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IX

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Das junge Mädchen lag neben dem Mann, nackt und zufrieden. Eine kleine Melodie schwebte im Raum, weich, zärtlich. Auf dem niederen Glastisch flackerte die erschöpfte Kerze. Wenn der Wind mit der bunten Seidengardine spielte, strich rötlicher Schein über die gebräunte Haut Susannes, der den jugendlichen Körper verschattete und seine Formen konturierte.

Es roch nach Wachs, nach Rauch, nach Liebe. Der Mann beugte sich vor, um Susanne zu betrachten. In der letzten Stunde hatte sie ihm viele Gesichter gezeigt, aber ihre Augen waren immer bei ihm geblieben und glänzten bei Kerzenlicht wie Smaragde im Mondschein.

Felix Lessing griff nach der Flasche neben der Couch. Er hob sie vom Boden, trank den Whisky pur, lauwarm, ohne ein Glas zu benutzen. Gleichzeitig suchte er am Boden nach Zigaretten. In der Flamme des Feuerzeuges sah er wieder Susannes Gesicht. Es war klar, frisch. Die ovale Stirn wirkte klug. Der Mund war sparsam und unbeschrieben, das Kinn fest, doch nicht unweiblich.

»Hast du etwas gesagt?« fragte sie leise.

»Nein. Wolltest du etwas von mir hören?«

»Nein.« Er lachte, nahm die brennende Zigarette aus dem Mund und steckte sie ihr zwischen die Lippen. In der aufleuchtenden Glut sah sie sein Gesicht.

Felix war ein Mann, der Frauen gefiel. Er hatte alles, was im März 1947 zu einem homme à femme nötig war: ein gutes Gesicht, lässige Bewegungen, sichere Eleganz, Witz und Verve; dazu ein eigenes Haus mit friedensmäßiger Küche. Er gehörte als Offizier der amerikanischen Armee einer Siegernation an und war zudem ein wichtiger Mann der Militärregierung.

Susanne richtete sich auf, stützte sich auf beide Ellenbogen, wandte Felix ihr Gesicht zu. Ihre langen Haare fielen nach vorn über die kindlichen Schultern bis zum Ansatz der Brust. Sie betrachtete ihn, als sehe sie ihn seit diesem Abend anders.

Ihr gefiel sein Gesicht, das kühl und geschlossen war in seiner Zerrissenheit: eine Einheit des Zwiespalts. Es war ein Gesicht, das seinen Ausdruck jäh wechseln konnte, von einer Sekunde zur anderen.

Zuerst war ihr seine breite, ausladende Stirn aufgefallen: eine Mauer, hinter der sich der Fluß staute: klares Wasser, trübes Wasser, frisches Wasser, fauliges Wasser, Gewässer.

Er spürte, daß sie ihn beobachtete, und er mochte es nicht. Er war ungehalten, weil ihm dieses natürliche Mädchen soviel gegeben hatte. Er war schließlich nicht nach Deutschland gekommen, um Gefühle zu erfüllen oder sein Glück zu suchen.

Felix Lessing hatte es schwer mit seinem Haß, für und von dem er jahrelang gelebt hatte.

Er beschwor immer wieder das Bild des Vaters und versuchte, alle Deutschen für den Tod des alten Kommerzienrates verantwortlich zu machen.

Als er merkte, daß ihm das Land, das er verachtete, immer näher kam, durchlitt er alle Höllen und Tiefen der Haß-Liebe. Die erste scheue Annäherung an seine alte Heimat rüttelte an dem Zerrbild, in das er sich in langen Jahren hineingesteigert hatte. Ein Kind, das ihn anlächelte: Kannst du in jeder Illustrierten sehen, dachte er. Eine an Hungerödemen leidende Greisin, die mit ihren kärglichen Lebensmitteln herrenlose Hunde und Katzen fütterte: Nicht selten ist Tierliebe ein Ausdruck der Menschenverachtung, und Hysteriker gibt es überall, meinte er. Der alte Organist, der sich nach dem Einmarsch der Alliierten mit verklärtem Gesicht und gichtigen Händen an die Orgel der kleinen Dorfkirche setzte und befreit das Tedeum spielte: Kannst du in jedem dritten Kriegsfilm sehen, überlegte er. Junge Soldaten, die freudig in die Gefangenschaft gingen, weil sie zugleich das Ende des braunen Staates bedeutete: Sie leben auch lieber hinter Stacheldraht, als auf den Schlachtfeldern zu sterben, sagte er sich.

So lag Felix im ständigen Zwiespalt mit sich selbst; er sah Würde in Lumpen und traf Feinheit unter dem Schutt, und er rang um seinen Haß und merkte, daß er schrumpfte.

Er spürte, daß eines Tages sein Anstand und seine Intelligenz das Zerrbild endgültig zerreißen würden, und so beschwor er, um es zu verhindern, die anderen Bilder, zwang sich wieder, Skelette von Bergen-Belsen, die Vergasten von Auschwitz und die Gehängten von Buchenwald zu sehen, krallte sich an diese Visionen des Grauens wie ein Ertrinkender an den Balken und kämpfte noch weiter gegen sich, als er merkte, daß sich der Balken drehte.

Schließlich begann der junge Captain Felix Lessing, nur noch in wirklichen Tätern die Mörder zu sehen; er eilte der Politik der Siegermächte weit voraus, weit hinweg von ihrer These der Kollektivschuld, als er sich überwand, nicht mehr pauschal zu verurteilen, sondern individuell zu richten – wie den alten Ritt.

»Bist du fertig?« fragte Felix schroff, weil ihn Susanne immer noch ansah.

»Fertig?«

»Mit deiner Vivisektion.«

»Wieso?«

»Du starrst mich so an«, sagte er.

»Warum sollte ich nicht? Ich schaue dich gern an, Felix.«

Die Worte klangen gut, und es brachte ihn wieder gegen sich selbst auf. Seine Lippen lagen flach aufeinander wie Scharniere. Wie meistens wollte er sich lieber den Mund verschließen als sich etwas vergeben.

»Vielleicht verstehst du das nicht«, erklärte er, »ich will nicht im Schaufenster liegen. Ich möchte mich nicht bestaunen, betasten, kaufen und umtauschen lassen. Ich bin keine Ware. Ich bin …«

»… eine Mimose. Nicht böse sein«, unterbrach sie ihn und küßte seine Hand.

Er wandte das Gesicht ab. »You are my sunshine …«, sang eine hellblonde Stimme im Radio. Susanne folgte seinem Blick, stand auf, drehte die Musik ab. Sie ging mit weichen Schritten. Sie war schlank und groß, verspielt und arglos; auf ihrer kupferfarbenen Haut war der Sommer geblieben, ein langer heißer, sonniger Sommer, auf den Felix eifersüchtig war, weil er an ihm nicht teilgenommen hatte.

Sie blieb stehen, beugte sich über den Glastisch und wechselte die Kerze aus. Das Lächeln auf ihrem Gesicht war bei seinen letzen Worten eingeschlafen. Sie hatte begriffen, daß er sich zwang, nicht sentimental zu werden. Vielleicht hat er recht, dachte sie, Worte sind banal geworden. Aber müssen es deswegen auch Gefühle sein?

Sie wußte keine Antwort. Sie war gerade erst zwanzig geworden.

Felix griff wieder nach der Flasche. Er trank ständig.

»Warum eigentlich?« fragte Susanne.

»Weil es mir schmeckt.«

»Nein«, widersprach das Mädchen. »Du belügst dich. Du schüttest den Whisky hinunter wie Wasser in das Feuer. Du möchtest das Feuer auslöschen.« Sie nickte und sah ihn voll an. »Felix, was möchtest du vergessen?«

»Kluges Kind.« Er wich ihr mit Spott aus. »Männer sind keine Frauen – Frauen haben ihre Tränen – Männer nehmen Schnaps.«

»Wenn ich dich recht verstehe, Felix, dann sollte ich jetzt wohl weinen.«

»War auch schon dagewesen.«

Bevor seine Worte sie verletzen konnten, zog er sie an sich, küßte sie zärtlich, während seine Augen ihren Körper streichelten.

»Du bist schön«, sagte er.

»Du wirst galant«, erwiderte sie.

Sie lagen nebeneinander. So oft sich ihre Haut berührte, setzte ein Körper den anderen in Flammen, während das Kerzenlicht Worte, die nicht gesagt wurden, feierlich machte.

Das Telefon rief sie aus den Wolken zurück. Es läutete gedämpft. Felix, der es verabscheute, hatte über den Apparat ein Kissen gelegt. Das Gerät stand in der Ecke wie eine Teekanne unter der Haube.

Verdrossen machte er sich frei, hob den Hörer ab, meldete sich.

Sie verstand die Worte nicht, aber sie merkte, wie betroffen er war.

»Du, Jack?« fragte er. »Jetzt?« Bei den nächsten unverständlichen Worten zogen sich seine Gesichtsmuskeln zusammen wie im Krampf. »Morgen! Okay«, sagte er schließlich, »thank you.«

Er legte den Hörer langsam auf und sah zum Fenster hinaus, um sein Gesicht zu ordnen, bevor es Susanne sah.

»Etwas Schlimmes?« fragte sie.

»Nein.«

»Du möchtest nicht darüber sprechen?«

»Wirklich nicht.« Er ging wieder auf die Flasche zu. »Ich muß weg«, sagte er.

»Jetzt?«

»Ja. In dieses verdammte Gefängnis. Nach Landsberg.«

Sie dachte an die Nebel, die vom Ammersee aufstiegen, an den Alkohol, den er getrunken hatte, an die vielen Bäume am Straßenrand.

Nach einer halben Stunde begann er zu sprechen; entgegen seiner Art umständlich. Er sagte, daß sein Vertreter angerufen und seit Stunden versucht hätte, ihn zu erreichen. Im Office sei für ihn eine Nachricht hinterlassen worden, daß der Verurteilte, den er noch sprechen wollte, morgen früh hingerichtet würde. »Und mit Toten«, schloß Felix, »kann man sich nicht unterhalten.«

»Ein Bekannter?«

»Ja.«

»Und du hast – das – nicht verhindern können?«

»Im Gegenteil«, versetzte er brutal, »ich habe das Urteil herbeigeführt. Ich bin Tausende von Kilometern gefahren, habe Lager um Lager untersucht. Ich habe Zeugen gekauft und bestochen. Ich habe den Mann an den Galgen gebracht.«

»Und jetzt?«

»Jetzt«, sagte er mit zu hoher Stimme, »jetzt muß ich diesem Kerl nur noch klarmachen, warum er stirbt. Ich will nicht, daß dieser Gefangene umkommt bei einem Verkehrsunfall. Er soll wissen, weswegen er hängt!«

Die Bäume trugen schon Knospen, man sah sie nicht im Vorbeifahren; die Äste wirkten kahl, leer, trostlos, und sie schienen mit knochigen Armen, um die sich dicke Nebelschwaden wie schmutzige Leichentücher wickelten, nach dem klapprigen Ford zu greifen, der zaghaft über die nächtliche Straße rollte.

Vor dem Ortseingang blieb er stehen; die Scheinwerfer hatten sich endgültig in der Nacht verloren. Felix stieg fluchend aus, suchte die Straße.

»Wir sind da«, rief er vom Wegrand.

Susanne erschrak, weil seine Stimme fremd klang, wie vom Wind verzerrt; die Haut in seinem Gesicht sah aus wie gesprungenes Eis.

Felix starrte nach vorn, wie auf der ganzen Fahrt; sein Gesicht brütete im Dunkel des Wagens, dessen Heizung abgestellt war. Er spürte den Blick des Mädchens auf seinem Gesicht. Die Reifen polterten auf dem schlechten, nassen Pflaster. Die Gebäude gähnten. Der Wagen fuhr eine lange Schleife aus und dann auf den idyllischen Marktplatz zu, dessen Häuser Wand an Wand standen, als wärmten sie sich aneinander.

Der Wagen hielt, Felix stieg aus; Susanne folgte ihm fröstelnd zum Eingang, der finster war, verdunkelt wie im Krieg. Sie gingen einem spärlichen Lichtschein nach und traten in ein Nebenzimmer.

»Ich komme gleich wieder – es geht ganz schnell«, sagte Felix. Er drehte sich noch einmal um. »Bis gleich.«

Ein müder Kellner begrüßte Susanne mißmutig, betrachtete ihr Gesicht, lächelte unschlüssig. »Wie lange haben Sie auf?« fragte sie.

»Die ganze Nacht«, erwiderte der Mann; seine Stimme dämpfend, deutete er auf einen Tisch mit mehreren Frauen in der Ecke, die still waren und alt und grau dasaßen, vom Leben verbraucht. »Wegen ihnen«, sagte der Kellner. »Unsere Zimmer sind besetzt – wir müssen den Raum offenhalten für sie.« Er sah, daß Susanne die Andeutungen nicht verstand, und ergänzte mit blassem, unsicherem Lächeln: »Ihre Männer werden doch morgen früh – gehängt …«

Susanne verstand, erschrak; sie ließ sich eine Zeitung bringen und versteckte ihr Gesicht. Ihre Hände wurden müde, aber sie wagte nicht, das Blatt sinken zu lassen; sie wollte den Augen dieser Frauen nicht begegnen.

Sie wirkten wie die Besucher vor den Operationssälen, die in ihrer Not jeden, der über den Gang kommt, ansprechen und nach dem Zustand des Patienten fragen. Sie hatten vor ein paar Stunden von ihren Männern Abschied genommen, grausamen endgültigen Abschied; seitdem sahen sie auf die Uhr, froren dabei, dachten an die Operation, hofften, daß sie ausfiele, obwohl sie wußten, daß sie morgen früh stattfinden müßte.

Viele von ihnen hatten seit Jahren geahnt, daß dieser Morgen einmal kommen würde. Nicht wenigen von ihnen war von den Männern in der Rotjacke vieles angetan worden, aber sie hatten es vergessen, weil sie Mütter waren und Kinder hatten: Kinder, deren Väter morgen früh gehängt wurden.

Sie starrten die Reporter an, die gelegentlich, leise auftretend, in den Raum kamen, als erwarteten sie von ihnen Hilfe, obwohl diese Zeitungsleute von der Militärregierung als Zeugen der Hinrichtung geladen waren, ein befehlender Wunsch, dem sie nachkamen; einige von ihnen taten es nicht zuletzt, weil er mit Schinkenbrötchen und Bohnenkaffee honoriert wurde.

Felix hatte sich auf dem Weg zum Gefängnis verfahren; endlich löste sich das mehrflügelige Gebäude aus den Nebeln. Posten in dunklen Uniformen tauchten auf, sprachen miteinander und verloren sich wieder am schwarzgelben Horizont.

In den Zellen brannte kein Licht; die Herberge des Todes lag im Dunkel: mehr als tausend Zellen waren belegt; morgen würden zweiundvierzig frei.

Felix stellte den Wagen im Hof ab und betrat das Verwaltungsgebäude. Die polnischen Posten wollten ihn aufhalten, erkannten ihn dann als US-Offizier und grüßten.

Der Kommandant des Kriegsverbrechergefängnisses war noch in seinem Büro, obwohl er längst im Bett sein sollte; er konnte nicht schlafen in solchen Nächten und hatte sich schon ein paarmal von Landsberg weggemeldet.

Er riß die Fenster auf, durch die sich die Nacht in das Haus drängte. Er fror und schwitzte, seine Hand fuhr an den Hals, um die krawatte zu lockern, bis er bemerkte, daß sein Hemd schon offenstand. Er legte das Buch beiseite und polierte seine Fingernägel. Zwischendurch versuchte er, einen Brief an seine Frau nach Philadelphia zu schreiben; er zerriß ihn in kleine Schnipsel.

Der Kommandant hörte Stimmen, ging in sein Vorzimmer, erkannte Felix. »Sie kommen spät«, sagte er.

»Sorry – ich habe es erst vor einer Stunde erfahren, daß …«

»Wir bekommen selbst erst am Abend die Hinrichtungsliste aus Berlin«, entgegnete der Major dumpf. »Ich lasse Ihren Mann in das Besuchszimmer holen.« Felix folgte einem massigen Sergeanten, der ihn mit Neuigkeiten über die Rotjacken unterhalten wollte; der junge Captain hörte nicht zu. Er zwang sich, seinen Vater zu sehen, auf dessen Gesicht sich der Flammenschein der Synagoge spiegelte, zu sehen, wie der Mörder auf den Kommerzienrat zuging, die Hand hob, zu sehen, wie ihn die Männer in den Braunhemden zertraten.

Auch der Todeskandidat Friedrich Wilhelm Ritt hob jetzt die Hand; sie war gefesselt. Der Posten schloß sie auf und zog sich zurück. Der Mann ging wie gezogen; seine Beine schleiften am Boden, während er langsam den Kopf dem Besucher zuwandte. In seinem Gesicht zitterte Hoffnung, lauernd, bang. An seiner Rotjacke hing die Todesangst wie ein übler Geruch.

Er erkannte den jungen Captain; sein Blick wurde starr; seine Hoffnung riß wie die Sehne eines überspannten Bogens.

»Sie?« fragte Ritt. »Ihnen verdanke ich das also?«

»Erfaßt«, entgegnete Felix Lessing ruhig. Er hatte auf diesen Tag lange gewartet; jetzt wunderte er sich, wie wenig er spürte.

»Ich habe die Sache mit den abgeschossenen Fliegern niemals …«

»Das weiß ich«, unterbrach ihn Felix ruhig. Er zündete sich eine Zigarette an. Die Flamme zitterte.

»Sie wissen das?« fragte Ritt.

»Noch viel mehr«, antwortete der junge Captain. »Ich weiß auch, was mit meinem Vater geschah – und mit Martin, Ihrem Sohn. Ich weiß auch, daß er noch leben würde, wenn Sie …«

»Martin?« stieß der alte Mann mit Kinderstimme hervor. Er sah zur Decke, als müsse er überlegen, wem der Namen galt.

»Auch daran sind Sie schuld«, sagte Felix scharf.

Der Mann in der Rotjacke dachte nach. Langsam. In seinem fahlen Gesicht gärte es.

»Dann wäre das morgen …«

»… ein Justizmord«, unterbrach ihn Felix.

»Das sagen … Sie?«

»Ich habe die Zeugen erpreßt«, sagte Felix, »und bestochen.« Der Schall rauschte wie Hochwasser im Raum.

»Und warum sind Sie jetzt hier?« fragte der Gefangene nach langer Pause.

»Um Ihnen das zu sagen.«

»Macht es Ihnen Freude?« fragte der Alte.

»Wäre ich sonst gekommen?« versetzte Felix. »Lassen wir das«, versuchte er, die Worte, vor denen ihm schlecht wurde, wieder einzuholen. »Ich will Ihnen nur beibringen, daß Sie trotz des Fehlurteils zu Recht sterben. Verstehen Sie mich, Ritt? Ein Justizmord – und doch Gerechtigkeit.«

Der Alte stand da, als habe er den Besucher vergessen.

Er versuchte, etwas zu erfassen, das er sein Leben lang nicht empfunden hatte. Niemals hätte er sich mit dem Urteil abfinden können – und jetzt begriff er leise, dunkel, daß es gerecht war – wenn auch falsch begründet.

Felix wußte nichts von den Regungen des Mannes in der Todesjacke; er sah, daß dieser gefaßt wirkte, wollte darüber zornig werden – und spürte, wie ihn der Haß verließ.

»Gut«, sagte der Mann, dem nur noch ein paar Stunden Zeit zum Leben blieben, »ich bin schuld am Tod Ihres Vaters.« Er sprach jetzt, als deklamiere er einen auswendig gelernten Text: »Ich bin vielleicht auch mitschuldig am Tod Martins.« Er schwieg, wie erschöpft von einer Regung des Gewissens, das lange Jahre verschüttet war.

»Und damit, meinen Sie«, sagte Felix halblaut, »könnten wir den Fall abschließen und wären quitt.«

Der alte Ritt hob langsam den Kopf. Sein Blick tastete sich an der Wand entlang zu dem Besucher hin.

»Heute noch nicht«, entgegnete der Gefangenen, »aber – vielleicht morgen …«

Felix kostete die Bitternis eines Sieges, der ihm gestohlen wurde; an seinem versteinerten Haß hing das Mitleid wie ein Bleigewicht.

»Es war schlimm, was mir alles zugestoßen ist«, sagte der Mann mit der toten Stimme, »aber vielleicht – vielleicht habe ich Ihnen jetzt sogar – zu danken …«

Felix atmete schwer. Er spürte, daß der Mann wuchs – während er zu schrumpfen schien. Es fiel ihm schwer, weiterhin sein Opfer anzusehen, dessen Gesicht schon still wie ein Friedhof wirkte, mit leblosen Zügen.

»Okay«, sagte Felix und winkte den Posten herbei, der während des Gesprächs mit stupider Miene auf einem Stuhl gesessen hatte und jetzt mit den Schlüsseln und Handschellen wieder zu dem Mann in der Rotjacke trat.

Jetzt, dachte Felix. Er stand und schwankte, hoffte und verzagte, wehrte sich und wartete: auf einen Bestechungsversuch, auf Erniedrigung, auf einen Ausbruch des Zorns.

Der Alte machte es ihm schwer. Er streckte seinem Bewacher die Arme entgegen wie ein Kind, das der Mutter beweisen will, daß es sich vor Tisch die Hände gewaschen hat.

Die Handschellen klickten ein.

Wenn Ritt jetzt etwas sagen würde, überlegte Felix, wenn er mich jetzt um Verzeihung bäte, wenigstens für Martin, wenn er jetzt ein rechtes Wort fände, eine gute Geste zeigte, dann würde ich umfallen, neun oder zehn Stunden vor seinem Ende, und müßte ich den Strick selbst durchschneiden.

Felix beugte sich vor, erschrocken und gespannt.

Friedrich Wilhelm Ritt nickte. Ohne den Sohn seines Opfers noch einmal anzuschauen, folgte er willig und gebeugt dem Posten. Der junge Captain starrte ihm noch nach, als er schon gegangen war und sich die Falltür dieses Lebens bereits geschlossen hatte.

Felix fuhr los, ohne sich von dem Kommandanten zu verabschieden. Er fürchtete die Leere des Raums, den der Haß gefüllt hatte. Er hatte Ritt vernichten müssen, um das Bild der brennenden Synagoge loszuwerden. Aber er fürchtete, daß ihn nun eine andere Vision verfolgen würde: der Mann mit dem Friedhofsgesicht, der morgen früh die dreizehn Stufen des Blutgerüstes hinaufsteigen mußte.

Der Captain parkte den Wagen vor dem Hotel und fand Susanne in dem Nebenzimmer. Sie hatte den Kopf auf die Arme gestützt, auf ihrem Gesicht lag eine Zeitung. Er zog sie vorsichtig weg. Susanne erschrak, dann sagte sie leise, zu den stillen Frauen schauend, die in ein paar Stunden Witwen sein würden:

»Ich kann das nicht sehen. Ich will nicht hier bleiben. Keine Stunde. Können wir nicht weg?«

»Sofort«, entgegnete Felix.

Sie fuhren ab. Jetzt war er froh, daß sie bei ihm geblieben war. Er wollte nicht allein sein in dieser Nacht. Er spürte, daß er sich betrinken mußte. Wie immer würde der Schnaps alles schlimmer machen, steigern, verzerren, enthüllen.

Susannes Hand lag auf seinem Arm.

»Es war – schlimm?« fragte sie behutsam.

Er schwieg. Seine Lippen lagen so fest aufeinander, daß sie schmal wurden, gerade. »Susanne«, fragte er später, »bleibst du heute bei mir?«

»Wenn du willst?«

»Und deine Eltern?«

»Trotzdem.«

»Danke«, sagte Felix. Es klang, als schäme er sich.

Die wilden Jahre

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