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VIII
ОглавлениеDas berüchtigte KZ Dachau wurde zum Umschlagplatz der braunen Schuld. Die Baracken um das Krematorium, die sich wie häßliche Warzen im Gesicht der Landschaft ausnahmen, vor kurzem noch Unterkünfte gequälter Häftlinge, waren jetzt bereits Veteranen im Dienst alliierter Gerechtigkeit.
Täglich wurde in einem Dutzend Holzbuden über Hunderte von Verbrechen befunden. Die Richter waren wie Ärzte, die während des Andrangs bei der Unfallambulanz gezwungen sind, gleichzeitig an mehreren Tischen zu operieren.
Friedrich Wilhelm Ritt saß in Einzelhaft und hielt Schattenplädoyers gegen eine Anklage, die er erwartete. Der Jurist in ihm wurde mit der sülzartigen Trance fertig, die sein Bewußtsein überzogen hatte. Wer sollte jetzt, nach so vielen Jahren, noch feststellen, welcher Stoß oder welcher Stich den Tod des alten Lessing verschuldet hatte? Nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, dachte der alte Ritt, kann man mich nicht hängen, sondern höchstens wegen Beihilfe zum Totschlag verurteilen. »Hohes Gericht«, murmelte er in das Halbdunkel der Zelle, aber es antwortete ihm immer nur die eigene Stimme, »Hohes Gericht …«
Man trennte Ritt von Angeklagten und Zeugen. Er hoffte, daß die Kameraden der Kristallnacht herangekarrt wurden, denn er rechnete sich aus, daß die Schuld des einzelnen kleiner würde, wenn sich mehrere Täter in sie teilten. Seltsam, wie lässig die Amerikaner die Voruntersuchung betreiben, dachte er, weder wurde er anderen Zeugen gegenübergestellt noch überhaupt vernommen. Auch der junge Lessing ließ sich nicht mehr sehen.
Ein US-Captain, der nichts mit der Rechtssprechung zu tun hatte, aber als unnachsichtiger Ankläger auftrat, besuchte im Internierungslager einen Zeugen.
»Hören Sie gut zu, Silbermann«, begann Captain Lessing, »es handelt sich um Ihren Freund Ritt.«
Silbermanns Kiefer mahlten stumm. Seine Blicke wanderten im Raum, blieben am Fenster hängen.
»Mein Vater war – Deutscher. Die Alliierten verfolgen keine Verbrechen, die an Deutschen begangen wurden. Eine deutsche Justiz gibt es jetzt und lange noch nicht – und wenn es sie eines Tages wieder geben sollte, weiß ich nicht, wie sie aussehen wird. Ich könnte Ritt an Polen oder Rußland ausliefern lassen, aber ich will meine eigene Strafe …« Felix betrachtete seine Fingernägel. »Sie, Silbermann, haben Ihre Frontbewährung bei einem Einsatzkommando im Osten abgelegt, Sie haben mitgeholfen, Tausende jüdischer Verdammter in den Tod zu jagen«, wieder betrachtete er seine Fingernägel, »und ein paar haben Sie auch laufenlassen.« Er sah, daß Silbermann sprechen wollte, und schnauzte: »Ich rede, nicht Sie. Ich rechne Ihnen das nicht an – Sie haben es auf eigene Rechnung getan. Sie haben ein Geschäft getätigt, gut. Ich schlage Ihnen einen neuerlichen Handel vor.«
Er drehte sich um, als könnte er den Anblick des Internierten nicht länger ertragen.
»Sie kennen Ritt – Sie wissen, was der Mann auf dem Gewissen hat. Liefern Sie mir einen Grund – ein Verbrechen, verübt an westlichen Alliierten –, wenn Sie das besorgen – verstehen Sie mich?«
»Ja«, antwortete Silbermann. Es war fast nicht zu hören. Seine Zunge fuhr über die Lippen. Sein eingefallener Birnenkopf schwoll vor Angst und Erregung.
»Sie werden mir einen Grund liefern – einen Grund, den ich nicht weiter untersuchen werde. Erledigen Sie das nicht, und zwar umgehend – dann werde ich Ihre Frontbewährung näher durchleuchten lassen …«
»Wenn ich etwas finde …« Die Angst zersetzte Silbermanns Gesicht, seine Lippen zitterten, »werden Sie dann nichts mehr gegen mich unternehmen?«
»Nichts«, antwortete Felix.
»Und wenn Sie dieses Versprechen nicht halten …?«
»Dann haben Sie Pech gehabt«, erwiderte Felix; er verließ den Raum ohne ein weiteres Wort.
Nach einigen Wochen steckte man Friedrich Wilhelm Ritt in eine der Gruppen, die jeweils die Reihen der Anklagebänke füllten. Er erhielt eine Nummer, und er erfuhr, daß er wegen der Ermordung zweier farbiger US-Flieger belangt würde.
Er verstand die Anklage nicht, und es war sein Irrtum, daß er sie für ein Versehen hielt. Selbst als ihn sein Anwalt besuchte, der mit geübtem Lächeln, raschem Händedruck und behenden Worten dem Angeklagten klarmachen wollte, welches Urteil ihm drohte, glaubte er, daß sich das Verhängnis während der Verhandlung wie ein Spuk auflösen würde.
Es gab viele Dinge aus dem braunen Jahrzwölft, die man ihm vorhalten konnte, aber hier fühlte er sich unschuldig. Bei diesem Verbrechen hatte er in seinem Büro gesessen und betroffen verfolgt, wie zwei alliierte Soldaten vom Werkpöbel gelyncht wurden. Er war entsetzt gewesen, wenn er öffentlich auch ganz anders gesprochen hatte.
Am Tag der Verhandlung trugen die MP-Soldaten Silberhelme und weiße Koppel. Der Ernst in ihren gesunden Gesichtern war aufgesetzt wie eine Brille; wenn niemand zu diesen martialisch kostümierten Burschen hinsah, gähnten sie, denn dieser Wartesaal in die Ewigkeit langweilte sie längst.
Friedrich Wilhelm Ritt betrat als vierter von links die Verhandlungsbaracke; er hatte die Nummer acht und saß unter Bauern, Arbeitern und kleinen Bürgern, die man alle des gleichen Verbrechens anklagte, verübt an verschiedenen Orten: der Ermordung alliierter Flieger.
Sein Blick tastete sich vorsichtig durch den Raum, streifte ein paar Reporter. Er bedauerte sie fast, weil sie wegen Papiermangels nicht viel schreiben konnten und, was ihn betraf, vergeblich erschienen waren. Sein Blick blieb auf der Holzbalustrade des Angeklagtenpferches hängen. Er las eingeritzte Namen, sah eine zotige Zeichnung, unter der mit dem Messer eingeschnitzt war: Heil Hitler.
Er erhob sich beflissen, als er aufgerufen wurde. Zunächst erschienen drei frühere Betriebsfunktionäre, die mit verschiedenen Worten das gleiche aussagten: daß Friedrich Wilhelm Ritt, Inhaber der gleichnamigen Werke, vormals Lessing & Kahn, die alleinige Schuld am Tod der beiden Amerikaner trage.
Der Angeklagte begriff es nicht. Dann soufflierte ihm der Zorn. Irgendein Drahtzieher mußte im Hintergrund eine Intrige geknüpft haben.
Dann war Ritt erleichtert, als er Silbermann sah. Der frühere Mitkämpfer nannte seine Personalien, gab als Beruf Kaufmann an und sagte aus, am Tag der Untat im Auftrag des Gauleiters den Betriebsführer Friedrich Wilhelm Ritt auf seinem Werksgelände besucht zu haben.
Silbermann nahm die stramme Haltung ein, die aus der Mode war. Dann sprach er klar und ungeheuerlich, denn er bestätigte, oft über die Aussagen der ersten drei Belastungszeugen hinausgehend, die Darstellung des Anklägers.
Der Angeklagte stand da wie ein vom Blitz getroffener Baum. Seine vom Körper weit weggestreckten Arme sahen aus wie eben abgesplitterte Äste.
»Er lügt!« schrie er in den Saal. »Es ist kein Wort wahr!« Er lügt, um seinen Kopf aus der …«
Zunächst wurde der Angeklagte Ritt verwarnt.
Sein Verteidiger redete beruhigend auf ihn ein, obwohl auch er überrascht war. Da der Zeuge erst heute von der Anklage benannt worden war, kam seine Aussage auch für den Rechtsanwalt überraschend.
»Ruhig bleiben«, zischte er seinem Mandanten zu.
Doch Friedrich Wilhelm Ritt riß sich los, hastete nach vorn, an den Richtertisch heran. Einer der bulligen MPs wollte ihn zurückreißen, aber der Richter mit den weißen Haaren in der Mitte des Podiums winkte dem Mann ab.
»Herr Oberst«, beteuerte Ritt weinerlich, mit einer Stimme, die sich wie eine Schraube in den Windungen nach oben drehte, »das ist eine Lüge, eine Verschwörung! Ich bin unschuldig, un-schul-dig!«
Er redete gegen eine Wand, von der nur sein eigenes Echo zurückkam, er ging auf Silbermann los, mit beschwörenden, bestechenden Worten:
»Du bist verrückt – überleg dir das, Egon, es kann doch nur ein Irrtum sein! Bleib bei der Wahrheit! Laß dich doch nicht verrückt machen! Du weißt doch – du bist doch erst am Abend gekommen, damals – und ich war in meinem Büro – ich bin überhaupt erst auf das Außengelände gekommen, als schon alles vorbei und vorüber war –.« Ritt betrachtete den Kumpan ängstlich, flehend. »Sag doch etwas! Ich bin …«
Er griff Silbermann am Arm, zog ihn zu sich hin. »Un-schul-dig!« Die Panik skandierte das Wort zu Silben.
Jetzt erfaßte der Angeklagte den ganzen Hinterhalt. Gleichzeitig verlor er die letzte Beherrschung.
»Wenn du weiterlügst, mach ich dich fertig!« schrie er den früheren Hoheitsträger an, dessen Lippen starr und hart aufeinanderlagen.
Der alte Mitkämpfer war auf die Szene vorbereitet, deshalb machte er vor den Richtern, die Recht vom Fließband zu sprechen hatten, die bessere Figur, trotz seiner unsteten Augen, die wie Insekten waren, bereit, beim ersten Widerstand aufzufliegen: gejagte Insekten, Mücken, die sich auf alles setzen müssen, Stechmücken.
»Ich bring die Sache mit den Juden aufs Tapet!« heulte Friedrich Wilhelm Ritt in den Raum. Dann klang seine Stimme wie gewürgt: »Die Transporte nach dem Osten – nach …«
»Stop it now«, sagte der Richter barsch und schlug mit dem Holzhammer auf den Tisch. »You still stand to your statement, Mister Silbermann?« fragte er.
»Bleiben Sie bei Ihrer Aussage, Herr Silbermann?« übersetzte der Dolmetscher.
»Selbstverständlich«, antwortete der alte Pg.
»Du Schwein! Du …« Ritts Stimme überschlug sich.
Er breitete die Hände aus wie Greifzangen, sprang auf den Zeugen los, um auf ihn einzuschlagen.
Da traf ihn der Gummiknüppel des MP; er wurde auf die Anklagebank zurückgerissen.
Ritt weinte und tobte, bis er zusammenbrach. Er benannte andere Zeugen, aber die Richter waren längst beim nächsten Angeklagten, einem Bauern aus dem Fränkischen, der einen amerikanischen Leutnant mit der Mistgabel erstochen hatte. Die Schilderung dieser Tat nahm ihnen die Lust, sich mit den inkriminierten Krauts länger aufzuhalten, als ihnen nötig schien.
Am Abend verkündete der Vorsitzende das Urteil. Der Angeklagte Ritt sah ihm auf die Lippen, betrachtete den Mann beschwörend, der trotz seiner olivgrünen Uniform wie ein Zivilist wirkte.
»Death by hanging«, sagte er.
Das gibt es nicht, dachte der alte Ritt. Mit fliehendem Bewußtsein sagte er sich immer wieder, sinnlos und heiß: das gibt es nicht, keiner wird mehr gehängt, das ist doch Barbarei, das ist Mittelalter, das haben wir doch abgeschafft; wir leben doch in der Zivilisation; wir beide wurden doch geboren, getauft, geimpft; wir lernten Lesen und Schreiben, lebten und liebten, du drüben, ich hüben; wir hatten doch Erfolg und glaubten an unser Zeitalter; wir sind beide froh, diese Unmenschlichkeiten überstanden zu haben. Wer wird denn jetzt noch aufhängen, wird bei Hitler in die Schule gehen …?
Als man Friedrich Wilhelm Ritt in die Festung Landsberg schaffte, aus der das Kriegsverbrechergefängnis geworden war, merkte er, daß sein Leben zu Ende ging. Er wehrte sich gegen die Militärposten. Drei kräftige Burschen waren nötig, das menschliche Wrack einzuladen. Ritt saß zum letztenmal in einem Wagen, der nur eine kurze Strecke in die kleine Stadt rollte, an deren Rand der Galgen stand und der Henker wartete.
Es war Hanselmann, der Scharfrichter des Dritten Reiches; er diente den Amerikanern mit der nämlichen Disziplin wie den Nazis, aber seit man ihn aus dem Internierungslager geholt und wieder in sein Amt eingesetzt hatte, es zweimal in der Woche, Dienstag und Donnerstag in den Vormittagstunden, ab neun Uhr, pedantisch einzuhalten.
Der Mann mit dem düsteren Beruf und dem roten Gesicht – er sah im Cutaway mehr lächerlich als tödlich aus – köpfte nicht mehr, sondern hängte. Er hielt diese Art des Vollzugs für schmerzloser, was den Delinquenten betraf, und für umständlicher, was ihn anbelangte.
Als man Friedrich Wilhelm Ritt die blutrote Gabardinejacke überzog, die Uniform der Todeskandidaten – eine Tasche links, eine rechts, vier Kunststoffknöpfe in der Mitte –, schrie er wie ein Tier im Schlachthof; es half ihm genausowenig.
Er war noch nicht an der Reihe, kauerte in der ebenerdigen Zelle, was auf eine veraltete amerikanische Gefängnisvorschrift zurückging, fürchtete den hohlen Klang der Schritte auf dem Gang, aber noch mehr die plötzliche Stille, die dem Geräusch des Schlüsseldrehens vorausging, fürchtete den untersetzten, breitschultrigen Sergeanten, den die Häftlinge von Landsberg den Todesengel nannten.
In Hunderten von Zellen wurde hier das Strandgut des Krieges verwahrt: Namen, die Millionen kannten, neben Schicksalen, um die nur die Angehörigen wußten. Die Zellen waren gleich eng und hoch, ob sie Minister, Generäle, Diplomaten, Gauleiter, Industrielle oder Frauen bargen. Es gab keine großen Unterschiede. Nur nach der Wachablösung fragten die neuen Militärposten gelegentlich nach Prominenz und tauschten Zigaretten gegen Autogramme.
Friedrich Wilhelm Ritt hoffte, wartete, verzweifelte. Manchmal raste er mit den Fäusten gegen die Wand. Dann wieder ergab er sich still. Er war so schwach, daß er mitunter bei seinem Rundgang in der Zelle umfiel. Aber es würde ihm nichts helfen. Wer zu matt war für den Galgen, wurde getragen.
In Landsberg hatten die Reihengräber Nummern, keine Namen; sie lagen hinter dem Hauptgebäude, dazwischen gedieh das Unkraut.
Friedrich Wilhelm Ritt wartete Tage, Wochen, Monate: auf Gerüchte, auf die Post, auf die Wachablösung, auf das Essen, auf den Pfarrer, auf die Begnadigung, auf den Henker. Jetzt hätte er ausgiebig Gelegenheit gehabt, zu erfassen, was sein Sohn Martin in der Todeszelle durchlitten hatte, die auf ein Wort des Vaters aufgesperrt worden wäre. Aber das Grauen nahm ihm die Einsicht, den Schauder vor der letzten Zeremonie, der man den Mann in der Rotjacke an einem der ersten Aprilmorgen des Jahres 1947 unterzog.
»Bible, pictures, covers!« rief der massive Sergeant, genannt Todesengel, am Vorabend. »Bibel, Bilder, Decken!«
Du wirst gehängt, hieß das. Morgen. Heute nacht kommst du in den Keller, und morgen früh liegst du im Reihengrab.
Unten darfst du mit den anderen sprechen, hieß das, die morgen mit dir zum Galgen müssen. Jetzt erlebst du noch ein Konzert im Todessaal, man bringt dir Essen, das der amerikanische Steuerzahler bezahlt; alles, was dein Magen verträgt, außer Alkohol. Während die Musiker spielen, sind schon die Gräber ausgehoben.
Sie hielten ihm den Mund zu. Sein Herz machte nicht mehr mit. Sie gaben ihm eine Spritze. Der Wahnsinn streifte ihn, aber der Psychiater hatte ihm die volle Zurechnungsfähigkeit bestätigt; er kam in den Keller, den Vorraum des Galgens, und sein Leben zählte noch neun grausame Stunden.