Читать книгу Die wilden Jahre - Will Berthold - Страница 6

I

Оглавление

Sie hatten geflucht und gestürmt, getrunken und geträumt, gebetet und getötet, gesungen und gehurt, gehalten und geräumt, und die meisten Soldaten des Bataillons Ritt waren gefallen, bevor sie wußten, wie man ein Mädchen nimmt und eine Frau hält.

Die Überlebenden hatten Blasen an den Füßen, Schwielen an den Händen, Läuse auf der Haut und Leere im Hirn. Sie erwarteten vom Leben noch ein Stück Brot, eine Gefechtspause, eine Zigarettenkippe, einen Etappenpuff; die Heimat war selbst für ihre Phantasie zu fern geworden.

Der Alte, wie Martin Ritt, der Kommandeur, genannt wurde, war erst achtundzwanzig, hart, kühl und beliebt, eine Wand, von der alles abprallte. Er wirkte nie schmutzig, und er schien nie müde zu sein. Die Kälte machte ihn nicht frieren, die Hitze nicht schwitzen, und selbst der Mangel ließ ihn nicht hungern – und so dachten die Männer des Bataillons: wenn es schon nötig ist, gegen Ende dieses verdammten Krieges noch verheizt zu werden, dann immer noch besser unter Ritt als einem anderen Scheißoffizier.

Die Einheit hielt eine vorgeschobene Stellung im Donezbecken bei Stalino; sie hatte noch die Stärke einer Kompanie, deren Männer Wracks und deren Uniformen Lumpen waren, und sollte den Rückzug zweier Divisionen decken, wie es im Befehl hieß: bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone.

Die Männer richteten sich zur Verteidigung ein; sie waren bereits tot, nur wußten sie es nicht. Hauptmann Ritt kauerte in einem Loch; er sah ihnen zu. Nach der Übung der Zeit mußte er seine Leute Kameraden nennen; diese Bezeichnung war falsch, denn viele Soldaten waren mehr für ihn, manche weniger.

Er war froh um jeden, den er dem Heldentod abhandeln konnte, und es wurde sein Schicksal, der glänzende Vertreter eines Handwerks zu sein, das er haßte.

Viele deutsche Offiziere waren jetzt, Ende 1943, soweit, aber Ritt unterschied sich von den meisten, weil er schon ohne Begeisterung in den Krieg gezogen war. Er leistete keinen Widerstand gegen den Wahnwitz der Zeit, er verachtete ihn bloß, und zwar zunächst aus persönlichem Grund: das braune System war ihm so zuwider wie sein Vater, dessen Gefolgsmann.

Schon dem jungen Martin war der alte, stets polternde Mann fremd geworden, der ihm dann später noch die Mutter nahm; sie konnte für den Heranwachsenden nicht viel mehr sein als die hübsche flockige Wolke der Erinnerung an eine schmale sensible Frau, die ihn an sich gezogen und mon petit filou genannt hatte.

Als Martin befehlsmäßig auf die Landsleute seiner Mutter Germaine, einer Französin, zu schießen hatte, war die Ehe seiner Eltern durch Schuld des Vaters längst geschieden, und die Mutter, an der der Junge in einer romantischen, unwirklichen Weise hing, bestand für ihn nur aus der Ahnung einiger sonniger Ferientage in Südfrankreich, die er auch nicht vergessen konnte, als ihn der Drill für den Krieg schliff.

Er hatte die Kriegsschule durchlaufen, war an die Front gekommen, Offizier geworden. Er erwies sich als ein guter Soldat, nicht, weil er kräftiger und mutiger war als viele andere, sondern weil er seinen Vater nicht mochte und keine Mutter hatte.

Es war der 7. September 1943, sieben Monate nach Stalingrad. Die Einheit Ritt hatte vordere Kampfstellung bezogen. Um zehn Uhr morgens hing der russische Himmel über den Männern wie ein Stück Blei, das sie gleich zerschmettern mußte.

Die linke Nachbareinheit hatte führerlos die Stellung verlassen, um der russischen Übermacht zu entlaufen, die Stunden später über sie hinweggewalzt wäre. Damit war die Fühlung nach Norden abgerissen und das Bataillon ohne Flankenschutz.

Die Männer wurden unruhig, sahen ihren Kommandeur fragend an, aber sie folgten ihm immer wieder stumm. Keiner würde ohne Ritt nach hinten gehen. Der junge Offizier verwünschte seine Soldaten, weil sie nicht ebenso handelten wie die Männer der Nachbareinheit und einfach davonliefen.

Der Wind riß die Wolken auseinander. Durch einen schmalen Schlitz schien matte Sonne, einer frischen Wunde ähnlich, die noch blutete; in diesem Monat war sie am russischen Himmel so selten wie die deutschen Flugzeuge.

Die Kompanieführer meldeten, daß die Stellung ausgebaut sei; der Hauptmann betrachtete angewidert das Grabensystem. Er ließ die Schultern durchhängen und winkte verdrossen ab: Weder hatte er den Krieg erfunden, noch konnte er ihn ändern. Ein paar Leichtverwundete schickte er nach hinten; sie schlichen davon wie Deserteure.

Gegen Mittag braute sich nordostwärts das Ende des aufgeriebenen Bataillons zusammen. Russische Panzer waren zu hören, die ihnen folgenden Infanteristen schon mit bloßem Auge zu sehen. Dann sikkerten Meldungen durch, daß die Russen auch im Westabschnitt die deutschen Linien überrollt hatten.

»Gleich gibt’s Kattun«, sagte Hauptmann Ritt, als gleichzeitig links und rechts der Kampflärm anschwoll. »Wer will, kann beten, rauchen oder austreten.« Er lachte dem Küken seiner Einheit, dem achtzehnjährigen Richtkanonier Traube, zu.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte er.

»Prima, Herr Hauptmann«, antwortete Traube und schluckte.

Der Hauptmann spuckte aus und fragte, auf die russische Beute-Pak weisend: »Wie viele Granaten haben wir noch, Traube?«

»Vierundzwanzig«, meldete der Achtzehnjährige beflissen.

Vierundzwanzig Schuß und zweihundert T 34, rechnete Ritt rasch, vielleicht bloß hundert oder bloß achtzig.

Schon fünfzehn oder zwanzig der im Norden immer lauter rumorenden Stahlkästen würden genügen, um hundertachtundzwanzig vergessene Soldaten jetzt in den Tod zu stampfen.

Endlich kamen die Russen.

Hauptmann Ritt lag in seinem Loch und sah ihnen entgegen. Sie kamen mit Panzern, und das machte das Ende leichter, weil schneller. Langsam krochen sie näher, schwarze Schatten zunächst, dann unförmige Käfer. Vier, sieben, zwölf, siebzehn – so viele, daß Ritt es aufgab, sie zu zählen.

Er sah nach der Beute-Pak und nickte.

Die Männer gehorchten wie Roboter, richteten ihr Geschütz auf den vordersten T 34 ein; ihre Hände blieben ruhig, ihre Bewegungen sicher. Ihre Gesichter waren wie von Haß verzerrt; Haß nicht so sehr auf den Feind, der jetzt ihr Leben zertrat, bevor es noch recht begonnen hatte, Haß auf die Zeit, der man dieses zerschundene, beschissene Dasein verdankte.

Aber sie hatten keine Zeit mehr für ihren Haß.

»Entfernung neunhundert Meter!« schrie der Beobachter am E-Messer. »Achthundertfünfzig«, verbesserte er sich gleich.

Das Gedröhn schwoll an, die Erde zitterte. Der Motorenlärm zersägte die Nerven. Der Gefreite Traube spürte, wie sein Mund trokken wurde, wie die Zähne wackelten; in seiner Zielrichtung tänzelten Lichteffekte, weil die müde Sonne wieder durch die Wolken sah. Wer sich nicht hinter die Pak zu drücken brauchte, lag im Graben und sehnte sich danach, so tief wie möglich unter die Erde zu kriechen.

»Siebenhundert Meter«, kam der neue Meßwert durch.

Sie rollten in breiter Formation. Hinter den T 34 sah man die Stahlhelme der sowjetischen Infanteristen wie Schildkröten, die langsam näher krochen.

Hauptmann Ritt ließ sie bis auf vierhundert Meter herankommen. Aus, dachte er, Feierabend. Die Besatzungen in den T 34 mußten seine Stellung längst erkannt haben, und er wunderte sich, daß die Russen sie nicht beschossen. Es würde ein paar von ihnen noch das Leben kosten, stellte er bedauernd fest; er war, als perfekter Soldat, grundsätzlich dafür, Blut zu sparen.

»Feuer frei!« rief er und sah auf die schmalen Lippen des Richtkanoniers, der verbissen nickte.

Ritt duckte sich in sein Panzerdeckungsloch, er hatte das Glas an den Augen, eine entsicherte MP in der Hand und eine sicher nutzlose Haftladung neben sich.

Drei Sekunden später fauchte die erste Granate aus dem Rohr.

Treffer, stellte Ritt fest.

Der Turm des vorderen Panzers flog hoch wie ein Zylinder im Windstoß. Die Lafette stellte sich noch einmal auf die Hinterräder, dann platzte sie wie eine Konservenbüchse.

Richtkanonier Traube wechselte das Ziel.

Er schoß einen zweiten und dritten Panzer ab, zielte auf den vierten, schoß und traf. Doch der T 34 rollte stur weiter, genau auf die Pak zu, wie ein Gespenst; Gespenster kann man nicht töten.

Blindgänger, dachte Ritt …

Die Russen feuerten zurück, verwandelten die Erde in eine zuckende, feurige Hölle. Jetzt war es auch zum Rückzug zu spät. Hauptmann Ritt, der Achtundzwanzigjährige, prägte sich jede Einzelheit seines schwindelnden Lebens ein, als sei das noch wichtig.

Plötzlich schossen die Russen nicht mehr. Die Männer der Pak, die Schuß auf Schuß und Blindgänger auf Blindgänger hinausgejagt hatten, merkten, daß der Feind das Feuer nicht mehr erwiderte; er war so nahe herangerollt, daß man schon Gesichter unter den Schildkrötenhelmen erkennen konnte.

Unvermittelt drehten die meisten Panzer nach links ab; sie hatten jetzt erfaßt, daß die Stellung im Nachbarabschnitt geräumt war und daß sie hier ohne Widerstand die Hauptkampflinie passieren konnten. Vielleicht waren auch sie perfekte Soldaten, die Blut sparten, oder sie fürchteten, daß diese lächerliche einsame Pak nicht lauter Blindgänger hatte. Zwei T 34 rollten genau auf die Pak zu, die etwas links von dem Graben stand, in dem der Rest des Bataillons auf den Heldentod wartete.

Einen T 34 konnte der achtzehnjährige Richtkanonier noch erledigen, dann zog er nur noch Nieten. Er schrie, fluchte, schoß und zitterte, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Er starrte in den Schlund der Kanonen, die gleich aufblitzen mußten, zielte und wußte, daß es nicht helfen würde.

Fünfzig Meter noch.

Keine Deckung mehr. Flucht sinnlos.

Das Ungetüm drehte auf einer Kette. Der russische Fahrer schaltete herunter. Der Motor heulte im ersten Gang schrill auf. Der Stahlkasten verschmähte es, die Gegner an der Pak abzuschießen.

Er wollte sie in den Boden walzen.

Die Männer lagen wie gelähmt im toten Winkel, und aus dieser Entfernung jagte Traube die siebzehnte und letzte Granate aus dem Lauf, aus solcher Nähe, daß ihm die surrenden Splitter um den Kopf flogen.

Acht Meter.

Der Richtkanonier hörte, wie der Fahrer Vollgas gab.

Er sah die Ketten, nichts als Ketten, und die widerliche Bordkanone; er erfaßte, daß er seine Mutter nicht mehr wiedersehen würde. Er schrie wie die Russen in den brennenden Panzern, wenn sie zu schwarzen Klumpen geschmort wurden, und er hörte seine eigenen Knochen knacken, sah sein eigenes Blut in den Dreck rinnen, spürte, wie sein Herz stehenblieb, starrte die Infanteristen hinter dem T 34 noch an, sah Raupen, die sich weiterdrehten, ein Fließband der Vernichtung, das zwei, drei Sekunden später sein Leben zermalmen würde.

So sah ihn Ritt, der seitlich der Pak lag und schon mit allem Schluß gemacht hatte, sah den Panzer, sah, was in Sekunden geschehen würde, sah diese jungen Burschen zerstampft, sah ihre Körper von Gliedketten des T 34 erfaßt, hatte die Haftladung in der Hand, sprang aus dem Graben, hetzte mit zwei, drei Schritten an den Panzer heran, warf ihm den Tod auf die Stahlplatten und wunderte sich, daß er noch immer lebte.

Jetzt wurde er vom Panzer aus beschossen, kam bis fünf Meter an sein Deckungsloch, hörte, wie die Haftladung explodierte, wie der Stahlkasten zerplatzte, und fiel, sich überschlagend, in den Graben, wie ein Betrunkener, den der Wirt mit einem Tritt vor die Tür setzt.

Plötzlich war es still.

Die Luft stank nach Pulver, nach Eisen, nach Schwefel, nach Blut, und trotzdem herrschte Ruhe wie auf einem Friedhof.

Es war das letzte Wunder des jungen Hauptmanns Ritt, daß bis auf vier Gefallene und drei Verwundete das Bataillon noch einmal davonkam; für die Stunde, für den Tag. Die Russen hatten es nicht nötig, diese letzte, stumpfe Igelstellung aufzurollen.

Ein Kompanieführer wollte melden, Ritt winkte ab und befahl, die formlose Beerdigung der vier Toten »mit Beeilung« vorzunehmen.

»Stilles Vaterunser«, sagte er, setzte sich auf den Grabenrand und rauchte eine Zigarette. Er hatte nie eine Ansprache gehalten. Worte wie Durchhalten, Heldentod, Endsieg waren ihm fremd, und wenn sie einer benutzte, griff er nach seiner Zigarette und kniff die Lippen zu dieser seltsamen Ritt-Grimasse, die zu sagen schien: Was geht’s mich an?

Er sah zu, wie sie die Toten eingruben – 124 Lebende auf Abruf. Ritt hatte das alles satt, das Graben, Schießen, Befehlen, Sterben, die genormten Beileidsbriefe, die Latrinenparolen, die Fußlappen und den Kunsthonig. Er hatte es satt, sich für eine Stunde Leben weiterhin wie ein Wurm in die Erde zu verkriechen; er haßte den Rückzug, den Vormarsch, den Landsermief, diesen Stallgeruch der Kameradschaft. Er hatte es satt, von seinen Männern angestarrt zu werden wie ein Ausnahmemensch, der Wunder wirkt, obwohl er nur den Tod zu bieten wie zu erwarten hatte. Ihre Augen hatte er satt, mit denen sie zu ihm aufsahen, Kälber zu einem Lohnschlächter des Krieges, und er sagte sich in diesen Minuten – da nur das Knirschen der Spaten zu hören war, die wiederum ein Grab für vier Gefallene aushoben –, daß er auch den Tod in der Masse satt hatte: Wenn es nötig sei, dann wollte er wenigstens seinen eigenen haben.

Während diese Gedanken Ritt in einen kalten, lodernden Zorn hetzten, errechnete er – mit der Genauigkeit des perfekten Soldaten –, daß er vielleicht dieses Mal noch 124 Männer retten könnte, wenn er sein eigenes Leben dagegen setzte.

Er war nicht erpicht auf den Tod, obwohl ihn das Ende mitunter wie eine Erlösung gelockt hatte. Er ging die vielen Gelegenheiten durch, bei denen er sein Leben für sinnlose Taten weggeworfen hatte. Warum, so fragte er sich aufgebracht, soll ich mich nicht noch einmal als Zielscheibe stellen, jetzt, da es doch wenigstens einen Sinn hat?

»Fertig?« fragte er mechanisch, während er sich flüchtig eingestand, daß er von Stalingrad bis zu dieser Stellung wohl nur gelebt hatte, um sich für das Kriegsgericht aufzusparen.

»Wir rücken ab!« beendete Ritt das formlose Begräbnis und warf dabei die Zigarette im gleichen Bogen weg wie seine Zukunft.

»Aber – aber, Herr Hauptmann«, stotterte ein junger Leutnant hilflos, voller Angst, den Befehl mißverstanden zu haben.

»Schon gut«, sagte Ritt. »Ich weiß, was ich tue – und wir wollen nicht dramatisch werden.«

Er handelte letztlich aus dem gleichen unsinnigen Motiv – Anstand, Kälte und Gleichgültigkeit –, aus dem er vor einem Jahr eine Frau geheiratet hatte, die er nicht liebte; sie hatte vor einigen Monaten sein Kind geboren, das er nicht kannte.

Das Rest-Bataillon vermied die Rollbahnen und Rückzugsstraßen. Querfeldein schafften die Männer am ersten Tag vierundzwanzig Kilometer und am nächsten neun. Ohne Feindberührung fluteten sie zufällig in die rechte Richtung.

Am dritten Tag hängten sie sich an eine Lkw-Kolonne, die als letzte aus der russischen Umklammerung rollte.

Am fünften Tag meldete sich der Hauptmann bei einer Auffangstelle. Er wurde von seinen Offizierskameraden herzlich begrüßt und in eine alte Scheune geleitet, die sich Kasino nannte. Man gab ihm Wodka und stellte Fragen.

Ritt trank und schwieg.

Stunden später kamen die Kettenhunde; Feldgendarmen mit hölzernen Gesichtern und blechernen Helmen, Offiziersstreife, geführt von einem Hauptmann. Als Ritt sie sah, goß er sich rasch noch einen Wodka ein, denn er wußte, daß sie ihn holen würden.

Gegen den verhafteten Offizier wurde Tatbericht eingereicht.

Die rasch angesetzte Verhandlung des Kriegsgerichts verschoben allerdings die Russen; dreimal wechselte Ritt das Gefängnis, dann schafften man ihn sicherheitshalber gleich bis Warschau zurück, wo man für seinen Tod Vorbereitungen traf wie für eine Hochzeit: Er wurde entlaust, durfte baden, erhielt ein frisches Hemd und eine saubere Uniform.

Der Unteroffizier vom Dienst sammelte seine Tapferkeitsauszeichnungen ein wie ein Gerichtsvollzieher die Schulden; Ritt warf ihm das EK I und jenen Orden, der wie ein Spiegelei aussah, sowie das Verwundetenabzeichen in Silber zu wie Fallobst, sich von seinen Ehrenzeichen genauso lustlos trennend, wie er sie empfangen hatte: Blech.

Die wilden Jahre

Подняться наверх