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II
ОглавлениеDer Tag war schön und kalt, der Winter reckte sein weißes Haupt über schwelende Trümmer. In der flimmernden Luft tänzelten Schneekristalle in giftbunten Farben. Ein Hoch reichte vom Ural bis zum Atlantik. Sein Zentrum stand am 6. Januar 1944 über Deutschland, und das bedeutete Flugwetter, Bomben, Keller, Tod.
Die Zivilbevölkerung würde Verluste haben.
Die Fliegenden Festungen kamen in drei, vier Wellen. Die Sirenen heulten erst, als schon die Bomben fielen. Rauchsäulen stiegen steil gegen den Himmel. Geborstene Mauern brannten aus. Viele Menschen unter den Trümmern lebten noch.
Die erste Welle hatte ihr Ziel getroffen, die zweite war im Anflug.
Die Menschen in Frankfurt hofften, daß die nächste Ladung die Menschen in Köln treffen würde. Die Menschen in Köln waren erleichtert, als sie hörten, daß die neuen Pulks nach Südosten abdrehten. Die Menschen in den glitzernden Flugzeugrümpfen hofften, daß sie den Feindflug überleben und zu ihren Frauen und Kindern zurückkommen würden; sie dachten nicht daran, daß ihre Luftminen Frauen und Kinder erschlugen.
Die Ritt-Werke am Stadtrand von Frankfurt, vormals Lessing & Kahn, wurden nicht getroffen. Eine viermotorige Maschine brannte, von der Flak angeschossen, in der Luft. Zwei amerikanische Piloten retteten sich mit dem Fallschirm. Sie landeten auf dem Außengelände der Firma, bevor es ihre Maschine in der Luft zerriß.
Die beiden US-Soldaten waren Neger, aber ihre Gesichter wirkten nicht schwarz, sondern grau; sie hielten die Hände hoch über dem Kopf, wie bittend, als sich einige Betriebsfunktionäre daranmachten, sie zu lynchen; die Soldaten schrien gellend um Hilfe. Aus den dunklen Gesichtern leuchteten die verdrehten weißen Augäpfel.
Der Kleinere hatte es leichter; bevor er noch begriff, was mit ihm geschehen sollte, wurde er niedergeschossen. Der andere Amerikaner sah es und riß sich los.
Er kam nicht weit. Uniformierte hielten ihn auf. Ein paar schlugen auf ihn ein, Weiber kreischten hysterisch. Ein Mann vom Werkschutz schlug ihm mit dem Kolben in die Seite.
Dann waren die anderen heran.
Der Soldat hob die Hände, seine Lippen zitterten stumm. Dann rief er flehend: »Don’t do that!« Er sprach, als betete er.
»Schlag das schwarze Schwein tot!« brüllte eine Hilfsarbeiterin.
Sie fielen mit Knüppeln, Gewehrkolben und bloßen Fäusten über ihn her; als sie sahen, daß ihm das Blut über das Gesicht lief, zertrampelten sie im Blutrausch seinen Kopf.
Einige waren betroffen, andere verlegen, als sich der Amerikaner nicht mehr rührte.
Wehrwirtschaftsführer Friedrich Wilhelm Ritt hatte vom Hauptgebäude aus den Zwischenfall verfolgt. Er fuhr mit dem Wagen zu seinem Außenlager – er kam zu spät. Die Gesichter der abgesprungenen Feindflieger waren nicht mehr grau, sondern rot, soweit noch etwas zu erkennen war.
Er spürte, wie sich sein Magen umdrehte. Es graute ihm vor dem Verbrechen, das sie verübt hatten, aber er sagte:
»Geschieht diesen Schweinen ganz recht. Was führen sie Krieg gegen Frauen und Kinder.«
Friedrich Wilhelm Ritt lief zurück zu seinem Hauptgebäude, leicht vornübergebeugt. Sein Gesicht war gedunsen, schlaff. Die faltige Haut war ihm zu weit geworden, sie machte die Mensurschmisse zu schmalen roten Strichen. Der Wehrwirtschaftsführer sah ungut aus, kränklich.
Die Sirenen heulten Entwarnung.
Ritt ging in sein Büro. Er sah lauter Neger mit roten Gesichtern. Indianer, dachte er, Scheißbande. Immer mehr. Aber am Marterpfahl stand er. Delirium tremens, hämmerte es in seinen Schläfen, doch dann kam die Angst wieder, diese quälerische Frage, was nach dem Zusammenbruch geschehen würde.
Er hätte das Bild der gelynchten Flieger gern in Schnaps ertränkt, aber er mußte auf einen Hoheitsträger von der Gauleitung warten, der sich angesagt hatte, und so blieb der Reichstagsabgeordnete heute länger nüchtern als sonst.
Der Raum war überheizt, doch Friedrich Wilhelm Ritt fror. Sein Blick war stumpf wie ein Wetzstein, nichts an ihm wirkte mehr markant. Jetzt, im Januar 1944, hätte er gern seinen Führer, durch den er beides geworden war: ein Millionär und ein Mörder, aufgegeben. Aber es war zu spät, er hatte sich zu stark exponiert und hatte zuviel zusammengerafft; deshalb suchte er längst nicht mehr den Luftschutzkeller auf.
Ritt war Reserveoffizier des Ersten Weltkrieges gewesen, hatte einem Freikorps angehört, wurde nach dessen Auflösung Korpsstudent, Jurist, Syndikus und Arbeitsloser. Nach der Inflation liehen ihm Verwandte Geld. Er kaufte sich in eine Möbelfabrik ein, die zwei Jahre später in Konkurs ging; den Antrag hatte der alte Lessing gestellt, ein jüdischer Mitbürger, und seitdem war Friedrich Wilhelm Ritt ein wilder Antisemit. Er landete folgerichtig bei der braunen Bewegung und blieb ein Nichts im bürgerlichen Leben, bis sein Führer an die Macht kam.
Er arisierte Betriebe, die später Granaten produzierten, wurde ein wichtiger Mann der Rüstung, für die ein Heer von Ausländern arbeiten mußte. Schufteten die Verschleppten nicht willig, genügte ein Wink des alten Ritt, sie ins KZ zu bringen.
Er war für viele dieser Einweisungen verantwortlich, aber es belastete ihn nicht; das war anonym geschehen, mündlich, ohne schriftliche Unterlage, ohne jeden Beweis. Der Wehrwirtschaftsführer hatte dabei höchstens telefoniert.
Der Tag ging langsam zu Ende. Der Mann von der Gauleitung verspätete sich. Ritt war es gleich, was er von ihm wollte.
Martins Vater saß am offenen Kamin. Er hatte sich in eine Decke gehüllt. Der Kognak war gut chambriert, aber er hielt den Schwenker, als müsse er das Glas anwärmen. Er starrte in das Feuer, dessen Widerschein blutig auf seinem Gesicht flackerte und die Falten beweglich machte, die Augen noch tiefer in die Höhlen senkte, die dünnen Lippen noch starrer formte.
Er beugte sich nach vorn, starrte in die Flammen des Kamins, die nach oben leckten wie in der Kristallnacht. Und wieder erlebte er den Spuk, brüllte er in der SA-Versammlung.
Die Instinkte, die sie einst zur Bewegung gebracht hatten, dürfen sich austoben: die Lust, in Massen zu heulen, die Wonne, in Horden zu prügeln, die Gier, in Haufen zu plündern.
Wieder steht Ritt vor der Synagoge, rüttelt am Tor, schaut zu, wie seine Kameraden das massive Eisengitter aufsprengen, in das Haus drängen, die silbernen Leuchter beiseite stoßen, die Bundeslade umwerfen – und wieder steht ein Mann vor ihnen, einsam, allein, würdig: Kommerzienrat Lessing, Wohltäter und Ehrenbürger der Stadt, der den Brandstiftern entgegentritt, die vor dem weißhaarigen, gebeugten Mann zurückweichen.
Wieder sieht er den Juden, den Hauptgläubiger, den Mann, der ihn zum Konkurs zwang – und wieder erlebt er, wie er die Hand hebt, Lessing niederschlägt, die anderen heranholt, die den Röchelnden zerschlagen, zertreten, zerfetzen.
Fast gewaltsam stand der alte Ritt auf und lief mit schweren, unruhigen Schritten durch den Raum. Er wandte seinen Blick vom Kamin ab, von den Flammen weg, aber es half nichts – das Blut rinnt, die Synagoge brennt, die Flasche kreist, die Horde brüllt, der Jude stirbt.
Ritt warf die Flasche in das Feuer. Das Glas zersprang, die Flüssigkeit zischte, der Alkohol nährte die Flamme. Alles Unfug, überlegte er, keiner denkt mehr daran, niemand spricht mehr davon, nur: Was ist aus Lessings Sohn geworden, Martins Mitschüler, der nach Amerika vorausflog, um für seinen Vater Quartier zu machen? Der Alte brauchte es nicht mehr – sein Quartier lag seit der Kristallnacht unter der Erde.
Wäre diese bohrende, würgende Angst nicht, hätte Friedrich Wilhelm Ritt seine Weltanschauung weggeworfen wie zerrissene Socken. So aber konnte er nicht. Er war verdammt, bei der Hakenkreuzfahne zu bleiben, deren Ende sein Ende sein mußte; und so haßte er alle, die nicht ihr Leben einsetzten, um dieses Ende hinauszuschieben, so hoffte er wider besseres Wissen auf Wunderwaffen, obwohl er aus seinem eigenen Betrieb wußte, wie es wirklich aussah.
Ritt hatte alles falsch gemacht, seitdem seine erste Frau Germaine von ihm gegangen war. Die zweite Ehe: ein zweiter Fehlschlag. Denn die Jahre des Kampfes, der Sieg, der Aufstieg – ein Leben, wie er es sich gewünscht hatte und dessen Rechnung er doch nicht bezahlen wollte.
Martin, seinen einzigen Sohn, hatte er in ein Internat gesteckt und fast nie gesehen. Er wußte, daß der Junge ihn nicht mochte; und im Laufe der Jahre wurde ihm Martin auch innerlich so fremd, wie er äußerlich von ihm verschieden war.
Als der Junge sich an der Front auszeichnete, hätte er ihn gern bei seinen Parteifreunden herumgereicht, aber Martin wollte nicht. Jetzt gestand sich Friedrich Wilhelm Ritt ein, daß er von seinem Sohn seit fast zwei Jahren nichts mehr gehört hatte. Der Junge mied ihn; es war dem Alten eine Zeitlang ganz recht gewesen, wenn es sich auch nicht gehörte und teilnehmende Fragen nach Martin oft recht peinlich wurden.
Endlich kam der Mann von der Gauleitung; es war Silbermann, Leiter der Rechtsabteilung, der unter seinem Namen litt, obwohl er Reinarier war. Er hatte eine seltsame Kopfform, oben dick, unten dünn; sein Schädel sah aus wie eine umgedrehte Birne an einem viel zu dünnen Stiel.
»Ich soll dich vom Gauleiter herzlich grüßen«, sagte der Hoheitsträger schon von weitem.
»Danke«, erwiderte Ritt, »was gibt’s Neues?«
»Nichts Besonderes.«
»Warum kommst du? – Kognak, Wein, Sekt, Zigarre?«
»Nicht soviel auf einmal.« Silbermann lachte gezwungen. »Aber wenn du vielleicht etwas zu essen hättest …« Er trug die senffarbene Uniform, aber er trug sie nicht mehr so stolz, jedenfalls lieber nachts als am Tage, denn er deutete die Blicke vieler Passanten richtig. Auch er konnte wegen der verdammten Judentransporte nicht abspringen, die er zur Frontbewährung beim Sicherheitsdienst geleitet hatte, woran er sich jetzt ungern erinnerte.
Sie setzten sich an den Kamin, tranken.
»Also, was ist los?« fragte Ritt. Er spürte, daß Silbermann mit schlechter Nachricht kam.
»Es handelt sich um deinen Sohn.«
»Martin?«
»Ja.«
»… gefallen?«
»Nein.«
»Verwundet?«
»Kerngesund – und doch fast tot –, falls wir nichts unternehmen, Kamerad Ritt«, setzte Silbermann hastig hinzu. »Ich soll dir persönlich vom Gauleiter ausrichten, daß er Verständnis für dich hat – und überhaupt nichts an dir hängenbleibt.«
»Was heißt das?« fragte der alte Ritt barsch.
Er starrte in den Kamin, hob mit mechanischer Geste das Glas an den Mund, trank den Rest auf einmal aus, spürte den Schnaps an der Magenwand, Gastritis, dachte er, harmlos, nicht so schlimm wie die Leber …
»Schön ist es nicht …«, begann Silbermann umständlich.
»Nun sprich endlich!« fuhr ihn Ritt an.
»Dein Sohn hat wohl die Nerven verloren – und entgegen dem Befehl eine Stellung geräumt …«
Zuerst begriff ihn der Wehrwirtschaftsführer nicht, dann erfaßte er langsam, was ihm Martin angetan hatte, ihm persönlich und dem Reich.
»Ein idiotischer General besteht auf einer Kriegsgerichtsverhandlung, die in den nächsten Tagen stattfindet, wenn wir nichts unternehmen. Nun läßt dich der Gauleiter fragen – ob du …«
Silbermann schwieg, betrachtete den alten Ritt, der geduckt am Kamin kauerte und in das Feuer starrte. Wieder will er nichts selbst tun, dachte der Hoheitsträger, wieder soll ich für ihn in das Feuer greifen, wie damals, als ich die Juden für ihn laufenließ, die Kahns, Mitbesitzer der von ihm arisierten Firma … Und warum? Warum wohl? Weil er ihre Verwandten erpreßte – und Devisen, keine Reichsmark, in die Schweiz verschob – wer weiß wieviel? Aber mich hast du nicht hereingelegt, ich kenne deinen Verbindungsmann Panetzky – und eines Tages, sei es nach dem Sieg oder dem Zusammenbruch, werden wir noch einmal davon sprechen, Pg. Ritt!
»Was soll ich eigentlich bei der Sache?« fragte der alte Ritt.
»Wenn du willst«, antwortete Silbermann, »bringt der Gauleiter die Geschichte in Ordnung.«
Auch Martin hat mich also verraten, dachte der alte Ritt. Auch er will nicht für den Vater eintreten. Er spürte Haß, den die Angst nährte und der so stark wucherte, daß er jede andere Empfindung auslöschte.
»Du bist also einverstanden?«
»Womit?«
»Mit einer Intervention beim Kriegsgericht …«
»Warum?«
»Dir zuliebe …«
»Weshalb?«
»Es ist dein Sohn«, antwortete Silbermann.
»Und wenn schon …«
»Wir können ihn retten.«
»Einen Lumpen?« fragte der alte Ritt. »Einen Verräter …«
»Es ehrt dich, Kamerad Ritt«, sagte der Hoheitsträger, den die Härte dem eigenen Sohn gegenüber abstieß, wie er überhaupt für elegantere Lösungen war, als sie der totale Krieg in letzter Zeit mit sich brachte. »Du hast genug für die Bewegung getan – wenn wir mehr solche Gefolgsleute hätten wie dich –, aber du sollst nicht auch noch deinen Sohn …«
»Nein!« bellte Ritt. Über sein eingefallenes morsches Gesicht geisterten wieder Schein und Schatten.
»Er ist dein Einziger«, sagte Silbermann leise.
»Wer den Tod in Ehren fürchtet …«, brüllte Ritt.
Dem Mann mit dem Birnenkopf wurde der alte Ritt unheimlich. Ein Verrückter, dachte er, einer, der die Zeichen der Zeit nicht begreift und vor Torschluß auch noch den eigenen Sohn vor die Hunde gehen läßt. Es war seine Idee gewesen, den jungen Ritt zu retten, die nun zu seiner Blamage beim Gauleiter werden würde. Er raffte seine Akten zusammen, griff nach dem Mantel, hielt ihn mit gestreckten Armen wie einen Schild vor sich.
»Heil Hitler!« sagte er halblaut, aber das übliche Echo blieb aus.