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III
ОглавлениеDicke Schneeflocken wirbelten gegen die Fensterscheiben des Warschauer Feldgerichts, das an diesem lichtlosen Januartag 1944 über sieben Angeklagte zu befinden hatte.
Hauptmann Ritt war der zweite. Er betrat, von zwei Posten flankiert, den Raum, grüßte, während er zum Vorsitzenden, Kriegsgerichtsrat Dr. Schiele, geführt wurde, der ihm mit großen grünen Basedowaugen mehr unwillig als neugierig entgegensah.
Ein untersetzter Obergefreiter mit dickem rundem Kopf begegnete ihm; der Mann war, soeben verurteilt, mit fünf Jahren Wehrmachtsstrafe davongekommen und strahlte vor Glück. Dieses Glück sah so aus, daß er, zu einem Strafbataillon versetzt, bei halber Verpflegung, in vorderer Linie, und unbewaffnet dem Feind ausgesetzt, Stellungen und Gräben ausheben mußte; es war ein Todesurteil, das von den russischen Gewehren vollzogen werden würde.
Mir, dachte Martin, wird man schon Kugeln eigener Herkunft zubilligen. Er hatte einen klaren Befehl bewußt übertreten und sich in der Voruntersuchung auf keine Ausrede verstanden. Er hatte nicht das namenlose Schicksal eines Obergefreiten, den der Kriegsrichter noch einmal laufenließ – er war das Alibi eines Generals, der sich seinerseits wiederum gegenüber dem Oberkommando zu versichern hatte; auch in der Etappe hatte einer für den anderen einzustehen – wie vorn, nur anders.
Martin dachte daran, und auf seinen Lippen platzte der Spott.
»An Ihrer Stelle«, empfing ihn der Vorsitzende, »würde ich hier keine Grimassen schneiden – Sie haben nichts zu lachen, Ritt«.
»Jawohl, Herr Kriegsgerichtsrat«, antwortete Martin mit gleichmütiger Stimme.
Dr. Schiele sah ihn fest an.
»Sie sind das also«, sagte er, »Ihr Fall stand mir schon in der Voruntersuchung bis dahin«, er hob die Hand bis zum Kinn.
»Jawohl, Herr Kriegsgerichtsrat.«
»Sie verstehe ich überhaupt nicht«, fuhr Dr. Schiele fort, »Sie haben in Frankreich einen Panzerdurchbruch aufgefangen und sich das EK Eins geholt – beim Vormarsch auf Moskau waren Sie zum Ritterkreuz vorgeschlagen –, na ja, es reichte nicht ganz, aber immerhin erhielten Sie später doch das Deutsche Kreuz in Gold.« Der Vorsitzende hob den Kopf, betrachtete den Angeklagten. Seine hervorquellenden Augen wirkten wie grüne Glaskugeln. »Und dann laufen Sie einfach davon, ohne jeden Grund. Was ist los mit Ihnen, Ritt? Sie waren doch ein verdienter Soldat.« Die Glaskugeln schienen aufeinander zuzurollen.
Martin schwieg. Er wußte, daß es töricht war.
Eine Stunde vor der Verhandlung hatte ein Wärter ihm eine dampfende Hundeschüssel mit dem Frühstück und ein geöffnetes Amtsschreiben gebracht, frei durch Ablösung Reich. Es war eine Mitteilung des Landgerichts II in Frankfurt, daß seine Ehe mit Bettina Ritt, geborene Dahlberg, geschieden und das fast einjährige Kind Petra der Mutter zugesprochen worden sei und daß er die Alleinschuld trage.
Der Häftling in der Todeszelle schob Essen und Brief von sich weg, abgestumpft gegen beides; an das Essen hatte er sich gewöhnt und von Bettina nichts anderes erwartet.
Sie war eines jener Mädchen gewesen, die mit Blumensträußen und verlegenen Worten in die Krankenstuben der Soldaten entsandt wurden, damit die Landser wüßten, wofür sie kämpften.
Es war ein Mißverständnis der Zeit, denn die eben Kurierten wären lieber geschlossen in einen Soldatenpuff gezogen, als sich Gänseblümchen und Ringelreihen anzusehen. So standen sie hilflos herum und begegneten der vaterländischen Aufmerksamkeit mit scheuen Blicken, gedrechselten Worten und gutmütigem Spott.
Eine der Sängerinnen fiel Martin auf. Sie war älter als die anderen, hatte einen Pagenkopf mit glatten dunklen Haaren, ein auffallend blasses Gesicht mit vielen Sommersprossen und dazu eine unfrauliche Nase. Sie bewegte den Mund so eifrig, als singe sie immer eine Silbe mehr.
Dieses Mädchen, Bettina Dahlberg, wirkte apart, wenn auch nicht hübsch. Ihre Augen begegneten Martin. Später, als man im Lazarett zum heiteren Teil überging, saß sie neben ihm, und er erfuhr, daß sie Jura studiere und ihre Eltern in der Provinz wohnten, daß sie allein sei, sich aber nichts daraus mache. Die Art, in der sie über Männer sprach, in der sie ihre Selbständigkeit, den gleichen Rang der Geschlechter betonte, die heftige Beteuerung, sie habe das Jurastudium gewählt, um auch als Frau unabhängig zu bleiben, schienen ihm ein handfester Komplex zu sein.
Auf einmal faszinierte ihn, wohl weil er zuviel getrunken hatte, der Unsinn, daß dieses Mädchen, das in Lazaretten vor verwundeten Soldaten sang und Hefekuchen verteilte, die Männer pauschal verachtete.
Auch Bettina hatte getrunken. Ihre Worte wurden schneller, ihre Bewegungen hektischer. Als der Hauptmann einmal mechanisch nach ihrer Hand griff, stieß Bettina sie weg, als spüre sie Ekel, was ihn mehr belustigte als verärgerte.
Er stand auf und suchte ein anderes Mädchen, um aus dem Abend vielleicht doch noch etwas zu machen, aber Bettina folgte ihm, rückte an ihn heran, ihn stets ihrer Abneigung versichernd. Er trank weiter und spürte auf einmal eine frivole Lust, dieses virile, hübschbeinige, blaustrümpfige Geschöpf zu verführen – ein Spiel auf der Durchreise, eine Gewohnheit des Soldaten, in der Pause des Sterbens.
Martin richtete sich auf energischen Widerstand ein und versuchte, ihn mit wissenden Händen zu umgehen, aber zu seiner Überraschung preßte sich das seltsame Mädchen mit einem solchen Ungestüm an seinen Körper, daß er, statt anzugreifen, einen Moment lang vor ihr zurückwich.
Er begleitete sie nach Hause, und ihm schien, als würde er abgeführt. Bettina nahm ihn mit in ihr Zimmer, das einfach war, aber kleinbürgerlich, und noch im Stehen warf sie sich wieder an seine Schultern.
Er sah über sie hinweg, über ihre glatten, nach Männerart geschnittenen Haare, sah den Riß in der Wand, der wie eine Stirnfalte wirkte und mit dem Wochenspruch der Partei verklebt war: Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.
Nietzsche, dachte er, du gehst zu Frauen – er lächelte höhnisch. Wer nimmt schon eine Peitsche zur Lazarettbescherung mit? Da schlug ihre Sinnlichkeit über ihm zusammen, die ungestüm war, unerfahren, sie krallte sich in seine Arme, drückte ihn an sich, als presse sie ihn weg. Ihre Gier wurde laut, bewegt, heftig, und nebenan klopfte der Zimmernachbar an die Wand. Aber Bettina hörte es nicht.
Sie keuchte, stöhnte, schluchzte, obwohl ihre Lippen geschlossen waren wie ein noch nicht aufgeschnittenes Buch, und während Ritt sie nahm, hatte er die Empfindung, daß ihm Gewalt geschehe, und als er von ihr abließ, ihrer wie des Alkohols müde, ließ sie ihn nicht zur Ruhe kommen: ihr Mund kroch ihm über die Haut wie eine Schnecke. Er wartete ergeben auf den Morgen, er hatte noch nie so ungeduldig dem Fronturlauberzug entgegengesehen, der ihn wieder hinausbrachte.
Er schlüpfte in seine Uniform, wollte gehen, ohne sich umzudrehen, überlegte es sich anders, kam noch einmal zurück und beugte sich zu Bettina hinab, die endlich schlief. Er legte ein angebrochenes Päckchen Zigaretten auf ihren Nachttisch. Schlaftrunken wachte sie auf, und Martin küßte sie flüchtig, mit einigem Mitleid, weil sie doch offensichtlich ein wenig verrückt war, und mit viel Erleichterung darüber, daß er ihr im Leben voraussichtlich nie wieder begegnen würde.
Monate später geriet er in den Kessel von Stalingrad. Bettina teilte ihm in einem Feldpostbrief mit, daß das Spiel auf der Durchreise »nicht ohne Folgen geblieben« sei. Zuerst war der junge Hauptmann nur überrascht, dann verwundert, und zuletzt sagte er sich, daß etwas geschehen müsse. Er schien an der Front sowieso keine Chance mehr zu haben, und der eine Satz des Briefes, der sich sonst nicht weiter mit Gefühlen aufgehalten hatte, rumorte in seinem Bewußtsein: das Kind sollte einen Namen haben.
So entschloß er sich kurz vor der russischen Offensive, diesem Kind den Vornamen seiner Mutter Germaine und den Nachnamen Ritt zu geben. Die Ferntrauung fand einen Tag vor dem Trommelfeuer statt, mit dem die Russen ihren Stoß auf Stalingrad einleiteten. Ritt wurde verwundet und aus dem Kessel geflogen; ein Oberschenkelschuß, der gerade für das Feldlazarett reichte.
Er kam wieder an die Front, das Kind zur Welt. Bettina, die er nie wiedersehen wollte und die trotzdem seine Frau geworden war, teilte ihm mit, daß sie kurz vor dem Referendarexamen stehe und daß sie übrigens das Baby Petra getauft habe, statt ihm den unzeitgemäßen Namen Germaine zu geben.
Mit seiner Verhaftung riß die Verbindung dieser Kriegsehe ab, und so erfuhr Martin erst heute, als Auftakt der Verhandlung, daß Bettina Ritt, geborene Dahlberg, Rechtsreferendarin in Frankfurt, unverzüglich gegen ihn die Scheidung eingereicht und durchgesetzt hatte, wobei im Urteil ihm die Schuld und ihr das Kind zugesprochen wurde.
Er hatte gleichgültig darüber gelächelt.
Bettina mochte er nicht, und Petra kannte er nicht, weshalb sie ihm auch nichts bedeutete; man kann ein Kind nicht lieben, das man nicht kennt, sagte er sich, womit seiner Meinung nach alles geregelt war.
»Vielleicht ist es auch besser«, sagte der Vorsitzende, »Sie halten den Mund – was Sie uns zu sagen hätten, wissen wir ohnedies.« Er lächelte fahrig, »Bitte«, nickte er einem Hauptmann zu, dessen rote Biesen an der Hose auswigsen, daß er zum Generalstab gehörte.
Er war Zeuge und Ankläger in einem und sagte als Fachmann schlicht aus, daß der angeklagte Hauptmann durch seine Befehlsverweigerung, sprich: Feigheit vor dem Feind, den Zusammenbruch eines ganzen Frontabschnittes verschuldet habe, Weder der General noch die Strategie, noch die Bewaffnung, noch der Nachschub hatten versagt, sondern lediglich ein junger Hauptmann namens Ritt.
Kriegsgerichtsrat Dr. Schiele hörte dem Generalstabsoffizier scheinbar aufmerksam zu. Er stützte das Kinn in die linke Hand, mit der rechten kritzelte er auf einem Block Männchen, mechanisch, ohne sich etwas dabei zu denken. Als er sie bewußt betrachtete, sahen sie verzweifelt armen Teufeln ähnlich, wie er sie an die Wand stellen ließ.
»Der Befehl war Ihnen also bekannt?« fragte er.
»Sicher, Herr Kriegsgerichtsrat.«
»Sie wußten, was davon abhing, daß die Stellung gehalten wurde? Sie hatten einen klaren Befehl, die Absetzbewegung zu decken und Ihren Abschnitt bis zum letzten Schuß, bis zum letzten Mann, bis zum letzten – bis zum letzten …«
»Atemzug«, sagte Ritt.
Der Richter in der Wehrmachtsuniform betrachtete den Angeklagten mit seinen großen glänzenden Augen mehr verdrossen als zornig. Er saß breit und groß zwischen den anderen Offizieren. Im Privatleben bevorzugte er Rotwein, bei seinen Urteilen Strenge, was nicht seiner Neigung, sondern den Umständen entsprach. Der Mann, Rechtsanwalt im Zivilleben, war der Meinung, daß es besser sei, als Marionette an einer Schnur zu hängen als seinen Kopf in die Schlinge zu stecken oder gar am Fleischerhaken zu enden, den das System zu dieser Zeit als Hinrichtungsmethode erfunden hatte.
»Sie haben also versagt, Angeklagter?« fragte der Kriegsgerichtsrat. »Es war Ihnen nicht gelungen, Ihre Leute in der Stellung zu halten?«
Er baute diesem sturen Angeklagten eine ärmliche Notbrücke; aber statt sie zu betreten, riß Ritt sie ein.
»Doch, Herr Kriegsgerichtsrat«, sagte er und lächelte fahl.
»Was heißt das?« fragte Dr. Schiele scharf.
»Ich habe meinen Männern ausdrücklich befohlen, die Stellung zu räumen.«
»Entgegen dem Befehl?«
»Jawohl.«
»Können Sie mir erklären, warum?« stieß der Kriegsgerichtsrat zu.
Der angeklagte Hauptmann lächelte melancholisch. Lohnte es sich, auf diese rhetorische Frage eine Antwort zu geben? Hatte es einen Sinn, zu sagen, daß der Ankläger, Zeuge und Sachverständige ein verlogener Idiot war? Hatte er die geringste Chance vor diesem Tribunal? Sollte er also noch, wie man erwartete, Einsicht zeigen, bevor man ihn erschoß? Mußte er noch von dem zügellosen Rückzug sprechen, von den eingekeilten Kolonnen, von flüchtenden Soldaten, die über ihre sterbenden Kameraden hinwegtrampelten, von den zerrissenen Pferdekadavern, den brennenden Verpflegungslagern, den gesprengten Geschützen, von dem Untergang einer Armee mit Mann und Roß und Wagen?
»Nein«, sagte Martin Ritt.
»Sind Sie verrückt?« schrie Dr. Schiele.
Die Frage war platonisch. Der Psychiater fiel wegen Zeitmangels ohnedies aus. Es war auch kein Recht zu sprechen, sondern ein Exempel zu statuieren.
So ließ Ritt den Rest der Verhandlung über sich ergehen. Er hob die Schultern, als regne es. Die Worte, die man wie Pfeile gegen ihn abschoß, den rüden Ton – das alles kannte er längst.
»Sie wissen, was Sie sind?« rief der Vorsitzende.
Ritt betrachtete ihn, es schien, als sähe das Opfer arrogant auf seinen Richter hinab.
»Sie sind ein Defaitist! Ein Lump! Ein Vaterlandsverräter!«
Das Echo schwebte lange im Saal, als hätte sich der Raum längst an Phrasen überfressen.
Der Angeklagte preßte die Lippen fest aufeinander. In den Mundwinkeln sagten nur verächtliche Falten, daß er mit der Tapferkeit, der Ehre und dem Vaterland fertig sei. An diesen Schlagworten waren zu viele verblutet. Zu viele Menschen wurden von ihnen verhetzt, verdammt und verheizt, als daß sie für den Hauptmann noch einen Sinn gehabt hätten.
»Sie sind ein Feigling, Mann!«
Die Falten an den Mundecken des Angeklagten, die einzigen in dem straffen Gesicht, das von sachlichen grauen Augen beherrscht wurde, traten deutlich hervor, zogen Linien zur Nase, als rügten sie die schlechte Luft.
Feigling? Wie damals am Rand des Schwimmbeckens. Geschlossene Klasse, Dreizehnjährige. Und Müller zwo, der dümmliche, dicke Turnlehrer, deutet auf den Fünfmeterturm. Die Mitschüler zittern vor Angst. Aber sie steigen nach oben, einer hinter dem anderen, schneidig auf Befehl. Weil sie keine Courage haben, legen sie die Mutprobe ab. Bis auf einen, den letzten: Martin.
Feigling! So brüllten sie ihn zusammen. Auch die Mitschüler jetzt, die es überstanden haben. Dann gehen sie. Und dann springt er. Freiwillig, ohne Überwindung, ohne Furcht vor dem Tadel, ohne Sucht nach dem Lob, vom Fünfmeterbrett. Nach vorn fallen lassen, Arme ausstrekken, Kopfsprung – nicht wie die anderen, mit den Beinen voran.
»Sie haben das letzte Wort«, sagte der Vorsitzende schroff.
»Ich verzichte.«
»Überlegen Sie sich das noch einmal«, entgegnete Dr. Schiele, »vielleicht könnten wir – in Anbetracht …«
»Ich verzichte trotzdem«, antwortete der Angeklagte und setzte dann noch hinzu: »Ich habe den Krieg satt, der Führer, Großdeutschland – das alles kann mir …«
Weiter kam er nicht.
Zehn Minuten später wurde sein Versagen an der Front wie sein Verhalten vor Gericht entsprechend bestraft: »… ist der frühere Hauptmann Ritt«, verlas Dr. Schiele mit erhobener Stimme, »wegen Feigheit vor dem Feind, wegen Befehlsverweigerung und Wehrkraftzersetzung zum Tode durch Erschießen zu verurteilen …«
Der Angeklagte stand ruhig, sein Gesicht schien offen eine Zustimmung zu dem Urteil zu zeigen.
»… und aus der Wehrmacht auszustoßen …«
Das ist das Schlimmste, dachte er sarkastisch und machte sich wieder einmal zum Sterben fertig.