Читать книгу Die wilden Jahre - Will Berthold - Страница 15
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ОглавлениеAls sich die Schranke des amerikanischen POW-Camps bei Reims im Mai 1947 hob, spürte der entlassene Kriegsgefangene Martin Ritt ein Gefühl, das seinen ganzen Körper erfaßte, auf der Haut prickelte, in seine Lunge schnitt und in seinen Schläfen klopfte.
Es war ein trockener Rausch, ein nüchterner Wahn.
Er wollte stehenbleiben, ein dicklicher MP-Soldat stieß ihm mit mittlerer Wucht seinen Gewehrkolben in den Rücken. Martin lächelte: die neue Freiheit hatte ihm die Hand gereicht. Er ging weiter, gefühllos gegen den Schmerz. Er mußte wieder nach hinten sehen, mußte die Gesichter seiner Bewacher betrachten, von der Langeweile des Militärlebens genormt.
Das Mitleid, das er für sie empfand, war überwältigend: er sah sie weiter strammstehen, während er mit zügigen Schritten in ein Leben ohne Uniform, ohne Befehl, ohne Kasernenhof, ohne Erkennungsmarke, ohne Ducken, ohne Fallen, ohne Kunsthonig und ohne Latrinen ging.
Auf einem offenen Kohlenwagen fuhr er über geflickte Schienen. Für eine Reise von zehn Stunden brauchte er zehn Tage und war noch rasch vorangekommen. Der Frankfurter Hauptbahnhof empfing ihn wie eine Lücke in einem morschen Gebiß.
Martin war endgültig frei, als er vom Waggon sprang. Während er mit elastischen Schritten durch die zerbombte Stadt ging, trug er die speckige Uniform bereits wie ein Maßanzug. Er lief achtlos an Trümmern vorbei, stapfte über Schuttberge hinweg. Auch die Menschen wirkten wie Schutt. Sie waren blaß, schlecht angezogen, hatten fiebrige Augen und bückten sich nach Zigarettenkippen.
Martin hatte, so schien es, nichts mit ihnen zu tun. Er spürte auch kein Mitleid. Die Alten haben es verdient, dachte er, jedenfalls viele von ihnen, und die Jungen wird es abhärten gegen die Phrasen der Nationalisten, gegen die Moral der Kleinbürger. Raubtierinstinkte, so überlegte er weiter, sind immer noch besser als Kadavergehorsam …
Aus den Ruinen der prunkvollen Geschäftsstraße hingen Rohre wie abgeschnittene Därme. An der Hauptwache blieb er stehen und betrachtete Ratten, die es miteinander trieben. Die Menschen kamen ihm ungewöhnlich dünn, die Ratten ungewöhnlich dick vor. Sie wühlten unter den Trümmern, wo noch Tote des Luftkrieges lagen.
Er fuhr zum westlichen Stadtrand. An den Straßenbahnen hingen Menschentrauben. Die ganze Stadt war eine Trümmerhalde. Oft fuhr er fünf Minuten lang durch Ruinen; dann stand wieder unbeschädigt ein Haus, bei dem nur die Scheiben durch Pappe ersetzt waren. Es wirkte paradox, grotesk. Zufälligkeiten hatten ganze Familien gerettet, andere vernichtet.
Der Heimkehrer stieg aus. Seine Schultern waren hochgezogen, die Augen offen, kühl, grau. Er wirkte wie gestaute Kraft. Er beugte sich nicht nach Zigarettenkippen, entschlossen, sich nie mehr zu bücken. Er trug die Uniform der Verlierer und ging wie ein Sieger. Er kam aus einem Welt-Krieg, als zöge er in eine Privat-Schlacht.
Gleichgültig ging er an müden Passanten vorbei. Spielende Kinder lächelten ihm zu, Frauen suchten seinen Blick, der ihnen wie feiner Sand über die Haut rieselte.
Wo die Großstadt endete, begann der Frühling. Zwischen den Ruinen und den Häusern des südlichen Villenvorortes lagen Felder, Wiesen, ein kurzes Waldstück. Die Sonne war schon unterwegs. Ihre Strahlen kletterten wie Käfer an den sattgrünen Halmen hoch. Die Kerzen der Kastanien reckten sich. Vereinzelt blühte schon Flieder. Die Luft roch nach Frühling, der Sand der Waldwege glänzte wie Gold. Spielende Falter woben gelbe Tupfen in das üppige Grün. Durch die Kronen der Bäume fielen irisierende Lichtflecke wie durch ein bemaltes Kirchenfenster. Der Morgen war voll Andacht. Die Luft roch nach Erde und Tau, nach Jugend und Verwirrung.
Martin lief blicklos durch die sanftschöne Landschaft wie über eine Marschstraße: er witterte seine Zukunft. Es entsprach seiner Gewöhnung, die Natur nicht in ihrer Schönheit zu bewundern, sondern nach Deckungslöchern und Laufgräben zu bewerten. Schönheit war etwas für Romantiker; Deckung aber tat not für Männer, die eine Stunde, einen Tag oder einen Krieg überleben wollten.
Der Krieg hatte ihn hart, nüchtern und bedenkenlos gemacht. Er war von der Zeit getreten worden; künftig wollte er die Zeit treten. Er war entschlossen, aus Jahren, die ihn viel gekostet hatten, seinen Zins zu nehmen.
Eine Querstraße noch, dann erreichte er das Haus seines Vaters. Auf einmal spürte er Angst, daß ihn die Bomben der Auseinandersetzung enthoben haben könnten oder daß Friedrich Wilhelm Ritt, von dem er seit fast drei Jahren nichts mehr gehört hatte, in einem Internierungslager untergetaucht sei.
Die meisten Häuser waren zerstört, aber hinten links, das zweite, die von seinem Vater erworbene Villa, stand noch. Sie hing mit der rechten Seite leicht vornüber, hatte über dem Eingang einen geflickten Riß, aber Glasfenster. Die Balkontür seines früheren Zimmers im ersten Stock stand offen.
Zwei junge Leute, die er nicht kannte, unterhielten sich.
Er blieb vor der Tür stehen, las auf dem Schild »Ritt« und erschrak darüber, daß er denselben Namen führte wie sein Vater; er klingelte und wartete ungeduldig, hörte Schritte und straffte sich. Seine Lippen waren aufeinandergepreßt, weiß, blutleer.
Der Mann in der Tür hatte einen dunklen Wuschelkopf und trug eine überlange Jacke. Sein Blick wirkte unsicher, er hatte Augen, die nicht auffallen wollten.
»Was gibt’s?« fragte er mit hartem Akzent.
»Wer sind Sie?« fragte Martin.
Es sah aus, als wollte der Fremde die Tür zuschlagen.
Die Augen des Mannes aus Polen trafen sich mit den Augen des Delinquenten aus dem Wehrmachtsgefängnis. Die Augen des Mannes, der in einem Kanalloch den Warschauer Aufstand überlebt hatte, während seine Familie, sein Volk vernichtet worden war, trafen sich mit den Augen des Mannes, dessen Hinrichtung immer wieder verschoben wurde. So sehr sich die beiden Männer unterschieden, das gemeinsame Leid schien eine unbestimmte Gemeinsamkeit zu schaffen.
»Ich suche meinen Vater«, erklärte Ritt.
Der Pole begriff, wer in der Tür stand. Sein Gesicht verschloß sich. Dann hob er den Kopf, als horche er dem Klang der Worte Martins nach. Der Mann aus Polen deutete auf das Wohnungsschild.
»Meinen Sie – den da?«
»Ja.«
»Er ist nicht hier.«
»Wo finde ich ihn?«
»Kommen Sie doch herein«, sagte der Mann in der offenen Tür zögernd.
Die Teppiche fehlten, auch zwei Bilder an der Wand. Sonst stand noch alles am alten Platz, aber es war seltsam fremd.
»Wissen Sie etwas von ihm?« fragte Martin.
»Vielleicht«, versetzte der Pole. »Sie sind also der Sohn?«
Der Mann im überlangen Sakko sah und erfaßte viel. Er hatte in Polen überlebt, durch spontane Entschlüsse, nach rechts oder nach links zu gehen. Ob man an den Burschen mit der Nickelbrille oder an den Uniformierten mit den Sommersprossen herantrat, konnte Leben oder Tod bedeuten, und zwar Sekunden später schon.
»Dieses Haus wurde beschlagnahmt«, erklärte der Mann, »Vermögenskontrolle. Einstweilen wurden zwanzig displaced persons eingewiesen.«
»Verschleppte Personen«, übersetzte Martin, »also Ausländer?« fragte er den Polen.
»DPs«, erwiderte er hartnäckig. »Mit anderen Worten: vorwiegend Überlebende der Konzentrationslager.«
Ihre Augen erfaßten einander, und solange verstanden sie sich wieder. Der Pole öffnete die Schreibtischschublade, nahm ein Päckchen Camel, zögerte kurz, dann warf er Ritt eine Zigarette zu, der sie in der Luft auffing, sich beiläufig bedankte und nicht wußte, welch fürstliches Geschenk ihm gemacht worden war, da er noch nicht gemerkt hatte, daß Zigaretten die neue Währung bestimmten.
»Ihr Vater wurde verhaftet«, sagte der Pole und nahm von Martin Feuer. »Landsberg, Kriegsverbrechergefängnis.«
Er sah Martin voll an; Spannung zeigte sich in seinen Augen.
»Und?« fragte Martin.
Der Pole sah Martin unverwandt an, während er die Schublade noch einmal öffnete und ihr ein Telegramm entnahm.
»Lesen Sie englisch?« fragte er.
»Es geht.«
»Gut«, sagte der Mann. »Setzen Sie sich. Nehmen Sie einen Schnaps?«
»Gern.«
Martin setzte sich und betrachtete das geöffnete Telegramm, vom Kriegsverbrechergefängnis Landsberg ordnungsgemäß an die Zivilanschrift von Friedrich Wilhelm Ritt gerichtet, weil man in Landsberg offensichtlich nicht wußte, daß die arisierte Villa mittlerweile für zwanzig DPs requiriert worden war. Es war an eine Frau Ritt gerichtet, die es nicht mehr gab.
Falls sie auf die leiche friedrich wilhelm ritts anspruch erheben stop bitten wir um mitteilung bis morgen neun uhr stop war crime prison landsberg.
Martin las langsam, Wort für Wort. Erst allmählich begriff er, daß er den Vater nicht mehr belangen konnte.
Er las, trank, rauchte.
Der Mann mit dem langen Sakko hatte sich abgewandt.
Martin sah noch einmal auf das Datum und stellte fest, daß die Mitteilung schon fast einen Monat zurücklag.
Der Pole drehte sich um und betrachtete den Mann in der gefärbten Uniform voll.
»Noch eine Zigarette?« fragte er leise.
»Bitte.«
»Noch einen Schnaps?«
Martin nahm beides und sagte: »Danke.«
Dann gab er dem Polen die Hand und stand auf.
Er dachte an seinen Vater. Vielleicht war es besser so. Vielleicht war das eine nötige, unabwendbare Lösung, dachte Martin. Der Haß gegen den Vater schlug um, trieb wie ein toter Fisch auf dem Rücken, glitschig und steif.
Er verließ nicht die Wohnung seines Vaters, sondern das Haus eines Toten. Und bald würde diese Villa ohne Teppiche so ohne Erinnerung hinter ihm liegen wie eine Jugend ohne Wärme.
Der Mann aus Polen folgte ihm.
»Hier«, sagte er und streckte ihm das Telegramm hin.
Sein Gast winkte ab.
Das Blumenbeet längs des Hauses war vom Unkraut überlagert; aber auch die Schlingblätter waren grün und streckten sich lichthungrig nach der Sonne. Warum ihn die Amerikaner gehängt haben? überlegte Martin. Wegen der Kristallnacht? Wegen Mißhandlung von Fremdarbeitern?
Gleichviel. Dieser Tod ist abscheulich. Man kennt ihn nur, wenn man in der Zelle auf das Erschießungspeloton gewartet hat. Bei mir sind die Russen noch rechtzeitig gekommen. Ihn konnte nichts mehr retten. Bei ihm konnten keine Russen kommen. Es war kein Krieg mehr: Friede.
Schluß. Aus. Tabula rasa. Eine klare Lösung. Erspart mir viel. Ihm vielleicht noch mehr: ein Leben im Zuchthaus; mit mir als Wärter. Schade um den hübschen Garten. Wenn die Polen jetzt nicht das Unkraut jäten, werden sie in diesem Jahr nicht mehr damit fertig …
Martin ging in die Stadt zurück, sein Schritt wurde wieder fest. Er entlief dem eigenen Schatten, maß wieder tote Schußwinkel und suchte Deckungsmulden. Er merkte es und lachte über sich.
Einen Moment lang sonnte sich sein Gesicht. Solange sein Blick blind war, spürte er das Prickeln auf der Haut. Der Frühling narrte ihn. Er spürte ihn in den Poren und in seinem Atem. Er wunderte sich, daß er nicht mit Landsberg haderte, das ihn um seinen Haß betrogen hatte. Vielleicht gefiel ihm auch jetzt der Tag, weil er wieder menschliche Regungen haben durfte.
Wieder ging er über Trümmer und Gräben, durch die toten Straßen der Stadt, die aussahen wie ausgeblutete Adern. Er sah die jungen Mädchen an, die mit GIs in den Jeeps fuhren. Ihre bunten Kopftücher flatterten wie Wimpel der Lebenslust. Er dachte an die Fraternisierungsverbote, die der General erlassen hatte. Als ob Hannibal mit keiner Römerin geschlafen hätte und Cäsar mit keiner Ägypterin; die Kreuzritter nicht mit Sarazeninnen – und ich nicht mit Polinnen, Tschechinnen, Russinnen, Italienerinnen und Griechinnen. Du kannst den Tod befehlen, mon général, aber nicht das Leben reglementieren, überlegte er, Soldaten werden für das Abendland oder das Morgenland oder das Niemandsland, für den Kommunismus, den Faschismus, den Nationalismus, den Sozialismus, den Kapitalismus oder den Idiotismus sterben, aber vorher werden sie, wo auch immer, mit Mädchen, die bunte Kopftücher tragen, in Wagen sitzen.
Martin stand Schlange beim Wohnungsamt; er brauchte eine Zuzugsgenehmigung, mußte aber, um sie zu erhalten, eine Arbeitsbescheinigung vorzeigen. Diese wiederum gab es nur gegen Quartiernachweis, an den auch die Ausgabe von Lebensmittelkarten gebunden war.
Nach zwei Tagen erfuhr er, daß der Entlassungsschein die Zuzugsgenehmigung ersparte. Fluchend drehte er sich weiter auf dem Karussell der Behörden: Zimmereinweisung gab es nur gegen Arbeitsnachweis; Arbeitsbeschaffung nur gegen Wohnungsnachweis. Die Bürokratie war so machtlos wie mächtig. Aus Hilflosigkeit spielte sie Größenwahn.
Beamte, die in den Ämtern geblieben waren, da man sie als Fachleute brauchte, wagten wegen ihrer Vergangenheit nicht, den Ersatzleuten zu widersprechen, die man über sie gesetzt hatte; diese waren zwar politisch einwandfrei, verstanden aber meist nicht viel von ihrer Arbeit.
Martin stand wieder vor dem Wohnungsamt Schlange, wurde nach zwei Stunden vorgelassen und sollte nun an eine Behörde verwiesen werden, die ihn gestern hierher geleitet hatte.
Er brüllte den Beamten nieder; es war die Sprache, die der Mann verstand.
»Sie haben hier nicht zu schreien«, erwiderte er schüchtern. »So kommen Sie zu gar nichts.« Er wollte den lästigen Besucher mit sanftem Vorwurf zur Räson bringen. Dann sah er Martin an, der angespannt wie zum Sprung dastand, und fing einen Blick auf, der ihm Angst machte.
»Also, was wollen Sie?« fragte der Beamte, er hielt den Kopf schief.
»Was zu essen«, sagte Martin, »ein Zimmer und von mir aus auch einen Arbeitsplatz.«
»Waren Sie in der Partei? Oder in einer Gliederung?« fragte der Beamte streng; diese Zauberformel war im Mai 1947 noch immer die Zwangsjacke für renitente Burschen.
»Nein.«
Der Mann im Stuhl wurde unruhig.
»Auch nicht in der Hitlerjugend?« fragte er.
»Auch nicht in der Hitlerjugend.«
Der Beamte schüttelte den Kopf; er deutete dezent und mechanisch an, wie skeptisch er diese Behauptung aufnehmen müsse.
»Und Sie haben schon vor dem Krieg in Frankfurt gewohnt?«
»Ja.«
»Sie sind nicht vorbestraft?«
»Doch«, antwortete Martin zynisch, »mit dem Tod.«
Der Mann trommelte hilflos mit den Fingerspitzen auf der Schreibtischplatte. Seine Augen zogen sich in die Höhlen zurück wie Schnekken in ihr Gehäuse.
»Ich bin neunzehnhundertvierundvierzig wegen Zersetzung der Wehrkraft, Nichtausführung eines Befehls und Feigheit vor dem Feind zum Tode durch Erschießen verurteilt worden – vielleicht kann ich Ihnen trotzdem beweisen, daß ich noch lebe.«
»Dann«, sagte der Mann, und seine Augen wurden rund, »sind Sie ja gewissermaßen politisch …«
»Was bin ich politisch?«
»Verfolgt.«
Martin begriff sofort; er hatte nicht beabsichtigt, aus der Verurteilung einen Nutzen zu münzen, aber er war es leid, sich in jeder Schlange Wartender vorrechnen zu lassen, daß wohl immer noch zu viele die letzten Jahre überlebt hatten.
»Wenn Sie meinen«, erwiderte er, »dann bin ich politisch verfolgt.«
»Lassen Sie das amtlich anerkennen«, riet der Beamte. »Mit einem Sonderausweis brauchen Sie nirgends mehr zu warten. Wenn Sie schon den Schaden haben«, der Mann sprach sich hüstelnd frei, »dann sollten Sie jetzt auch den Vorteil beanspruchen. Zuzug, Wohnung: alles ist dann viel leichter. Außerdem erhalten Sie Schwerarbeiterzulage.« Sein Blick wurde hungrig. »Vierhundert Kalorien mehr pro Tag.«
Martin wußte noch nicht, was Kalorien waren, und noch weniger, was sie zu bedeuten hatten; deshalb wunderte er sich, daß man politisch Verfolgte stillenden Müttern gleichstellte, als könnten hundert Gramm Butter mehr ein paar Jahre Haft wiedergutmachen. Er hatte die Menschen noch nicht gesehen, wie sie aus den Lagern gekommen waren.
Als er sich schließlich bei der Behörde für rassisch, politisch und religiös Verfolgte meldete, um einen Passepartout für die Bürokratie zu erhalten, kam er sich wie ein Hochstapler vor und wurde auch als solcher behandelt.
Die Leute, die seinen Fall zu prüfen hatten, selbst überlebende Opfer des braunen Regimes, schienen ihn wegen des großen Zudranges zu der Interimsbehörde für einen Defraudanten zu halten, denn so stürmisch wie die hier gemeldeten Ansprüche hatten sie den Widerstand gegen Hitler wohl nicht in Erinnerung, zumal die meisten Gegner liquidiert worden waren.
Man teilte Martin mit, daß seine Akten, von der Militärregierung angefordert, nicht zur Hand wären. Er stand allein; und so gab es, unter Einschluß der Militärregierung, wohl kaum einen Menschen, der sich für ihn und seine Vergangenheit interessieren mochte.
Er hielt diese Auskunft für eine Ausrede, wurde aber, als er nach vier Tagen wieder vorsprach, ohne Aufenthalt zum Leiter dieser Behörde vorgelassen und einem zu fördernden Personenkreis zugewiesen, weil seine Angaben durch ein der Wehrstammrolle beigefügtes Kriegsgerichtsurteil bestätigt worden waren.
Als er die Behörde verließ, war er nicht nur als Existenz anerkannt, sondern auch privilegiert. Er erhielt ohne Arbeitsnachweis Lebensmittelkarten und vom Wohnungsamt einen Quartierschein. Da es zu dieser Zeit vorwiegend bei »belasteten« Zeitgenossen Zimmer gab, ahnte der Heimkehrer, daß er kein gemütliches Zuhause haben würde.
Die unfreiwillige Vermieterin betrachtete ihn mit schweigendem Mißtrauen, das langsam in beredte Zufriedenheit überging. Wenigstens, so dachte sie, ist er ein Mann und keine Frau, Deutscher und kein Pole …
Sie hatte nichts gegen die Polen, empfand auch nichts für sie. Was die Menschen im Osten mitgemacht hatten, wußte sie nicht; und Untaten einzelner DPs, meist Raubüberfälle, wurden, da sie der Stadt im Augenblick näherstanden, mehr besprochen als die Verbrechen der Totenkopfleute in den Todesmühlen.
Die Frau ging voraus und zeigte Martin das Zimmer.
»Hier hat unser Erwin gewohnt.« Sie sprach gleichmütig; ihre Stimme hatte sich an das Leid gewöhnt. Sie sah zu dem Bild an der Wand hin.
Martin folgte ihrem Blick. Es war ein junger Bursche mit einem hübschen offenen Gesicht.
»Ich kann das Bild wegnehmen, wenn es Sie stört.«
»Lassen Sie nur.«
Er sah in die fragenden Augen seiner Quartierwirtin.
»Eine Tasse Tee kann ich Ihnen machen«, sagte sie.
»Gern«, erwiderte er aus Höflichkeit und folgte ihr in die Küche.
»Früher haben wir natürlich nicht hier gegessen … Sie sind noch sehr jung«, fragte sie neugierig.
Er nickte stumm.
»Höchstens siebenundzwanzig …«, fuhr sie fort.
»Dreißig«, berichtigte er mechanisch.
»Und schon politisch verfolgt?«
»Was?«
»Na, Sie haben doch sicher mit den Nazis einen Zusammenstoß gehabt?«
»Wer hat das nicht gehabt?« erwiderte er müde.
»Waren Sie im KZ?« fragte sie, die Stimme dämpfend.
»Nein.« Gereizt setzte er hinzu: »Und wenn ich schon in einem Lager gewesen wäre …«
»Nicht böse sein, Herr Ritt«, entgegnete sie, »ich hab’ bestimmt nichts gegen diese Menschen – aber es gibt doch überall solche oder solche. Oder nicht?«
Das Gerede war ihm gleichgültig; er hatte andere Sorgen. Er mußte sich für einen der Berufe entscheiden, wie sie das Jahr neunzehnhundertsiebenundvierzig zur Auswahl stellte. Er konnte Holzfäller werden, Schwarzhändler, Studiosus, Hilfspolizist, Ost-West-Agent, Benzinschieber, Klubmanager, Spruchkammerermittler, Automarder, Buntmetalldieb oder Schnapsbrenner. Er entsann sich der vier Semester Nationalökonomie, die er vor dem Krieg studiert hatte, und dachte: die Volkswirtschaft ist durch die Zigarettenwährung zu blauem Dunst geworden …
Zunächst einmal wollte er abwarten und sich vom Krieg erholen, obwohl er nicht müde war. Er hatte Zeit und genoß sie. Nach einem Jahrzehnt Leben, das man ihm gestohlen hatte, sollte es ihm auf Wochen und Monate nicht mehr ankommen.
Einstweilen durchstreifte er die Stadt nach Gelegenheiten, nach Mädchen, Zigaretten und Brotmarken. Er sammelte Erlebnisse und nahm sie nicht ernst. Entschlossen, die Militärdoktrinen in grimmiger Umkehr für das Zivilleben zu nutzen, erkundete er ein Schlachtfeld: der Soldat lernt das Gelände kennen und richtet es zur Verteidigung und Angriff ein.
Die Luft war lind. Die Sonne hatte zwischen den Mauern der Stadt die Wärme gespeichert. Der Frühling lockte die Menschen auf die Straßen, in die Parks, in die Grünanlagen, aus der Stadt hinaus. Die Passanten gingen paarweise oder zu dritt; die Schuttberge versteckten ihre häßlichen Fassaden hinter wucherndem Grün. Die Knospen öffneten sich wie Fäuste, die nie mehr drohen wollten.
Eine Horde Jungen scherzte mit amerikanischen Soldaten. Die Alten wirkten jünger, die Müden frischer, die Hungrigen satter. Die Nachbarn mochten sich wieder, und irgendwo im Osten tönte feierlich eine Glocke. Die Menschen, die sie hörten, blieben stehen und sahen sehnsüchtig nach oben, als läute diese einsame Glocke den Frieden ein.
Die Mädchen lächelten. Niemand sprach mehr vom Krieg. Die Fenster der ausgebrannten Ruinen sahen nicht mehr aus wie tote Augenhöhlen, sondern waren ganz gewöhnliche Löcher in der Mauer, die mit Mörtel, Holz und Glas wieder zu Fenstern gemacht werden konnten.
Martin ging allein und ziellos durch die Straßen. Er merkte heute zum erstenmal nach Jahren hinter Gefängnismauern und Stacheldraht, daß er einsam war, ein Fremder zwischen fremden Wänden, ein Heimkehrer ohne Zuhause, ein Mann, der gern seine Stimme gehört hätte, aber denken mußte, weil er nicht sprechen konnte.
Er traf seinen früheren Mitschüler Rothauch, mit wenig Freude, da er ihn schön damals nicht hatte leiden können. Als er jetzt dessen schlaffe Hand spürte, wußte er, daß sich daran nichts geändert hatte.
»Du?« sagte Rothauch. »Du lebst noch, Ritt?«
»Zweifelst du daran?« fragte Martin lachend.
»Du bist schon der vierte«, sagte er, »aber Maier zählt nur halb, beide Beine ab, der arme Hund – Bömmelmann ist noch in russischer Gefangenschaft.« Er schichtete Schicksale aufeinander wie Ziegelsteine. »Sollte er wirklich nach Hause kommen, dann hat unsere Klasse fünf Überlebende. Diese Quote ist nicht einmal so schlecht. Siehst ja gut aus«, stellte Rothauch fest, »hast dich rechtzeitig klein gemacht? Schöne Scheiße, was?«
»Sicher.«
»Der Zusammenbruch. Wer hätte das gedacht? Wir hätten uns vorsehen sollen. Wir waren eben Idealisten. Ich kämpfe noch um meine Zulassung zum Weiterstudium, machen mir Schwierigkeiten, weil ich bei der SS war.« Er sprach mit gedämpftem Stolz. »Als ob es einen von uns gäbe, der nirgends dabei war. Du warst doch sicher auch in der Partei – oder?« Rothauch lächelte wie ein Fuchs.
»Nein.«
»Ist ja prima!« Das Lächeln in Rothauchs Gesicht wurde starr. »Dann könntest du mir ja für meine Entnazifizierung so einen Wisch ausstellen?«
»Vielleicht.«
»Tu nicht so, alter Junge.« Rothauch lachte gepreßt und klopfte ihm auf die Schulter. »Du wirst doch nicht auch so einer sein. Man kann seine Wunder erleben heute: stell dir vor, der Lessing ist da.« Er sprach flink, geschwätzig. »Kennst du doch noch: Felix Lessing, der Emigrant. Ist heute amerikanischer Captain in München.«
»Was sagst du da?« fragte Martin erregt.
»Ich traf ihn auf der Straße. Ist eine große Nummer bei der Militärregierung. Ein Wort von ihm, und ich wäre aus allem.«
»Felix Lessing?« fragte Martin noch einmal. Seine Backenmuskeln spannten sich.
»Natürlich. Ach, du warst ja immer befreundet mit ihm – aber bilde dir nichts ein, der strotzt vor Arroganz. Weißt ja, wie diese Kerle sind, wenn sie Oberwasser haben.« Seine Schneidezähne grinsten gelb. »Hab’ sie auch schon anders gesehen, im Osten. Zuerst tat er so, als kenne er mich nicht, und dann ließ er mich durch seine Sekretärin ’rauswerfen. Ich sag’ dir, Leute kannst du kennenlernen heute. Dabei war ich noch neunzehnhundertdreiunddreißig auf seiner Geburtstagsfeier. Stelle dir vor, ich als HJ-Führer – bei einem …!«
Felix in Deutschland? begriff Martin langsam. Bei der Militärregierung? In München?
Er ließ den früheren Mitschüler auf der Straße stehen.
Der Mann sah ihm mit giftigem Blick nach.
Auch so ein Schwein, sagten seine Augen.