. Sie betrachtete ihn von der Seite, stellte wie schon heute morgen auf der Straße fest, daß er ein hübsches Gesicht mit einer breiten, ausladenden Stirn hatte, das hart und glatt wirkte wie ein Stein in der Brandung.
»Wieso sprechen Sie so gut deutsch?« fragte sie.
»Gelernt«, brummte der Captain, »an der Universität.«
»Erstaunlich«, entgegnete die Frau, »Sie reden wie ein Deutscher …« Sie merkte, daß sie etwas Falsches gesagt haben mußte. Seine Augen wurden klein, sein Mund zornig. Seine Hand hielt die Flasche wie eine Keule, mit der er gleich zuschlagen wollte. »Entschuldigung«, sagte sie erschrocken.
Ohne Einleitung riß er sie an sich, beugte sich über sie. Ihre Schatten an der Wand wurden unförmig. Der Captain hob die Frau, trug sie zur Couchecke, setzte sie ab, begann sie auszuziehen. Seine Hände waren ungeschickt. Er konnte die Schließe am Rücken nicht öffnen, riß sie ab, halblaut vor sich hinfluchend.
»Kann hier jemand kommen?« fragte er.
»Kein Mensch«, erwiderte sie, stand auf, ging an die Wohnungstür, um sie von innen zu verriegeln. Sie kam zurück und sah wieder, wie hektisch er trank, lächelte, ging auf ihn zu, nahm ihm die Flasche ab, drückte ihn zurück in die Kissen, suchte seine Lippen.
Ihre wilde Zärtlichkeit machte ihm Mut: Felix brauchte ihn für den Haß, mit dem er über fünftausend Kilometer marschiert und über sechs Jahre gelebt hatte, ihn mehr als zweitausend Nächte lang sammelnd, zählend und mehrend. Haß war zu seinem ständigen Begleiter geworden, mit ihm wachte und schlief, trank und kämpfte er – und so wollte sich Felix jetzt, kurz vor dem Ziel, nicht ein Quentchen von dem Haß auf ein Land nehmen lassen, das ihn geboren und verstoßen hatte.
In Deutschland war er mit Martin aufgewachsen, und die Freundschaft der beiden Jungen, deren Väter jahrelang gegeneinander prozessierten, hatte als unzertrennlich gegolten. Martin erwies sich als der Praktiker, Felix als der Theoretiker, aber beide waren gleich vital, gleich intelligent und gleich versessen auf das Leben.
Vielleicht auch hingen die beiden Jungen so aneinander, weil sie ohne Mutter aufwachsen mußten. Martins Vater war geschieden, der alte Kommerzienrat Lessing hatte seine Frau schon verloren, bevor Felix in das Gymnasium ging; er heiratete nicht wieder, weil der Junge keine Stiefmutter haben sollte.
Es war eine liebenswerte patriarchalische Vorstellung, die der Heranwachsende häufig belächelte, obwohl er recht zufrieden mit ihr war. Sie lebten nicht wie Vater und Sohn, sie hausten wie zwei Freunde zusammen, häufig auch wie drei, denn Martin hatte Gastrecht.
Auch ihn faszinierte die liberale Geistigkeit des alten Lessing, des Philanthropen, in dem die Jungen einen modernen Nathan liebten.
Nach dem Abitur bezogen Felix und Martin die Universität, der eine studierte Literaturgeschichte, der andere Volkswirtschaft. Sie lasen, sprachen, liebten und stritten sich durch lange Nächte, voll schöpferischer Unruhe, Begünstigte des Lebens, deren einziges Vorurteil der gemeinsame Glaube an den Fortschritt war.
Zu dieser Zeit hatten sie die Männer in den Braunhemden nur für einen Auswuchs auf Abruf gehalten. Aber schon ein Semester später erkannten sie den Riß, der durch Deutschland ging. Felix gehörte zu der kleinen Minderheit, die von einer verhetzten großen Mehrheit verfolgt wurde.
Martin stand wortlos und konsequent an seiner Seite; die Abneigung gegen den eigenen Vater, die Verehrung für den alten Kommerzienrat und das Unrecht, das man Felix antat – einem von einer halben Million –, nahmen ihm jede Wahl.
Die meisten Gäste, die sich vor kurzem noch in das gastliche Haus des Kommerzienrates gedrängt hatten, mieden es jetzt. Die Stadt, in der er lebte, hatte vergessen, wie viele soziale Werke der alte Lessing geschaffen hatte.
Die Künstler blieben aus, die einen Mäzen suchten, die Autoren, die einen Protektor brauchten. Felix erlebte, daß aus seinen Mitschülern von gestern Feinde von heute geworden waren. Die offenen Angriffe der Fanatiker trafen ihn weniger als das versteckte Mitleid vieler Bürger. Felix litt fast physisch, und so steigerte er die vom braunen Staat betriebene Isolierung noch, indem er sich, Martin ausgenommen, von der Umwelt absonderte.
Fast täglich schlug er dem Freund vor, den Umgang mit dem Hause Lessing zu meiden, und suchte ängstlich in Martins Gesicht nach einem Zögern, nach unterdrückter Zustimmung. An manchen Tagen wollte er selbst ihm mißtrauen, aber er überwand es und begriff, daß der Freund sein Freund geblieben war. Mehr als für die Zivilcourage, die Martin bewies, war ihm Felix dankbar für seine Unbefangenheit.
Er bestürmte den Vater, Deutschland zu verlassen; zum erstenmal erwies sich der alte Lessing als unvernünftig und verspann sich immer mehr in seinen Starrsinn. Die Auswanderung aus seiner Heimat kam ihm wie Flucht vor dem Pöbel vor, wie Feigheit vor dem Feind.
»Horden ruft man zur Ordnung«, sagte er, »und vor Schreihälsen läuft man nicht davon.«
Auch Martin riet dem Kommerzienrat zur Flucht. Doch der alte Mann stand noch fünf bittere Jahre durch, bis er sich endlich entschloß, nach Amerika zu gehen.
Die beiden Freunde mußten sich trennen.
Es geschah im Mai 1938. Felix erhielt ein Visum für einen Studienaufenthalt in den USA. Sein Vater blieb noch in Frankfurt und sollte bald folgen.
Das Schiff lief in Hamburg aus. Die beiden Freunde verbrachten noch ein paar Tage in der Hansestadt, die so vom Abschied überschattet waren, daß Felix und Martin nichts von ihnen haben konnten.
Sie gaben sich die Hand, sahen aneinander vorbei, wußten, daß sie sich vielleicht nie mehr oder höchstens nach vielen Jahren wiedersehen würden.
Sie sagten kein Wort, als sie auseinandergingen. Beide standen sie da mit schweren Köpfen, unfähig, sich zu rühren, als das Schiff auslief, der eine an Land, der andere an Bord, und sie sahen beide, wie rasch die Entfernung wuchs. Als Martin vom Kai ging, fühlte er, daß er nicht nur dem Schiff, sondern auch seiner Jugend den Rücken kehrte.
Das Leben der Freunde gabelte sich in zwei entgegengesetzte Richtungen.
Kurz nach der Abreise des jungen Lessing wurde Martin zur Wehrmacht einberufen.
Felix kämpfte um die Einreise seines Vaters; die amerikanische Behörde sagte zu, aber der Instanzenweg brauchte Zeit – Felix schaffte es und teilte es dem Vater brieflich mit.
Als Antwort erhielt der Dreiundzwanzigjährige die Nachricht, daß sein Vater in der Kristallnacht gelyncht worden war und daß der alte Ritt den Mord angestiftet hatte.
Es war ein Schlag, den Felix nie verwinden konnte.
Er quälte sich mit Vorwürfen, daß er die Einwanderungsbehörden nicht mehr bedrängt hatte, und immer heftiger wuchs sein Haß auf das Land, in dem sein Vater geblieben war.
Haß wurde zu seiner Krankheit und zu seiner Stärke. Er kompensierte ihn mit dem Glauben an das Land, das ihn aufgenommen hatte. In Amerika wollte er nur Licht sehen, in Deutschland nur Nacht. Aus dem deutschen Einwanderer wurde ein amerikanischer Patriot, der zielstrebig alles in sich ausmerzte, was ihn an seine Heimat erinnern wollte.
Felix sprach nicht mehr deutsch, las keine Bücher in dieser Sprache, nicht einmal die seiner Gefährten im Exil; er verübelte es ihnen, wenn sie sich in ihrer Muttersprache unterhielten. Deutsch wollte er erst wieder sprechen, wenn er Germany als Vorhut der Strafe betrat.
Er fieberte dem Kriegseintritt Amerikas entgegen. Er begann, dem imponierenden mächtigen Land zu verübeln, daß es nicht gleich auszog. Er bekämpfte seine Ungeduld mit Schnaps, wurde zum sporadischen Trinker, sooft das Bild der lodernden Flammen, der johlenden Massen und gequälten Menschen ihn folterte. Wenn er betrunken war, zeigte er sich von faszinierender kalter Intelligenz. In den letzten Monaten vor dem Kriegseintritt der USA betrank er sich beinahe täglich.
Der japanische Überfall auf Pearl Harbour machte ihn nüchtern. Felix, der Individualist, wurde Soldat aus Überzeugung, landete mit dem Expeditionskorps in Nordafrika, kämpfte im amerikanischen Brückenkopf bei Nettuno und meldete sich freiwillig zu einer Einheit der Fallschirmjäger, die bei der Invasion als erste über dem Atlantikwall abspringen sollte.
Er war einer der acht Überlebenden dieser Kampfgruppe und sollte zur Erholung nach England gebracht werden. Felix weigerte sich, die Front zu verlassen, und raste mit den amerikanischen Panzern wie im Taumel quer durch Frankreich. Er kam an feldgrauen Kolonnen deutscher Gefangener vorbei und gestand sich verdrossen, daß sie nicht wie Mörder seines Vaters aussahen. Er schluckte gewaltsam diese Gedanken hinunter; sie schmeckten nach Schnaps, zu dem er wieder griff, wenn er verzweifelte.
Die alliierten Truppen erreichten Deutschlands Westgrenze. Felix Lessing wurde zum Captain befördert, gegen seinen Willen aus der kämpfenden Truppen gezogen und, weil er Deutsch wie ein Deutscher sprach, der Abteilung für psychologische Kriegführung zugewiesen. Er war verwundert und verärgert, wie leicht ihm die Muttersprache fiel.
Felix vernahm Gefangene und sprach Propagandasendungen. Seit Wochen kam er erstmals mit deutschen Zivilisten zusammen, mit Frauen, Kindern, Ruinen. Noch immer nährte er seinen Haß. Er schirmte sich gegen außen ab; aber seine verwundbarste Stelle lag im Innern, war sein Herz, ein Erbteil des alten Kommerzienrates, das die Mordbrenner nicht arisieren konnten.
Felix stemmte sich dagegen; er sah an Frauen vorbei, durch Kinder hindurch und erlaubte sich nur den Blick auf Grauen, Gräber und Greuel. Er trank, fluchte und schuftete für die Propaganda, an die er nicht mehr glaubte; er hielt sie für nötig und wußte, wie töricht sie war; er merkte, daß er log, und trank noch mehr.
Sie lachten und stöhnten in einem Atem, im selben Takt. Das Gesicht der jungen Frau glühte wie im Fieber. Sie liebte unter Zeitdruck, rasch und gierig. Sie fragte nicht, woher Felix kam, und wollte nicht wissen, warum er so gut deutsch sprach; sie sah nicht mehr, daß er eine andere Uniform trug als ihr Mann.
Sie hatte das Krachen der Bomben satt und das Krepieren der Granaten, das Warten auf die Post und die Schlange vor dem Milchladen, die Sorge um ihr Kind, und so hatte sie den Händen und Lippen des Fremden entgegengefiebert, der langsam Feuer fing und begriff, daß sie den Mann und keine Schokolade wollte.
Felix wütete gegen die Frau und gegen sich. Er litt, weil ihm die Frau gefiel. Er zitterte vor dem Verlangen; und er sagte sich im Hin und Her, im Auf und Ab, wieder und noch, daß es gleich sei, ob seine Lust einer Araberin, einer Japanerin, einer Italienerin oder einer Deutschen gelte.
Einer Deutschen …
Das Wort machte sich breit, wälzte sich durch seinen Kopf, setzte sich auf seinen Haß und lächelte spöttisch.
Felix richtete sich auf.
»Was hast du?« fragte die Frau flüsternd.
»Ich muß dir etwas sagen.«
»Komm«, erwiderte sie und legte ihre Arme um seinen Nacken, zog ihn an sich.
»Ich bin Jude«, sagte er.
Sie lächelte und schüttelte den Kopf. Dann horchte sie. Nebenan weinte das Kind.
»Verstehst du nicht?« Seine Hände griffen nach ihren Schultern. »Ich bin Jude – ein Jude! Ihr habt meinen Vater ermordet …« Er atmete in keuchenden Stößen. »Und habt vergessen, auch mich zu … zu …«
»Komm!« sagte sie leise, weich.
»Das ist Rassenschande!« schrie er sie an.
Es waren nicht seine Worte, es war sein Gesicht, das sie so fürchtete. Felix nahm es fälschlich als eine Bestätigung, und er war ihr dankbar dafür.
Als er sich anzog, stieß er Unflätigkeiten aus. Sie befreiten ihn von der Scham über seinen Verrat, gaben ihm den Haß zurück, nahmen ihm die Lust an wütender Zärtlichkeit mit dieser Frau und die Enttäuschung darüber, daß sie sich ihm gegeben hatte, ohne daß er sie kaufen mußte – daß er kein Geschäft getätigt, sondern ein Geschenk erhalten hatte. Morgen wollte er es mit einer Kiste Lebensmittel zurückweisen.
Er kam nicht mehr dazu.
Als Felix die Tür zugeschlagen hatte und mit dem Jeep losgerast war, um die Sehnsucht nach dem warmen, weichen Körper, den er verlassen hatte, im Alkohol zu ertränken, rasselte der Alarm: durch einen Zufall war die Eisenbahnbrücke von Remagen nicht gesprengt worden, was die US-Soldaten die Ruhepause am Rhein kostete; sie fielen stürmisch nach Germany ein, unter ihnen Captain Lessing, der endlich mit dem Mörder seines Vaters abrechnen konnte.