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VII

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Die Gehängten baumelten drei Tage; die Gefangenen standen vierundzwanzig Stunden. Wer umfiel, wurde mit kaltem Wasser begossen. Die Knöchel waren dick, der Mund trocken. Die Kälte schnitt in die Haut. Der neue Kommandant des Wehrmachtsstrafgefängnisses, dessen Vorgänger wegen seiner »schlaffen Haltung« abgelöst worden war, bewies seine Härte.

Martin Ritt gehörte zu den wenigen, die nicht umfielen. Er stand in der ersten Reihe, und er prägte sich jede Einzelheit ein, entschlossen, falls er die Hölle überlebte, sie und ihre Teufel niemals zu vergessen. Er wußte nunmehr, daß es etwas anderes war, im Gefecht zu fallen als von Landesschützen erschossen zu werden. Martin brauchte sich nicht mehr zu überlegen, ob es falsch gewesen war, sich nicht an seinen Vater um Hilfe zu wenden: er erfuhr, daß der alte Ritt sich geweigert hatte, ein Gnadengesuch für seinen Sohn einzureichen.

Die Strafanstalt war im Warthegau, ostwärts von Berlin. Zwischen Leben und Sterben standen im besten Fall zwei Stunden und im schlechtesten zehn Minuten. In der Regel wurde zwei- bis dreimal in der Woche erschossen, morgens zwischen fünf und sieben, mitunter in alphabetischer Reihenfolge, manchmal auch willkürlich. Die Namen der Delinquenten kamen aus Berlin; Ritt hatte jeweils auf der Liste gefehlt, wodurch er von allen Insassen – Zufall oder Regie – sein Todesurteil am längsten überlebte. Er wartete auf den Tod und setzte auf die Flucht, während man im Morgengrauen andere holte. Es war kein Trost; er starb jedesmal mit, ohne von fiebernder Angst und törichter Hoffnung erlöst zu werden.

Vor ein paar Tagen waren zwei Gefangene ausgebrochen. Ein dritter Häftling, Pfarrer im Zivilberuf, hatte von der Flucht gewußt; Mitwissen erschien dem neuen Kommandanten ein Grund, ihn mitzuhängen. Zur Abschreckung hatte er die »verschärfte Vollstreckung« des Todesurteils befohlen.

Alle Bewacher und alle Gefangenen mußten jetzt zusehen, wie die drei mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen auf die Küchenbaracke zugetrieben wurden, wo sich die Exekution vollzog.

Die drei Häftlinge starben an einem Seil; es hing zwischen einem Baum und einem Balken in mäßiger Höhe, so daß einer von ihnen mit den Zehenspitzen jeweils kurz die Erde berührte, gerade lange genug, um einzuatmen, um schauerlich zu schreien, um den Tod zu verlängern. Dann wurde der Delinquent wieder hochgezogen, zugunsten der beiden anderen, die auch nicht schneller sterben sollten.

Die Bewacher konnten die grausame Prozedur oft selbst nicht mit ansehen, aber sie stießen befehlsgemäß Häftlingen, die wegsehen wollten, den Gewehrkolben in den Rücken. Im Halbkreis um den Galgen gestellt, sahen die Gefangenen schweigend in die roten, aufgedunsenen Gesichter mit den verdrehten, verquollenen Augen. Sie hörten die Schreie ihrer Kameraden und wurden selbst vom Grauen gewürgt.

Am leichtesten hatte es der mittlere Delinquent. Er war kleiner und wog weniger, und so starb er zuerst. Das Gewicht der beiden anderen zog ihn hoch. Sein Gesicht wurde dunkelblau und hörte auf zu zucken; der Mann hing als toter Ballast zwischen den beiden, deren Fußspitzen einmal links und einmal rechts am Boden aufkamen, Sekunden nur, während derer sich die Schlinge um den Hals lockerte und die Qual des Todeskampfes verlängerte.

Die Schneidezähne grinsten weiß in den Gesichtern. Die Zunge schwoll in den offenen Mündern der Männer, die noch um ihr Leben kämpften und doch keine Chance mehr hatten. Dann war auch der Pfarrer tot. Die beiden Leichen hatten das Übergewicht und zogen den dritten erlösend nach oben. Während der endlosen Stunden, die die Gefangenen noch am Hinrichtungsplatz stehen mußten, bewegte nur noch der Wind die Toten.

Martin überstand noch viele Nächte, noch häufig kamen am Morgen die Schritte über den Gang, auf seine Zelle zu – und gingen weiter. Er erfuhr von dem Geheimbefehl, beim Durchbruch der Russen die Gefangenen zu erschießen, und er fand, daß alles besser war, als in der Strafanstalt das Ende abzuwarten.

Täglich rückte die Front näher. Die Amerikaner und Engländer, die längst Frankfurt genommen hatten, griffen aus der Luft in die Kämpfe im Osten ein. Der Kommandant ließ probehalber Alarm geben. Es entstand ein Durcheinander, weil die Bewacher annahmen, die Sowjets seien tatsächlich durchgebrochen. Entsetzt trieben sie Entsetzte aus den Zellen und kämpften gegen die Panik. Martin nutzte sie – während verzweifelter Zählappelle gelang ihm die Flucht.

Er kannte sein Risiko. Die drei Toten am Seil, in deren verzerrte Gesichter er gesehen hatte, schärften seine Sinne. Ein Wald versteckte ihn, eine alte Frau gab ihm zu essen. Er wartete ab.

Am 17. April 1945 begannen die Russen mit dem Sturm auf Berlin. Sie brachen bei Küstrin durch, wo sich Martin verborgen hielt. Aufgelöste, aufgeriebene, versprengte Divisionen deckten den Flüchtling. Mit stechenden Lungen, querfeld gejagt, von Ängsten gepeitscht, gehetzt, doch frei, versuchte Martin, sich weiter nach Süden durchzuschlagen.

Er kam bis Jüterbog, wo ihn russische Panzer vor die Wahl stellten, in sowjetische Gefangenschaft zu fallen oder in die untergehende Reichshauptstadt zu fliehen. Er mochte die Roten nicht, weil er die Braunen haßte; er hatte für alle Zeiten genug von den Diktaturen aller Schattierungen; außerdem sagte ihm sein Instinkt, daß er in dem von den Russen belagerten Berlin untertauchen könne.

Er schloß sich einer Kolonne an, die in wilder Auflösung nach Berlin zurückflutete, um dort versorgt und als Kampfverband wieder aufgestellt zu werden. Es war Martins Chance. Er meldete sich jeweils als Versprengter und verschwand rechtzeitig. Von einem kalten Willen zum Überleben getrieben, kam er bis Berlin-Falkensee, wo er sich in einer gepflegten Waldkolonie wiederfand und feststellte, daß er Hunger auf ein Stück Brot, Bedürfnis nach einem sauberen Hemd und Appetit auf eine Frau hatte.

Er sollte von allem so viel bekommen, wie er wollte. Es waren achtunddreißig Frauen, junge, alte, anständige, verdorbene und gleichgültige, sowie drei Soldaten, die ihn in einer möblierten Waschküche empfingen, wo sie sich, Männer, Frauen und Kinder, auf den Weltuntergang einrichteten.

Sie wußten, daß die Russen in Stunden oder Tagen kämen, und sie wußten, daß es sinnlos war, sie aufhalten zu wollen. Sie trugen ein paar Betten in den Keller, die Soldaten zogen die Zivilkleider der abwesenden Hausherren an. Warum sollten sie auch Hemmungen haben, wenn sie schon in ihren Betten lagen, mit ihren Frauen schliefen und mit ihren Kindern scherzten?

In der Nähe war das verlassene Lager einer Nachschuborganisation, die rechtzeitig aus Berlin geflüchtet war; es lieferte Schnaps und Schinken.

Vier ausgemergelte Männer verfügten über dreimal soviel Alkohol, als sie trinken, und zehnmal soviel Frauen, als sie nehmen konnten, und sie wußten, daß sich die Russen greifen würden, was sie zurückließen: die Frauen, den Schinken und den Kognak.

Zuerst wuschen sie noch die Gläser aus und duschten sich. Später tranken sie aus der Flasche, und der Weg ins Bad war ihnen zu beschwerlich, und zuletzt gab es ohnehin kein Wasser mehr.

Die Frauen machten sich nicht mehr zurecht, sie frisierten sich nicht, sie sahen aus wie Tiere, und genauso benahmen sie sich auch; ihre Gesichter schminkte die Angst.

Frauen, die ihren eingezogenen Männern über Jahre treu geblieben waren, boten sich an; die Angst trieb sie in die Betten, aber während der Intervalle lagen die Paare nicht still; sie wurden von krepierenden Granaten, fallenden Bomben und den Druckwellen der Explosionen aufgescheucht.

Was der Magen nicht halten konnte, gab er wieder her; die Männer knallten volle Flaschen gegen die Wand. Der Gefechtslärm rückte näher, aber sie hatten noch über hundert, und sie waren bloß zweiundvierzig. Achtunddreißig Frauen geteilt durch vier Männer, genaugenommen dreiunddreißig, denn zwei verzichteten des Alters wegen und drei aus anderen Gründen.

Martin spürte den Fusel im Magen und Umarmungen auf der Haut. Zärtlichkeiten wie Peitschenhiebe. Er trank, um nichts zu fühlen, und er zog die Frau an sich, um nicht zu denken. Sie war Mitte Dreißig, ihr Mann stand als SS-Obersturmführer irgendwo bei Erkner. Aus Angst zitierte sie Hölderlinverse, und wenn sie sich angesichts des Untergangs schon vergaß, wollte sie es nur mit einem einzigen Mann treiben, was Martin ihr versprach und auch hielt.

Das Haus zitterte, das Bett vibrierte, die Frau flüsterte, der Schnaps brannte, und Martin sah nur noch Flaschen, die um nackte Frauen, und nackte Frauen, die um Flaschen kreisten.

Er richtete sich auf, machte sich von der Frau frei, warf die Flasche an die Wand, und da begann der Reigen schon wieder: Körper, Flaschen – Flaschen, Körper, die keinem gehörten und jedem. Der Mensch, das Ebenbild Gottes, lag im Fusel, auf Scherben, im fremden Bett und stank nach Schweiß und Angst, umgeben von schreienden Kindern.

Dann sah Martin die Alte mit erloschenen Augen in der Ecke, eine, die nichts mehr sah, nichts mehr hörte, nichts mehr sagte. Eine stille Frau mit grauen Haaren, mit einem zarten sensiblen Gesicht, das nicht mehr in diese Zeit paßte.

Er stand auf.

»Was hast du denn?« fragte die Frau neben ihm etwas ärgerlich.

»Nichts.«

Vielleicht lag es nur am Alkohol, den Martin plötzlich widerlich fand – so lange sah er die weiße Flocke der Erinnerung, einen daunenweichen Traum, den es einmal gegeben hatte, als er noch ein Kind war, ein Junge, der kurze Hosen trug und Ostereier suchte. Auf einmal sah er das Bild einer fragilen, grazilen Frau, seiner Mutter, die klein und zierlich war wie ein Kobold, die mon petit filou zu ihm gesagt hatte und von der er seit vielen Jahren nichts mehr hören konnte, weil sie in Frankreich lebte – wenn sie noch lebte.

Plötzlich war er nüchtern, zog sich an und ging auf die Alte zu, die aus der Nähe die Ähnlichkeit mit seiner Mutter verlor. Sie sah nicht auf, als er seinen Arm um ihre Schultern legte, sie hochzog und sanft rüttelte. Er hob ihr Kinn; sie rührte sich noch immer nicht. Ihr Gesicht war schön, aber maskenhaft starr. Es gehörte einer Mumie von sechzig, deren Herz noch schlug.

Martin ging in den Nebenraum.

»Schluß!»brüllte er.

Sie empfingen ihn mit wieherndem Gelächter. Sie lagen aufeinander, durcheinander, Uniformstücke in Erbrochenem. Alkohol lief ihnen über das Gesicht, Speichel aus dem Mund. Ihre Augen waren rotgerändert, ihre Lippen wurden giftig.

»Junge, Junge«, keuchte ein Gefreiter.

»Mensch«, sagte ein Unteroffizier, »den ganzen Krieg nischt zu fressen, und nun so viel Fleisch auf einmal.«

»Halt’s Maul und sauf!« rief ein Leutnant.

»Hurenoffizier«, sagte der Gefreite.

»Schluß!« brüllte Ritt wieder.

Sie hörten nicht auf ihn, sie warteten auf die Russen und wollten noch immer etwas vom Leben haben, während Martin klar wurde, daß die törichten Weisheiten des Krieges für ihn einen Sinn hatten, wenn es ihm gelang, auch nur ein paar Menschen aus dem sterbenden Berlin herauszubringen.

Drei Frauen und ein Kind schlossen sich ihm an, und Martin brachte sie in tagelangen Märschen, vorbei an Straßenpatrouillen und Aufhängestäben, Richtung Westen an die Elbe bis nach Tangermünde, wo er sich von ihnen trennte, um über den Fluß zu schwimmen.

Er wurde vom rechten Ufer aus von den Russen beschossen, am linken von amerikanischen Vorposten belauert, dennoch hob er den Kopf aus dem Wasser und sah noch einmal zu der alten Frau hin, als müßte er sich endgültig davon überzeugen, daß sie nicht seine Mutter war.

Glücklich und durchnäßt erreichte er das amerikanische Elbufer, kam an schläfrigen GI-Posten vorbei, betrat Land, das in den Tagen nach der Kapitulation noch als Kampfgebiet geführt wurde und von Zivilisten geräumt war. In einer Scheune stieß er auf einen deutschen Ex-Soldaten, der ihm Zivilkleider überließ. Zu zweit flüchteten sie weiter.

Gegen Mittag hielt sie ein Jeep der Militärpolizei auf. Martin gab sich für einen Franzosen aus; seinem Begleiter hatte er eingeschärft, als Elsässer aufzutreten. Ein junger US-Offizier, der die beiden am nächsten Tag aufgriff, wurde sofort freundlich, als er hörte, daß sie Franzosen seien. Der Jeep fuhr schon wieder an, da ließ der Offizier den Fahrer noch einmal halten, als hätte er es sich anders überlegt.

»In Salzwedel is a camp for french DPs. It’s just on my way up. Get in, I’ll give you a lift.«

»It isn’t necessary, but thanks anyway«, sagte Ritt, der sich seines Kumpels wegen nicht vom Leutnant nach Salzwedel bringen lassen wollte.

Sie mußten aufsitzen und erster Klasse dem Verhängnis entgegenrollen. Der Amerikaner verwöhnte sie mit Schokolade und Zigaretten, der Fahrer fuhr schnell, die Landschaft flog vorbei. Martin betrachtete seinen Kumpel, der sich behaglich zurücklehnte.

Sie erreichten das französische Barackenlager. Der Leutnant schüttelte ihnen die Hand, dann übergab er jedem noch ein Päckchen Kaugummi als Abschiedsgeschenk. Die Schranke ging hoch, und dreißig, vierzig Franzosen, im vom Alkohol geschürten Befreiungstaumel, empfingen die beiden Neuen.

Bevor Martins Begleiter noch den ersten Satz gestottert hatte, merkten sie, daß er ein Deutscher war, und fielen über ihn her.

Der amerikanische Leutnant war schon angefahren, wurde aber von dem Fahrer auf die Schlägerei aufmerksam gemacht.

«Shit«, fluchte der US-Offizier und ging, gefolgt von seinen beiden Leuten, in das Lager zurück, entriß Martin und seinen Gefährten den Franzosen, und verprügelte anschließend die Deutschen.

Dann fuhr er die beiden ohne Schokolade und ohne Kaugummi in das nächste amerikanische Camp für deutsche PoWs. Nach vierzehn Tagen höllischer Freiheit war Martin wieder hinter vertrautem Stacheldraht und begriff, daß aus einem Krieg ohne Erbarmen ein erbärmlicher Friede geworden war.

Die wilden Jahre

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